Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 - Agnes M. Holdborg - Страница 8
ОглавлениеErstens kommt es anders und zweitens als man denkt
»Nein, Marius, habe ich nicht!«, raunzte Lena in ihr Handy. Sie schritt im Zimmer auf und ab, rieb sich entnervt die Stirn und blies die Wangen auf. »Pass auf, hör mir bitte ein letztes Mal zu!« Sie holte tief Luft. »Ich. Will. Dich. Nicht. Mehr. Sehen! Nie mehr! Es ist aus, verdammt noch mal! Verstehst du? Aus, aus, aus! Such dir ein anderes Opfer, das du nerven und herumkommandieren kannst!«
Sie stoppte den Redeschwall, der unaufhörlich aus ihrem Handy trötete, indem sie das Gespräch einfach wegdrückte und das Telefon dann aufs Bett warf.
»Gott, der Typ ist echt hartnäckig!«, rief sie wild mit den Armen fuchtelnd aus. »Und so einen Idioten hab ich mal süß gefunden. War ich da eigentlich blind, oder was?«
Anna hatte ihrer Schwester stillschweigend zugehört. »Ich fand den nie so prickelnd«, gab sie vorsichtig zu. »Er sieht zwar ziemlich schnuckelig aus, ist allerdings eher ein Kotzbrocken, denke ich. Jens hat wirklich recht. Du kannst froh sein, dass du ihn abserviert hast.«
»Sag das mal Marius. He, der bildet sich nämlich ein, wir wären noch zusammen und er würde mich noch lieben. So ein gottverdammter Schwachsinn! Er will sich andauernd mit mir treffen.« Lena sah ihre Schwester kummervoll an. »Was, wenn er hier auftaucht, Anna? Allmählich krieg ich es mit der Angst zu tun. Der ist so ätzend. Andauernd bombardiert der mich mit Telefonaten, SMS-en und E-Mails, schon seit geschlagenen zwei Wochen.«
»Reagier doch einfach nicht mehr drauf. Anscheinend kapiert der es ja nicht. Also sprich erst gar nicht mit dem. Irgendwann wird er sich schon wieder einkriegen und dich in Ruhe lassen.«
»Du hast leicht reden. Du siehst ja nicht immerzu seinen Namen auf dem Display.« Lena überlegte. »Vielleicht sollte ich mir einfach eine andere Handynummer geben lassen. Eine neue E-Mail-Adresse könnte auch nicht schaden. Dann würde wenigstens …«, sie wurde laut, als das Handy schon wieder anfing zu trällern, »… dieser scheiß Telefon- und Post-Terror aufhören! Verflixt und zugenäht!«
Sie nahm das Handy und drückte den Anruf weg, bevor sie das Ding ganz ausschaltete. »Ich schwöre dir, Anna, vorerst hab ich die Schnauze von Männern gestrichen voll. Mir reicht’s! Endgültig! Ein für alle Mal!«
Sie seufzte schwer, ließ sich aufs Bett fallen und schaute zu ihrer Schwester. »Was machst du heute eigentlich?«
»Ich?«, wunderte sich Anna über Lenas abrupten Themenwechsel. »Na, was soll ich schon machen? Zu Viktor gehen natürlich, schließlich ist Freitagabend. Warum?«
»Ach, ähm, nur so«, druckste die rum. Dabei spielte sie nervös mit den Fingern.
»Gottchen, Lena, du bist ja total verschossen in ihn. Was wird das nur geben? Von wegen ›Schnauze voll von Männern‹!«
Andererseits, warum nicht? Ein wenig Zerstreuung wäre für Lena jetzt wohl das Richtige. »Wenn du möchtest, dann komm doch morgen mit. Wir wollen Vitus und Loana im Schloss besuchen.«
Sofort schoss Lenas Kopf in die Höhe. Ihre Augen blitzten grünlich. »Morgen? Zum Schloss? Das wäre toll.« Dann jedoch erlosch das Blitzen. Mit sinkendem Kopf sackten auch ihre Schultern in sich zusammen. »Ah, verflucht, ich muss doch arbeiten, hab bis mittags Schicht im Salon. Das ist echt schade.«
Anna lächelte. Sie machte sich zwar wirklich Sorgen, Lenas Interesse an ihm könnte unerwidert bleiben. Doch war sie auch froh, dass ihre Schwester schon fast wieder die alte war. Außerdem würde sie ihr nur zu gerne das Schloss zeigen.
