Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 - Agnes M. Holdborg - Страница 7
Geschenke
ОглавлениеPoch, poch, poch! Das energische Klopfen an der Tür ließ ihm keine Ruhe. »Viktor? Anna? Seid ihr wach? Los, los, steht auf! Es wird Zeit!«
»Was ist los?« Viktor tastete mit einer Hand auf dem Tischchen neben dem Bett nach seinem Handy und sank nach einem Blick darauf ermattet in die Kissen zurück. »Ach ne, das gibt’s doch nicht.« Mit seinem bartstoppligen Kinn strich er vorsichtig über Annas Schulter. »Hey, Süße, meine Schwester dreht durch. Es ist erst halbsieben und sie will, dass wir aufstehen.« Wie immer hielt Viktor sie fest umschlungen. Als Anna ihren Kopf hob, blickte er geradewegs in zwei zwar reichlich verschlafene, aber dennoch wunderschöne, leuchtendhelle Saphire.
Wieder klopfte es an der Tür und diesmal deutlich energischer. »Bruderherz, steh au-hauf! Es wird Zei-heit!«
»Hhm«, brummte er nur. Ohne weiter auf das Klopfen zu achten, nahm er Anna die Brille wieder ab, die sie sich gerade aufgesetzt hatte, legte sie beiseite, zog Anna noch näher an sich heran und begann, sie ausgiebig zu kosten. Gleichzeitig sendete er seiner Schwester ein knappes Statement.
»Meine Güte, Viktor!«, rief diese von draußen durch die Tür. »Na gut! Aber gleich kommt ihr beiden Liebesverrückten runter, klaro?«
Viktor unterbrach seine Liebkosungen und Küsse nicht. Er widmete sich ganz Annas wunderbar weicher Haut. Vielleicht hatte er ja in der vorherigen Nacht ein paar Zentimeter davon ausgelassen. Das durfte auf keinen Fall sein.
Die Erinnerung an die vergangene Nacht erregte ihn zutiefst, denn Anna hatte ihm eine Geburtstagsnacht geschenkt, die er nie mehr vergessen würde.
… Um Punkt zwölf hatten er, Anna, Viktoria und Ketu mit edlem Champagner angestoßen und noch ein halbes Stündchen geplaudert. Die Geburtstagsgeschenke sollte es erst am Tage geben. Danach waren sie in ihren Zimmern verschwunden.
Daraufhin überraschte Anna ihn doch noch mit einem Geschenk, und zwar mit einem äußerst erotischen Geschenk. Sie kannte ja seine Vorliebe für schwarze Spitze auf ihrer weißen Haut.
Zunächst war ihm schlechthin die Spucke weggeblieben, dann aber sofort das Wasser im Mund zusammengelaufen, als sie sich ganz langsam vor ihm auszog und ihr atemberaubendes Dessous freigab. Sie hatte den Striptease noch gar nicht richtig vollendet, da war es schon um seine Beherrschung geschehen und er geradezu über sie hergefallen. …
Schuldbewusst strich er nun mit seinen Lippen über ein paar kleine blaue Flecken an Annas Oberarmen.
»Ich hab dir heute Nacht wehgetan«, murmelte er, während er sie weiter mit Fingern und Zunge verwöhnte, lustvoll quälte und dabei beobachtete, wie sie mit halb geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund jedes einzelne Streicheln zu genießen schien.
»Hm?«, hauchte sie abwesend. »Ach das. Nein, das ist nichts. – Oh, mein Gott, Viktor, hör bitte nicht auf.«
»Das hatte ich nicht vor, Kleines.«
Er würde ganz bestimmt nicht aufhören, dachte er. Heute Morgen würde er sich für die vergangene Wahnsinnsnacht bedanken. Langsam, ausgiebig und gründlich.
Während Anna bei der Zartheit seiner Berührungen zischend die Luft einsog, eröffnete sich ihm ihre Seele:
Sie hatte keine andere Wahl. Sie zersprang in tausende kleine spitze Splitter, weil er sie dazu trieb.
Hatte er ihr vielleicht in der Nacht ein paar blaue Flecken durch seinen festen Griff zugefügt, so bekam er nun ihre Fingernägel im Rücken zu spüren, als er sich ohne Hast mit ihr vereinte und sich träge in ihr bewegte.
Sein Herz lief ihm über. Er musste seine Sonne bremsen, während er ihren Blick an seinen fesselte und sie unter ihm erbebte.