»Lena, das ist doch super. Viktor und ich sind ja ohnehin eher die Langschläfer. Wir holen dich von der Arbeit ab, fahren schnell nach Hause, damit du was einpacken kannst, und danach geht’s ab in die Märchenwelt. Das Schloss ist wirklich groß. Da gibt es bestimmt auch ein Kämmerlein für dich, wo du schlafen kannst.«
Lenas Augen bekamen erneut diesen besonderen Glanz, sodass sie nun eindeutig mehr grün als grau schimmerten. Anna wusste, das taten sie immer, wenn Lena aufgeregt oder glücklich war.
»Du meinst, ich dürfte dort sogar übernachten?«
»Sicher doch. Ich hab das gerade mit Viktor ausgemacht.«
»Du meinst, du hast dich gerade jetzt eben mit ihm gedanklich verbunden, während du mit mir geredet hast?«
Anna nickte fröhlich.
»Wow, das ist echt cool, Anna.«
Sie verzog ein bisschen das Gesicht, schwieg aber. Anna sah deutlich, dass ihre Schwester wieder einmal mit Annas elfischen Fähigkeiten haderte.
»Lena Nell«, sagte sie deshalb streng, »wir freuen uns wirklich, wenn du mitkommst, aber ohne Neidfaktor, hörst du? Du bist so eine tolle Frau. Du brauchst niemanden zu beneiden. Und das ist das letzte Mal, dass ich mit dir darüber gesprochen habe, verstanden?«
Lena grinste verlegen. »Verstanden.«
»Gut, dann machen wir das so. Ich muss jetzt los. Mach es gut.« Sie gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Bis morgen, große Schwester. Tschö.«
»Ja. Tschö.«
Draußen vor der Haustür wurde Anna von Viktor überrascht. Eigentlich hatte sie durch den Wald laufen wollen, doch er stand mal wieder an sein schwarzes Cabrio angelehnt, hatte die langen Beine lässig an den Fußknöcheln übereinandergeschlagen und spielte gedankenverloren mit seinem Elfenstern am Schlüsselbund. Er schaute sofort hoch, als sie die Eingangstreppe hinunterlief, und strahlte sie an.
Was für einen herrlichen Anblick er ihr jeden Tag aufs Neue bot, dachte Anna glücklich. Nach wie vor konnte sie es nicht hundertprozentig fassen, dass dieser wunderbare Halbelfe ihr gehörte, ihr allein.
»Und du gehörst mir, Kleines, mir ganz allein.«
Viktor zog sie dicht an sich, um sie ausgiebig zu küssen. Dann wickelte er ihr seinen Schal um, obwohl ihr nach seinen Küssen und seiner Sonne kein bisschen kalt war.
»Ich dachte, wir fahren heute mal ins Kino. Da waren wir noch nie. Im Internet hab ich was von einem Quentin Tarantino gelesen. Das soll so ein Kult-Regisseur sein. Der hat einen neuen Film rausgebracht. Wir könnten aber auch in den Hobbit-Film gehen. Du hast die Wahl.«
Anna schob die gespitzten Lippen hin und her. »Kino? Das ist eine tolle Idee. Hhm, lass mal überlegen: Viel Blut und noch mehr Tote oder Fantasy? Tja, da kann ich mich gar nicht entscheiden. Mich interessieren beide Filme. Also triffst du die Wahl, mein Prinz.«
***
Was ging da vor?
Er hatte sie heute mit dem Auto abgeholt, war aber nicht mit ihr zu seinem Haus, sondern nach Düsseldorf gefahren und in einem Kino verschwunden.
Mist! Wer weiß, was die sich dort anschauen würden? Das könnte zu lange dauern. Schließlich musste er auch seiner regulären Arbeit nachgehen.
Er überlegte kurz, während er ruhelos an den Nägeln kaute. Dann wendete er seinen Wagen. Er würde wiederkommen. Da war eindeutig was im Busch und er würde es herausbekommen.