Er raunte ihr Liebeschwüre zu, ergötzte sich an ihren geflüsterten Erwiderungen. So trieb er mit ihr auf einem seiner Sonnenstrahlen direkt ins Inferno. Immer schneller, immer heißer, bis sie gemeinsam in der Glut verbrannten.
***
Etwas später als geplant küsste Viktor seine Schwester, die ihm so ähnlich sah, vergnügt mitten auf den Mund. »Ich hab gehört, du hast Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, liebstes Schwesterchen. Wie fühlt man sich denn so mit neunzehn?«
»Ach ja, du hast ja auch Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch auch dir, liebster Bruder. Tja, wahrscheinlich fühle ich mich genauso wie du. Könnte das wohl sein? Und dabei bin ich doch ein paar Minuten älter als du.«
Beide hielten sich gegenseitig ein kleines Päckchen entgegen. Viktor musste genau wie Viktoria lachen, wussten sie doch, was drin war: die Schlüssel zu einem dritten Auto.
… Sie hatten sich dazu entschlossen, sich noch einen weiteren fahrbaren Untersatz anzuschaffen, weil in Viktors Cabrio nur zwei Personen Platz fanden und auch Viktorias Auto für manche gemeinsame Unternehmungen einfach zu klein war. Anfangs hatte es Diskussionen wegen Marke und Modell gegeben, dann hatte Viktoria sich gegen ihn durchgesetzt.
Gestern konnten sie den Wagen endlich abholen. Jetzt stand er in der geräumigen Garage: ein funkelnagelneuer weißer Multivan. …
»Tja«, kommentierte Anna mit ironischem Unterton, als sie das große Geburtstagsgeschenk beäugte. »Geldsorgen habt ihr nun wirklich keine, wenn ihr euch den Luxus eines dritten Autos leisten könnt. Hhm, der ist echt schön und vor allen Dingen praktisch. Da könnten wir auch mal mit mehreren was machen. Cool.«
»Und wenn du deinen Führerschein hast, kannst du dir eins der Autos ausleihen und damit zur Schule fahren.«
Amüsiert beobachtete er, wie sie eine vermeintlich beleidigte Schnute zog.
»Schade, mein Prinz, ich hatte angenommen, dann schenkst du mir ein Eigenes.«
»Wir werden sehen, Süße.«
Sie riss die Augen auf. »Bist du verrückt? Das war doch nur ein Witz! Natürlich wünsche ich mir kein Auto von dir!«
»Ein Witz also, hhm-hhm, wir werden sehen.« Viktor grinste sie frech an. Obgleich bis zu Annas achtzehnten Geburtstag noch einige Tage – naja, mehr als ein halbes Jahr – ins Land gehen sollten, fand er großen Gefallen an der Vorstellung, wie sehr sie sich über ein Auto als Geschenk aufregen würde. »Wir werden sehen«, wiederholte er deshalb zum dritten Mal und küsste sie rasch, damit sie nicht weiter protestieren konnte.
***
Oben im Esszimmer deckte Ketu derweil den Frühstückstisch. Er hatte die neue »Familienkutsche« bereits am Tag zuvor bewundert und nahm sich nun Zeit, um Viktoria ein wenig zu entlasten. Vitus und Loana würden sicher bald kommen. Außerdem waren nach dem Frühstück die Vorkehrungen für das mittägliche Geburtstagsessen zu treffen.
Sie hätten besser im Schloss feiern sollen, überlegte Ketu. Viktoria hätte dann mehr von ihrem Festtag. Sie als Perfektionistin würde bestimmt die ganze Zeit über herumrennen und herumwuseln wollen. Es würde schwer werden, sie davon abzuhalten, doch er wollte es versuchen.
Schließlich hatte er es ja auch sehr erfolgreich geschafft, Viktoria in der Nacht von ihren Grübeleien zu Tischdeko und Sitzordnung abzulenken. Außerdem hatte er ihr bereits am frühen Morgen sein Geschenk überreicht.
… Sein Gesicht verzog sich zu einem strahlenden Lächeln, als er daran dachte, wie Tränen in ihren Augen geglitzert hatten beim Anblick des ebenso glitzernden Colliers, des Armbandes und der passenden Ohrringe.
Es mochte vielleicht abgegriffen sein, seiner Liebsten zum Geburtstag Schmuck zu schenken. Doch Viktorias Freudentränen verrieten Ketu deutlich, dass sie das überhaupt nicht für abgegriffen hielt. Sie ließ sich von ihm den Schmuck anlegen, den sie dann im Spiegel eingehend betrachtete und mit den Fingern zärtlich darüber strich. Über das feine Gold, die funkelnden Diamanten, feurigen Rubine.
Daraufhin drehte sie sich zu ihm um, ihn mit einem Blick bedenkend, in dem das gleiche Feuer wie in den Edelsteinen loderte. Sie schob die hauchdünnen Träger ihres aufregenden Seidennachthemdes von den Schultern, sodass der feine Stoff an ihr hinunter zu Boden glitt und sie nur noch den Schmuck für ihn trug. Was darauf folgte, war überwältigend und berauschend. …
***
Ketu rutschte ein Wasserglas aus der Hand – und jemand anderes fing das Glas auf, bevor es zu Boden ging.
»Du bist wohl in Gedanken?« Trotz des leicht belustigten Untertons blieb Sentrans Miene wie üblich ernst. »Lass mich dir helfen.«
»Danke, mir war nur kurz etwas in den Sinn gekommen.« Ketu räusperte sich.
Indes stand Vitus mit Loana in der Tür und kommentierte die Szene zunächst mit einem milden Lächeln. »Nur kurz ist gut, Ketu«, spöttelte er dann vergnügt. »Du hast ja nicht einmal mitbekommen, dass wir geläutet haben, wie es sich gehört. Es ist wie verhext: Entweder vergesse ich zu klingeln, oder es kommt einfach niemand, um die Tür zu öffnen. Wo sind denn die Geburtstagskinder?«
»Hm?« Ketu war offenbar immer noch nicht ganz aus seinen Träumereien aufgetaucht. »Oh, die sind in der Garage und zeigen Anna den neuen Wagen. Sie müssten eigentlich schon wieder zurück sein.«
Wie aufs Stichwort erschienen die drei und die Zwillinge wurden von ihrem Vater liebevoll in die Arme geschlossen. Er hatte sich ihnen selten rührselig gezeigt, doch nun hielt Vitus seine Kinder weiterhin fest und bekam glänzende Augen.
»Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden. Und alles Liebe dieser und unserer Welt.« Verstohlen wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Es ist schwer, zwei Königskindern, die schon Alles haben, etwas zu schenken. Und wenn ich sage, dass ihr Alles habt, dann meine ich nicht nur die materiellen Werte. Ihr habt die Liebe gefunden, seid gesund und glücklich. Dass ihr jederzeit zu mir auf den Thron steigen könnt, das wisst ihr ja bereits. Also, was schenkt man euch?«
Statt einer Antwort brachte Vitus zwei in hauchfeines weiß-goldenes Papier eingeschlagene schmale Pakete zum Vorschein. Beide nahmen sie dankend entgegen. Als sie ihre Geschenke aufmachten – Viktor mit einem ungeduldigen Zerreißen des Papiers – Viktoria hingegen mit geduldigen, geschickten Fingern – hielten sie jeder eine in Silber gerahmte Fotografie in der Hand: Ihre Mutter, eindeutig schwanger mit den Zwillingen, stand unter einem leuchtenden Herbstbaum und warf ihnen lächelnd eine Kusshand zu. Sie war wunderschön.
»Ich habe die alten Kisten, die ich seinerzeit auf den Speicher verbannt hatte, ein wenig durchstöbert. Euer Urgroßvater, Leonard Müller, hatte sie mir kurz vor seinem Tod überlassen. Bis vor ein paar Tagen habe ich sie nie angerührt. Ich konnte es einfach nicht. Es gibt Filme, Fotoalben und Briefe von eurer Mutter. Die Sachen sind schlichthin bezaubernd und erzählen so viel über sie. Ich denke, es wird höchste Zeit, dass ihr mehr über sie erfahrt. Deswegen möchte ich mir das alles mit euch gemeinsam ansehen. Endlich bin ich in der Lage dazu, euch eure Mutter nahezubringen.«
Jetzt rollten doch ein paar Tränen über seine Wangen. »Es tut mir leid, dass das erst nach neunzehn Jahren geschieht, aber …«
Viktoria fiel ihrem Vater um den Hals. »Schscht, nicht«, flüsterte sie heiser. Auch sie schien den Tränen nahe zu sein. »Du bist jetzt hier, hier bei uns. Alles andere ist Vergangenheit. Und danke, Vater, das Foto ist so wunderbar. Ich kann gar nichts weiter dazu sagen.«
Ebenso sichtlich gerührt nahm Viktor ihn in den Arm. »Danke.«
Vitus holte einmal Luft. »Nun denn. Ähm, der Kaffee wird kalt. Wir sollten jetzt frühstücken.«
Er rechnete nicht damit, dass Loana zuerst sein Gesicht zärtlich in beide Hände nahm und ihm einen kleinen süßen Kuss gab, bevor auch sie den Zwillingen gratulierte und ihnen ihre Geschenke überreichte:
Bildbände zu den Werken von Gauguin, Monet und Matisse für Viktoria und CDs mit Musik von Alan Stivell, Tri Yann und Nolwenn Leroy für Viktor. Die beiden freuten sich lauthals darüber, weil diese Sachen genau ihren Vorlieben entsprachen und Loana außerdem ihren bretonischen Wurzeln treu geblieben war. Es zeugte davon, wie viel Gedanken sie sich deswegen gemacht haben musste.