Beim Anblick seiner zerkauten Fingernägel verzog er angewidert das Gesicht. Vielleicht sollte er sich doch ein Päckchen Zigaretten kaufen.
***
Lena war atemlos – atemlos von der unglaublichen Landschaft, die wie im Traum an ihr vorbeigezogen war:
Der Wald. Die Lichtung. Der Bach. Die schimmernden Hügel, die sich wie sanft wogende Wellen eines grünen Ozeans aneinanderschmiegten. Die Felder. Der See. Der Fluss. Der überirdisch blaue Himmel.
All diese Bilder schwirrten wie großartige kunstvolle Malereien an ihr vorüber, so, als betrachtete sie in einem Museum die überdimensionalen Werke begnadeter Künstler, allein ihr fehlte die Zeit zum Innehalten.
Denn schon setzte das Finale ein: Sie erblickte das Schloss mit seinem mächtigen Mauerwerk aus rosa- und naturfarbenem Stein, das trotz aller Gewaltigkeit auch etwas Zartes in sich barg. Das Fachwerk, das sich in ordentlicher Unordnung darauf aufbaute, wurde gekrönt von zahlreichen Türmchen und Erkern, Bögen und Schieferdächern, die im Sonnenlicht blitzten.
In den vergangenen Tagen hatte Anna ihr allerhand vom Elfenland erzählt, auch vom Schloss. Sie hatte gesagt, dass es ein wenig an die Burg Eltz erinnern würde. Lena gab ihr recht, denn auch sie hatte die wunderschöne Burg schon einmal in natura gesehen.
Doch dieses Schloss hier, so befand Lena, war mehr als nur wunderschön. Es strahlte Ruhe, Kraft und Würde aus, beeindruckte mit einer geheimnisumwobenen Lebendigkeit. Völlig in den Bann gezogen kamen ihr romantische Fantasien in den Sinn: Von tanzenden Schönheiten, die mit ihrem klaren Gesang die Luft anfüllten und deren langes Lockenhaar sowie hauchzarte duftige Gewänder im lauen Frühlingswinde wehten und die voller Grazie ihre Händ…
Mit einem Mal holten sie zwei starke Arme aus ihren Träumereien – und Lena fiel der weitere Grund für ihre Atemlosigkeit ein: Er!
… Er hatte sie hinter diesem geheimnisvollen Bach in der sogenannten Vorwelt erwartet. Hinter dem Bach, über den sie gemeinsam, Hand in Hand mit Viktor und Anna hatte springen müssen, um ins Elfenreich zu gelangen.
Als sie ihn dort erblickt hatte, war sie stocksauer geworden, und zwar auf Anna. Ihre eigene Schwester hatte ihr nichts davon erzählt, dass ausgerechnet Sentran kommen und Lena zu sich auf den Rücken eines riesigen schwarzen Pferdes ziehen würde.
Gott, war ihr das peinlich gewesen, wie ihr das Herz bis zum Halse geschlagen und sie vor Angst und Aufregung gezittert hatte. Bestimmt hatte er es bemerkt. Schließlich war sie ja hinter ihm gesessen, hatte ihn fest umschlingen müssen, damit sie nicht von dem vermaledeiten Pferd fiel.
Natürlich hatte er es bemerkt! Denn als sich ihr Puls fast überschlug, hatte er ganz sanft ihre Hand gedrückt. Oh mein Gott, dem blieb wirklich nichts verborgen! …
Nun hob er sie behutsam von dem Pferd, das so elegant durch die Elfenwelt geglitten war. Er hielt sie in seinen Armen, als wäre sie federleicht, und in einer Art, die ihrer Atemlosigkeit neuen Schwung verlieh. Unterdessen blieb seine Miene ernst und zurückhaltend, weshalb sich Lena aufs Neue furchtbar ärgerte.
»Der tut ja gerade so, als würden wir uns gar nicht kennen«, dachte sie missmutig.