… Auch Vitus freute sich darüber, dass Loanas Geschenke derart großen Anklang bei seinen Kindern fanden, hatte sie sich doch so lang den Kopf deswegen zerbrochen. Sie wollte seinen Kindern unbedingt etwas schenken, das dem jeweiligen Interesse der beiden und zudem deren rein menschliche Seite entsprach. Ein schwieriges Unterfangen für eine Elfe ohne große Erfahrung mit Menschen.
Doch nachdem sie vor einiger Zeit von Anna und Jens erfahren hatte, dass es nicht nur berühmte Maler, sondern auch Rockmusiker mit Themen aus Loanas Heimat gab, war ihr die zündende Idee gekommen und sie hatte Anna gebeten, diese Dinge für sie zu besorgen. …
Um fast halb zehn begannen sie endlich mit dem, natürlich wie immer, opulenten Frühstück. Zunächst sagte Vitus nichts zu seiner Beobachtung, wie Sentran sich heimlich in die Küche verziehen wollte, dort aber hochkant vom Koch Wonu hinausgeworfen wurde. Wonu hatte absolut keinen Sinn für den Wachmann, sondern beäugte fluchend und stöhnend den hochmodernen menschlichen Induktionsherd und fragte sich, wie er mit dieser Höllenmaschine die bereits vorbereiteten Speisen bis ein Uhr in ein Dinner verwandeln sollte. Als Sentran daraufhin versuchte, sich unbemerkt aus dem Esszimmer davonzuschleichen, ging Vitus dieses lächerliche Benehmen des neuen Mannes eindeutig zu weit.
»Ich hab dich nicht mitgenommen, damit du dich feige verdrückst, Sentran. Ich möchte, dass du meine Familie kennenlernst. Und meine sechs Wachen gehören zu meiner Familie dazu.« Er legte den Kopf schräg. »Was ist, möchtest du nun mein sechster Wachmann werden oder nicht?«
»Selbstverständlich, mein König. Ich möchte mit Freuden dein Wachmann sein und dir dienen. Doch beinhaltet das meines Erachtens nicht, mit dir und deiner Familie an einem Tisch zu sitzen – mit Verlaub.«
»Spar dir dein dämliches Mit Verlaub!«, befahl ihm Vitus ungeduldig und ließ dabei die Deckenlampe kurz aufflackern. »Ich bestimme, was deine Aufgaben beinhalten und was nicht. Also setz dich und frühstücke gefälligst mit!« Danach drehte er sich seinen Kindern und Fast-Schwiegerkindern zu und tat so, als sähe er nicht, wie Sentran sich stirnrunzelnd und offenkundig widerstrebend dazusetzte. Stattdessen fragte er: »Und, was gab es denn sonst noch so zum Geburtstag, außer einem Auto, einer langen Nacht und einem fast genauso langen, vergnüglichen Morgen?«
»Vitus, bitte.« Loana lächelte, stieß ihm dennoch unsanft mit dem Ellenbogen in die Rippen.
»Lass nur, Loana«, entgegnete Viktor trocken. »Wir sind das gewohnt. Vitus ist in dieser Hinsicht ein kleines bisschen unsensibel. Aber danke der Nachfrage, Vater. Anna hat mir ein traumhaft schönes selbstgemaltes Bild geschenkt, ein Buch über Elfen und das hier.«
Viktor hielt seinen Autoschlüssel hoch. Daran hing ein feiner silberner Stern mit sieben Zacken, eingefasst in einem zarten Reif. In der Mitte des Sterns war ein recht großer Stein in intensiv blauer Farbe eingelassen. Diese Farbe glich haargenau der von Viktors Augen, erkannte Vitus gerührt.