Noch bevor ihr klar wurde, dass Sentran ihre Gedanken bestimmt hatte lesen können, sprach er die ersten Worte seit dem letzten Zusammentreffen: »Möchtest du dir das Schloss noch ein wenig anschauen oder lieber reingehen? Du kannst es dir aussuchen, ganz wie du es wünschst. Es ist vielleicht ein bisschen kalt zum …«
»Lena ist nicht kalt«, fiel Anna ihm ins Wort. »Du könntest eine Runde mit ihr durch den Park drehen. Da kann sie das Schloss auch von der anderen Seite bewundern. Außerdem bekommt sie damit die Gelegenheit, sich ein Bild von der Kirschbaumallee zu machen, schließlich werden wir in nicht mal zwei Monaten dort zur Hochzeit entlangwandeln.«
»Werde ich eigentlich auch noch gefragt?« Lena gab ihrer Stimme einen gefährlich leisen Klang. Dabei blitzte sie Anna wütend an.
Sentran antwortete an Annas Stelle, ganz ruhig, fast schon unterkühlt: »Falls du dich erinnerst, Lena, ich habe dich gerade erst gefragt, was du gerne tun möchtest. Ich wollte dir deinen Wunsch erfüllen. Doch jetzt weiß ich nicht so recht. Es gebietet wohl die Höflichkeit, dich nicht einfach hier stehenzulassen.«
***
Viktor zog Anna aus der Gefechtslinie.
»Komm, Süße. Lass uns schnell reingehen, bevor wir noch was abkriegen. Das dürfte zwar äußerst interessant werden, aber vielleicht auch ein bisschen gefährlich, wenn zwischen den beiden die Fetzen fliegen«, flüsterte er ihr ins Ohr und schob sie weiter.
Natürlich hatte Sentran das mitbekommen. Allmählich zeigten sich die ersten Risse in seiner zwar noch beherrschten, aber ohnehin bereits bröckelnden Fassade.
… Ihm war klar, dass Vitus ihn sowohl auf Viktors als auch auf Annas Bitte zum Bachsprung geschickt hatten, um Lena abzuholen. Als gehorsamer Wachmann musste er diesem Befehl selbstverständlich ohne Widerworte Folge leisten, was ihm ausgesprochen schwergefallen war. Die Vorstellung, dieses aufregende Menschenmädchen hinter sich auf dem Pferd sitzen zu haben, machte ihm Bauchschmerzen.
Schon auf der Geburtstagsfeier der Zwillinge hatte ihn Lenas Nähe gehörig irritiert und ihm später schlaflose Nächte bereitet. Deshalb hatte er sich fest vorgenommen, ihr aus dem Wege zu gehen, soweit es ihm irgend möglich war. …
Jetzt war es also ganz anders gekommen, was ihn wütend machte, zumal er Viktors leisen Spott deutlich wahrnehmen konnte. Aufgebracht drehte er sich zu Anna und Viktor, doch die hatten bereits ihr Pferd Ariella zum Stall geschickt und liefen nun kichernd durchs große Schlosstor.
Mit zorniger Miene wandte er sich wieder Lena zu. Aber all sein Zorn verrauchte bei ihrem Anblick: Dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen.
Was war denn nun schon wieder los? Gerade war sie doch noch so wütend gewesen, genauso wie er.
»Das muss am Menschsein liegen«, entschied er für sich. »Sie schreit, sie zittert, sie fällt in Ohnmacht, sie weint. – Oh, Himmel nochmal, sie weint!«
Absolut unüberlegt stürzte er auf sie zu, legte ihr eine Hand in den Nacken und zog sie sacht zu sich heran. Ihrem störrischen Versuch, sich ihm zu entziehen, gab er nicht nach und legte auch seinen anderen Arm um sie.
»Wieso weinst du denn?«, fragte er leise, darum bemüht, möglichst freundlich zu klingen.
»Ich weine ja gar nicht«, schluchzte sie.
Erleichtert registrierte er Lenas Gedanken, die ihn darüber aufklärten, dass sie sich dumm vorkam, hier zu stehen, in seinen Armen und zu heulen, weil ihre Schwester sie einfach alleine mit ihm hatte stehenlassen.
Er zog sie noch dichter an sich, beugte sich zu ihr hinunter und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Sie duftete wieder so wunderbar wie schon bei den vorherigen Zusammentreffen, nach Zitrus, Orangenblüten und Sommer.