»Das ist ein stilisierter Elfenstern.« Anna räusperte sich. »Also, in der Menschenwelt denkt man, so etwas sei ein Elfenstern. Der Stein ist ein blauer Turmalin, aber er hat mich an einen Tansanit erinnert. Na ja, den konnte ich mir natürlich nicht leisten. Aber ich hab bei dem Stern sowieso weniger an Edelsteine gedacht, sondern mehr an Viktor, seine Augen und seine Sonne. Ich fand ihn einfach hübsch und …«
»… passend.« Vitus nahm den Anhänger in die Hand, um ihn eingehend zu betrachten. »Er ist wunderschön, Anna. Wirklich wunderschön.«
Ihm war klar, wie tief Anna für ihre Verhältnisse hatte in die Tasche greifen müssen, um Viktor dieses wunderbare Geschenk zu machen. Er sah sie an und freute sich über die Liebe, die in ihren Augen brannte, nur für seinen Sohn.
»Das Buch und das Bild würde ich mir später gerne ansehen.«
Nun wandte er sich Viktoria zu. Natürlich war ihm ihr neuer Schmuck bereits aufgefallen. »Auch dein Geschenk ist wunderschön.« Er bedachte Ketu mit einem undurchschaubaren Blick. »Du scheinst als Wachmann ja sehr gut zu verdienen.« Eine Spur Ironie konnten seine Worte nicht verhehlen.
»Also, Vitus, du bist wirklich manchmal ein roh… nein, hhm, ein grober Klotz. Die Geschenke sind zauberhaft«, sagte Loana, während sie aufstand. »Ich muss mal kurz, nun ja … Ihr wisst schon.« Vitus sah ihr nachdenklich hinterher, als sie in Richtung Gästetoilette verschwand.
Ketus Mundwinkel zuckten. Vitus’ Kommentar hatte ihn wohl belustigt. »Stimmt, mein König, ich bin durchaus zufrieden mit meinem Gehalt. Aber der Schmuck ist tatsächlich ein klein wenig zu kostspielig dafür. Es handelt sich um Erbstücke. Sie gehörten der Mutter meines Vaters. Meine Eltern und ich wollten gerne, dass Viktoria sie bekommt. Ich habe allerdings noch zusätzlich die Rubine einarbeiten lassen.«
Ein knapper Einblick in Ketus Kopf zeigte Vitus, dass sein Wachmann zurzeit nicht in der Lage war, seinen Geist erfolgreich zu verschließen. So wurde ihm zuteil, dass Ketu in den feurigen Rubinen das Feuer in den Augen seiner Freundin sah.
Allerdings konnte nicht nur er Ketus Gedanken problemlos lesen. Auch Sentran nahm sie augenscheinlich wahr, bemerkte Vitus. Und so, wie Ketu jetzt gerade dreinschaute, wusste der wiederum darüber Bescheid, dass sowohl König als auch Wachkollege sein Denken belauschten. Deshalb machte Ketu insbesondere gegenüber Sentran ein bitterböses Gesicht.
»Ich habe deine Gedanken genauso erkennen können wie Sentran und wohl auch die anderen, Ketu«, gab Vitus ihm süffisant grinsend zu bedenken. »Übrigens, wenn du dir Loanas Verlobungsring näher anschaust, dann siehst du, dass ich deine Vorliebe für Rubine und Diamanten auf der Haut einer temperamentvollen Frau durchaus teile. Und jetzt guck nicht mehr so düster. Ich habe im Moment selbst Schwierigkeiten, mich immer völlig zu verschließen. Estra hatte letztens großen Spaß daran, meinen ständig zu weit offengelegten Geist zu durchforsten.« Er begegnete Ketus fragendem Blick mit nun todernstem Gesicht und erklärte: »Das sind die Frauen. Sie machen uns schwach und wir sind vollkommen machtlos dagegen.«
Loana, die gerade zurückkam, schnaubte bei Vitus’ Worten mit Anna und Viktoria um die Wette. Alle drei fingen daraufhin schallend an zu lachen. Es dauerte nicht lange und die Männer, selbst Sentran, fielen in das Gelächter ein.
***
Als es um Punkt zwölf läutete, öffnete Anna den restlichen vier Wachen die Haustür. Sie wusste, dass die Männer die königlichen Tagesgeschäfte den Beratern und rangniedrigeren Wachleuten im Schloss übergeben hatten, um auf Vitus’ Geheiß bei dessen Kindern zu erscheinen. Nun standen sie dort draußen vor der Tür. Allesamt riesengroß, dunkelhaarig, mit beeindruckend muskulösem Körperbau: Voltran, Annam, Timmun und Essem.