»Gut, wenn du also gar nicht weinst und dich höchstwahrscheinlich auch gar nicht unwohl mit mir alleine fühlst, könnten wir ja tatsächlich ein paar Schritte durch den Park gehen.«
Er legte einen Finger unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben, damit sie ihm in die Augen sah. Dann strich er ihr mit dem Daumen der anderen Hand die Tränen fort.
… Er wollte nichts mehr mit Frauen zu tun haben, die sein Herz berührten. Nie wieder! Das hatte er sich geschworen, denn er war ein gebranntes Kind. Außerdem schien auch Lena nicht gerade auf der Suche nach einer neuen Beziehung zu sein. Das hatte er schon letztens überdeutlich bei ihr gespürt. …
***
Doch sie taten genau das Gegenteil von dem, was sie sich vorgenommen hatten. Sie warfen ihre festen Vorsätze über Bord, trotz ihrer argen Bedenken. Beide gleichzeitig!
Als ihre Münder sich trafen, zerbarst etwas in Lenas Kopf und ihre Beine gaben nach. Aber er hielt sie fest. Sie verfluchte sich dafür, dass ihr in seiner Nähe schon wieder schwindlig wurde, und kämpfte mit aller Macht dagegen an. Sie wollte nicht aufhören mit dem, womit sie gerade erst begonnen hatte. Nein, auf keinen Fall wollte sie es beenden!
Lena stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um seinen Nacken und versank in überschäumenden Gefühlen. Schon der Beginn des Kusses hatte sie ins Wanken gebracht, doch es wurde immer fesselnder und erregender.
Einer Achterbahnfahrt gleich stürzte Sentran sie einen tiefen Abgrund hinab, um sie daraufhin übergangslos hinauf in schwindelnde Höhen zu katapultieren. Anfangs hatte er zärtlich mit ihr gespielt, ihre Lippen gekostet, dann mit seiner Zunge die ihre gesucht und gefunden und sie nicht mehr losgelassen.
Wie konnte sie annehmen, dieser Mann sei kühl und reserviert? Mitnichten! Er war ein Vulkan und sie tanzte auf ihm. Oh Gott, sie würde niemals aufhören mit dem Tanz. Ihre Hände verkrallten sich in seinem Haar. Sie stöhnte leise auf, weil er sie zu sich hochriss. Es war, als wäre sie schwerelos.
»Sie ist viel zu klein und zart«, dachte er. »Sie ist ein Mensch. Was, wenn ich ihr wehtue, sie verletze.«
Als hätte auch sie die Fähigkeit, in seinen Geist einzutauchen, klammerte sie sich an ihn und wurde dabei stetig fordernder. Jede Faser ihres Körpers schrie nach ihm: Nicht aufhören! Bitte nicht aufhören!
Doch er tat es. Langsam löste er sich von ihrem Mund und legte seine Stirn an ihre. Allerdings hielt er sie nach wie vor fest in seinen Armen, sodass ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden baumelten.
»Nein, ich glaube wirklich nicht, dass du Angst hast, mit mir allein zu sein, süße Lena.« Jetzt sah er ihr in die grün schimmernden Augen. »Wie schön du bist. Am liebsten würde ich dich immerzu anschauen.« Vorsichtig stellte er sie auf ihre Füße. »So klein und zart.« Er strich mit dem Finger über ihre errötende Wange. »Deine Haut, sie schimmert. Deine Augen, manchmal sind sie grau und dann wieder grün. Und dein Mund, dieser Mund …«
Er riss sie erneut von den Füßen und verschlang diesen Mund. Eigentlich hatte er es beenden wollen, doch jetzt siegte sein Begehren über jegliche Vernunft. Er wollte sich nur noch in diesem Kuss verlieren. Mit ihr!
***
»Stopp, stopp, stopp! Wo willst du denn hin?«, erkundigte sich Viktor, als Anna sich heimlich aus der Schlossküche zu schleichen versuchte.
»Ich will nur mal kurz nach Lena sehen. Sie ist schon seit fast einer Stunde da draußen, mit Sentran, in der Kälte.« Hastig wandte sie sich ab, weil Viktor sie amüsiert angrinste. »Wir haben sie einfach stehenlassen, Viktor. Das war gemein von uns.«
Er lachte auf. »Fühlst du denn nicht, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst, du Dummerchen?« Anna sah ihn fragend an. »Süße, Sentran kümmert sich um deine Schwester. Sehr intensiv, sehr liebevoll und sehr stürmisch.«
Viktor grinste weiterhin derart breit und frech, dass Anna sich etwas beruhigte. »Oh, na dann, hhm«, druckste sie.