Der Blumenstrauß sah in Essems Hand trotz seiner gewaltigen Größe winzig und irgendwie fehl am Platze aus. Auch bei Voltran wirkte das in buntes Papier eingewickelte Päckchen unter seinem Arm völlig deplatziert. Vielleicht lag das an auch der düsteren Kleidung, überlegte Anna.
Die Männer traten ein, begrüßten natürlich zuerst Vitus mit einem Kopfnicken sowie dem obligatorischen »Mein König!« und nickten danach allen anderen zu.
Ketu und Sentran gesellten sich hinzu, ehe Voltran sich an die Zwillinge wandte: »Wir bedanken uns für die Einladung und gratulieren euch beiden ganz herzlich.«
Anna verkniff sich ein Kichern ob der Kürze der »Ansprache«. Voltran überreichte Viktor das Päckchen. Essem gab Viktoria die Blumen. Dankend nahm diese den Strauß an und suchte nach einer Vase, während Viktor wieder einmal ungeduldig am bunten Papier seines Geschenkes riss.
»Die neue Version vom Drachenjäger!« Viktor grinste Ketu an. »Das war bestimmt deine Idee, stimmt’s? Und so uneigennützig. Playstation spielen macht dir ganz schön viel Spaß, nicht wahr?«
Ketu nickte. »Sicher, ich hoffe, du lässt mich mal dran. Es war übrigens eine schwierige Suche nach dem richtigen Spiel, denn in dieser Sache hatten Viktoria und Anna mir nicht helfen können, aber das Internet und Jens.« Er warf Annas Bruder einen dankbaren Blick zu.
»Na, das ist ja schön, dass die Herren nun auch endlich mal erscheinen!«
Alle miteinander drehten sich zu der schrillen Stimme um, die messerscharf aus der Küche zu ihnen herübersauste. Mit hochrotem Kopf und Schweißperlen auf der Stirn stand der Koch Wonu leise vor sich hin schimpfend in der Küchentür.
Seine schwarzen Käferaugen blitzten die Wachmänner böse an, bevor er seine Meckerei fortsetzte: »Los, los, ihr Burschen! Heute stellt ihr mal unter Beweis, dass ihr nicht nur mit euren Muskeln spielen und noch mehr wie euer König essen könnt, sondern dass ihr auch in der Lage seid, den Tisch zu decken und nachher die Speisen aufzutragen. Also, auf geht’s! Hopp, hopp!«
Es gab schon ein drolliges Bild ab, wie der für Elfenverhältnisse ziemlich kleine Wonu die Meute von sechs Riesenelfen hin und her scheuchte, sie noch dazu ständig wie ein Rohrspatz beschimpfte. Die aber ließen das Ganze mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Sie halfen dem Koch, so gut sie es mit ihren ungelenken großen Händen eben konnten. Höchstwahrscheinlich wollten die es sich mit dem Koch nicht verscherzen, amüsierte sich Anna.
Dann saßen sie endlich an der Geburtstagsdinner-Tafel: Anna mit ihrer Familie samt Silvi, die Zwillinge, Vitus und Loana, Estra und Isinis samt ihren drei Kindern, die sechs Wachen und Wonu.
Zwar wischte sich der Koch weiterhin Schweißtropfen aus dem Gesicht, schien sich aber nach Annas Dafürhalten trotzdem diebisch zu freuen, weil es sich die ganze Geburtstagsgesellschaft offenkundig sehr gut schmecken ließ:
- Die feine Kartoffelcremesuppe mit Kräutersourecremeklecks, Cranberries und gebratenen Speckstreifen.
- Den Wintersalat mit ausgesuchten Blattsalatvariationen, Radieschensprossen, grünen Oliven, schwarzen Tomaten und Kräutern in einer delikaten Vinaigrette.
- Den Burgunderbraten in entsprechend fein abgestimmter Rotweinsoße mit karamellisiertem Weißweinmöhrengemüse, sautierten Pilzen im roten Schalottensud, winzig kleinen Semmelknödeln und zartgelber Butterpasta.
- Die fluffige Zitronenmousse.
- Die zartschmelzende Schokoladentarte mit flüssigem Kern.
- Den Früchtecocktail mit Sprizz zum Abschluss.
Anna verdrehte kaum merklich die Augen, als sie beobachtete, wie Wonus zufriedene Miene sich während des Essens allmählich verfinsterte. Und das, obwohl all seine exquisiten Speisen so regen Anklang fanden. Offenbar passte es ihm nicht, dass die menschlichen Dinner-Teilnehmer und auch Loana langsam, aber sicher zu schwächeln begannen.