»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Kleines. Lena ist erwachsen und Sentran kein Wüstling.« Er blickte sich demonstrativ um. »Ich mach mir eher Sorgen um meinen Vater und Loana. Wo stecken die beiden bloß? Vitus weiß doch, dass wir hier sind.«
***
»Ooh, Vitus, tut mir leid, es geht schon wieder los.« Loana rannte Richtung Bad und Vitus hinterher. »Ach, Liebster, nun lass mich doch bitte allein. Ich …«
Weiter kam sie nicht, denn sie erbrach sich zum dritten Mal an diesem Tag. Sie kauerte vor der Toilettenschüssel und wurde so heftig von Würgekrämpfen geschüttelt, dass ihr Tränen die Wangen herunterliefen.
»Loana, da kann doch gar nichts mehr zum Ausspucken sein. Das gibt’s doch nicht. Was ist denn nur mit dir los?«
»Ich glaube, jetzt ist es gut«, keuchte sie, während sie wieder aufstand. Als sie daraufhin zum Waschbecken ging, funkelte sie Vitus an. »Geh doch bitte schon mal runter zu den Kindern. Ich mach mich nur schnell ein bisschen frisch.«
»Ich weiß nicht.«
»Vitus, lass mich einfach mal allein, ja?« Loanas Tonfall war deutlich gereizt, wie schon so oft in letzter Zeit.
Zögernd ging Vitus in Richtung Tür. »Bist du dir sicher?«
»Ja, bin ich. Ich komme sofort nach.« Sie seufzte, als sie seinen zweifelnden Blick sah. »Ganz bestimmt, Vitus. Ich komme gleich.«
Zutiefst beunruhigt verließ Vitus das Bad.
… Bei Estra hatten sie noch gedacht, es hätte am Obstler gelegen. Seitdem hatte sich Loana jeden Tag übergeben müssen. Mal war es heftig, mal etwas weniger, doch immer regelmäßig. Vitus kam fast um vor Sorge. Seine Kened war krank. Und er konnte nicht erkennen, was ihr fehlte. …
Mit diesen Gedanken betrat er die Küche, wo Anna und Viktor am Tisch saßen und gemeinsam an einer Suppe löffelten. Beide hörten sofort auf zu essen, als sie Vitus erblickten.
»Himmel, Vater, was ist passiert?«, wollte Viktor wissen. »Natürlich ist was nicht in Ordnung«, fügte er rasch hinzu, weil Vitus abwehrend den Kopf schüttelte.
»Ist etwas mit Loana?«, hakte Anna nach.
»Ich weiß es nicht.« Vitus konnte seine Verzweiflung und Besorgnis nicht mehr unterdrücken. »Ihr geht es nun schon seit mehreren Wochen so schlecht. Andauernd ist ihr übel und sie kann kaum noch etwas bei sich behalten.« Er schaute seinen Kindern in die Augen. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
Völlig erschöpft und ausgelaugt setzte er sich zu ihnen an den Tisch.
Nach einer kurzen Denkpause lächelte Anna milde.
»Regelmäßige Übelkeit und Erbrechen? Müdigkeit, Kraftlosigkeit? Vielleicht hier und da auch Reizbarkeit? Vitus! Denk nach!«
Ihr Lächeln verstörte ihn. Er hatte die Ellenbogen am Tisch aufgestellt, raufte sich die langen Haare, als er schlagartig innehielt und Annas Gedanken mit seinen kombinierte. Er spürte, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht sickerte. Seine Hände begannen zu zittern.
Dann ließ er seine Ellenbogen auf den Tisch sinken und sah Anna ungläubig an. »Du meinst, sie ist … Du meinst, sie bekommt … Sie, sie ist …«
***
Loana kam gerade zur Küche herein, da hörte sie, wie Vitus ein, nein, das Licht aufging. Überglücklich umschlang sie ihn von hinten und flüsterte ihm zärtlich ins Ohr: »Ja, Vitus, ich bin es, ich bekomme tatsächlich ein Kind. Wir bekommen ein Baby.«
Vitus drehte den Kopf zu ihr. Seine Miene versteinerte sich zu einer harten Maske. Er zitterte leicht und war kreidebleich.
»Was habe ich getan?« Er sprang derart schnell auf und ging auf Loana zu, dass sie erschrocken zur Seite trat. »Es tut mir so leid.« Fahrig fuhr er sich mit der Hand über Gesicht und Haar. »Das hab ich nicht gewollt. Was sollen wir denn jetzt nur tun?«
Loana brach es fast das Herz. Mit einer solchen Reaktion hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Sie hatte jahrelang angenommen, keine Kinder bekommen zu können. Doch heute Morgen war sie sich mit einem Mal über ihren Zustand klargeworden. Heute Morgen hatte sie endlich erkannt, warum ihr andauernd so schlecht war, und sich so sehr darüber gefreut. Ein Baby! Sie und Vitus würden Eltern werden.
Aber nun verflog all ihre Freude darüber, weil sie in Vitus’ Augen eben keine solche Freude, sondern schiere Verzweiflung sah – und Angst, pure Angst, eher sogar Panik. Im ersten Moment begriff sie überhaupt nicht, wieso er so anders als erwartet reagierte. Mittlerweile hatte sie geglaubt, ihn trotz der Kürze der Zeit gut genug zu kennen.
Für einen winzigen Augenblick bereute sie sogar ihre Entscheidung, anstatt nach dem Sieg über Thalis, Maiwenn und Suna in der Bretagne zu bleiben, mit Vitus zurück zum Schloss gegangen zu sein. Hatte sie sich von ihrem geliebten Vitus in die Irre führen lassen?
Das konnte sie einfach nicht glauben. Darum schaute sie nochmals hin, diesmal genauer – und ihr fiel ein Tausendtonnenstein vom Herzen vor Erleichterung. Ihr Liebster war nicht verzweifelt, weil er das Kind nicht haben wollte, sondern in reinster Sorge, sie zu verlieren. So, wie er schon einmal eine Frau verloren hatte, weil diese von ihm schwanger gewesen war.
Ihre aufkommenden Tränen zurückzwingend ergriff sie seine Hand. »Vitus, nein, ich werde nicht sterben. Ich werde dein Kind, unser Kind, zur Welt bringen. Wir werden es gemeinsam großziehen. Bitte, Vitus«, flehte sie ihn an, als er sich von ihr abwenden wollte. »Es ist ein Wunder, wo ich doch immer dachte, keine Kinder bekommen zu können. Lass mich nicht allein. Bitte – Mar plij.«
Kraftlos ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, kämpfte weiterhin mit den Tränen und mit erneut aufsteigender Übelkeit.
***
Loanas schlechte Verfassung und ihre Traurigkeit holten Vitus aus seiner düsteren Panik.
Endlich registrierte er ihre Worte und setzte sie im Kopf um: Sie würde ein Kind von ihm bekommen. Meine Güte, er würde noch einmal Vater. Wahnsinn! Blitzschnell hob er sie hoch. »Du musst dich hinlegen, Loana, du brauchst Ruhe, viel Ruhe!« Doch dann konnte er sich vor lauter Freude nicht mehr bremsen und drehte sich mit ihr im Kreis. »Du kriegst ein Baby, Loana! Das ist fantastisch! Wir beiden kriegen ein Kind!«
Als er sie glücklich ansah, spürte er deutlich, dass seine Drehungen ihrem Magen gar nicht gutgetan hatten. »Oh verzeih, Kened. Das war dumm von mir. Ich bring dich rasch nach oben.«
In der Küchentür drehte er sich noch einmal überschwänglich zu seinen Kindern um. Loana hatte großes Glück, dass er ihr dabei nicht vor lauter Übermut den Kopf am Türrahmen anstieß. »Äh, ich bring sie rauf. Wir sehen uns später. Ach, und Anna, sag Sentran doch bitte, er möge allmählich mit deiner Schwester ins Schloss hineingehen. Es ist bitterkalt da draußen. Auch die heißesten Küsse können sie vor dem Erfrieren nicht retten.« Dann trug er seine Kened davon.