Sie wusste ja, dass der Koch stets versuchte, Loana aufzupäppeln, weil diese seiner Meinung nach viel zu wenig aß, weswegen er sich ständig mit ihr zankte. Dass er sich allerdings auch an den Menschen samt ihren Schwierigkeiten mit den elfischen Essensmengen stören könnte, dafür brachte sie kein Verständnis auf.
Ein Blick in Viktorias Richtung ließ sie grinsen. Ketu hatte es tatsächlich geschafft, sie immer wieder auf ihren Sitz zurückzudrücken, wenn sie aufspringen und etwas holen oder zurechtrücken wollte.
So war es ein äußerst ausgiebiges, aber auch ruhiges und ausgesprochen schönes Mittagessen, obwohl insgesamt zweiundzwanzig Leute dicht gedrängt am Tisch saßen.
»Im Sommer lade ich dich hierher ein, Wonu. Da kannst du dich mal ausruhen und stattdessen Viktoria und mir beim Grillen zusehen.« Viktor schob sich genüsslich einen weiteren Löffel der Mousse in den Mund. Da der Koch ihn ratlos anstarrte, ergänzte er: »Die ganze Familie Nell hat Viktoria und mir einen riesigen Gasgrill geschenkt. Damit kann man draußen im Garten Fleisch und Gemüse braten. Das wird bestimmt super. Ich freu mich jetzt schon darauf. Vielen Dank, noch mal.«
»Ja, ähm, Dankeschön«, pflichtete Viktoria ihrem Bruder kleinlaut bei. »Vielleicht lässt Viktor mich ja auch mal an das Ding. Bis jetzt hab ich es nur aus der Ferne bewundern dürfen, so wie Viktor, Vater, Ketu, Johannes und Jens mit ihrer Fachsimpelei davor gestanden sind. Hhm.«
»Das ist doch der Sinn der ganzen Geschichte, du Dummerchen«, klärte Anna sie auf. »Wenn das Haus wieder mal von Leuten überquillt und die obendrein was zu essen brauchen, dann lässt du Viktor draußen grillen. Du kümmerst dich nur um Salat und Brot. Kein fettverspritztes Küchenchaos à la Vitus. Kein Kochstress. Alles ist gut.«
Vitus’ Miene verfinsterte sich, jedenfalls tat er so. Doch Loana hielt ihn zurück, ehe er den Mund für eine Bemerkung zu Annas Spitze aufmachen konnte.
Dafür hellte sich Viktorias Gesicht deutlich auf. »Das ist ja toll. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Deshalb hat nur Viktor diese Schürze samt alldem anderen Zeugs dazubekommen und ich das Salatbuch. Hey, das ist wirklich gut, danke!«, rief sie nun hocherfreut aus.
Nach dem Essen machten sie es sich mit Espresso im Wohnzimmer gemütlich. Nur der Koch war aus der Küche zu hören, wie er zwar lautstark, aber letzten Endes zufrieden brummend mit Töpfen, Tellern und Besteck klapperte.
Indes legte Anna schläfrig den Kopf an Viktors Schulter, während sie sich träge umblickte.
Loana war bereits zum vierten Mal auf der Toilette verschwunden.
»Sie sieht ein bisschen käsig aus. Ob sie krank ist?«
Doch da betrat Loana, ihr übliches Temperamt ausstrahlend, wieder das Wohnzimmer. Kurz darauf unterhielt sie sich mit Vitus, Theresa und Johannes über Theresas Mutter aus Ulm.
Jens fachsimpelte aufs Neue mit Ketu über den Grill, wobei Silvi Viktorias Schmuck bewunderte.
Panu hatte Bruder, Schwester und sogar seine Eltern, Estra und Isinis, dazu überreden können, in Viktors Zimmer eine Runde Playstation zu spielen.
Alle hatten Spaß, resümierte Anna. Nur Lena fühlte sich sichtlich unwohl inmitten der vielen Pärchen und der zusätzlichen Horde hünenhafter Wachelfen. Ohne Unterlass rührte sie in ihrem winzigen Espressotässchen herum. Dabei schielte sie in schöner Regelmäßigkeit zu den fünf Wachleuten, die sich, natürlich nur auf Vitus’ Geheiß, schweigend und mit verschränkten Armen auf den Esszimmerstühlen dazugesetzt hatten.
Anna konnte es gar nicht verhindern, in Lenas Gedanken einzutauchen. So erkannte sie, dass ihre Schwester angesichts dieser großen, etwas mürrischen Wachmänner zwischen Furcht, Verlegenheit und Aufregung hin- und herschwankte:
… Zuvor hatte Lena ja nur Ketu kennengelernt – und letztens Sentran. Sie erinnerte sich an das eigenartige Kribbeln im Nacken, das Sentrans Blick bei ihr verursacht hatte, als seine Silberaugen sie für einen winzigen Moment erfassten. Im Gegensatz zu den anderen war Sentran zwar hellhaarig. Doch auch er flößte ihr gehörigen Respekt ein mit seinem ernsten, attraktiven Gesicht und der enormen Größe. Besonders aber mit diesen muskulösen Armen und der breiten Brust, die sein enges schwarzes Shirt nicht zu verbergen vermochte. …
Anna registrierte, wie Lena sich Sentran gerade etwas näher besah, als dieser ihr plötzlich den Kopf zuwandte und sie mit seinen silbergrauen Augen förmlich durchbohrte. Hastig begutachtete Lena aufs Neue ihre kleine Tasse, wobei eine deutliche Röte in ihrem Gesicht aufzog.
»Arme Lena! Jetzt wird sie vor Schreck und Scham auch noch rot. Und sie weiß nicht, wie laut ihre Gedanken zurzeit sind. O je, wenn sie das alles wüsste, sie würde schreiend davonlaufen!«
Anna war natürlich nicht verwundert darüber, dass Viktor ihrer schwesterlichen Sorgen wegen feixte, obwohl sie diese gewissenhaft verborgen gehalten hatte. Er war fast immer dazu imstande, sie zu lesen. Doch als auch Sentran sie ansah und amüsiert einen Mundwinkel hochzog, konnte sie ihr Erstaunen kaum verbergen. Dieser neue sechste Mann passte wirklich gut ins Team, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf, natürlich wieder einmal so schnell, dass alle, die dazu in der Lage waren, es auch mitbekamen.
»Ach, menno, ich mach jetzt einfach meine Augen zu und denke an rein gar nichts mehr. Ich bin einfach viel zu müde, um mich zu konzentrieren. Schließlich sollen die nicht ständig alles mitkriegen, was ich so denke. Wie peinlich ist das denn?«
***
Jetzt konnte Sentran nicht mehr an sich halten. Er war es noch nicht gewohnt, wie seine anderen Wachkollegen mit stoischer Miene stundenlang einfach nur dazusitzen. Die komischen Gedanken dieser kleinen Menschenfrau Anna brachten ihn unweigerlich aus dem Konzept. Er musste einfach kurz auflachen, schaute dabei aber aus Verlegenheit anstatt in Annas weiterhin in Lenas Richtung.
Die wiederum schien das Ganze völlig falsch verstanden zu haben, bemerkte er. Sie dachte, er würde sich lustig darüber machen, dass sie rot geworden war. Wutentbrannt knallte sie die Tasse auf den Tisch, sprang aus dem Sessel und rannte hinaus.
Noch ehe die anderen im Raum überhaupt begreifen konnten, was da gerade geschah, huschte Sentran ihr nach. Er bekam gerade noch mit, wie sein König aufstand, ohne das Gespräch mit Annas Eltern zu unterbrechen, und mit einem Achselzucken die Wohnzimmertür kurzerhand hinter Sentran und Lena zumachte.
Im Hausflur wähnte sich Lena offenbar in Sicherheit, wurde allerdings kreidebleich vor Schreck, als Sentran sich in voller Größe vor ihr aufbaute. Wie in Zeitlupe sackte sie in sich zusammen.
»Du lieber Himmel!«, rief er aus und fing sie auf.
Völlig konfus, mit einer seinem Dafürhalten nach zerbrechlichen Menschenfrau im Arm, lief er zunächst hilflos hin und her, entschied sich dann hastig für das untere kleine Gästebad des Hauses. Dort kühlte er ihr mit etwas Wasser die Stirn, in der Hoffnung, sie käme dadurch wieder zur Besinnung.
Er hatte ja schon früher durchaus mit Menschen und deren Welt zu tun gehabt. Hatte sich während seiner Ausbildung dorthin begeben, den Führerschein gemacht, ein paar ihrer Gewohnheiten studiert. Aber nie war er einem Menschen so nahegekommen wie jetzt. Nie hatte er befürchten müssen, einen Menschen verletzt zu haben.
Besorgt hielt er das hübsche, zierliche Mädchen weiter in den Armen und atmete erleichtert auf, als es endlich die Augen aufschlug. Seine Erleichterung wich allerdings rasch schierem Entsetzen, da Lena bei seinem Anblick anfing zu schreien und zu strampeln.
Am liebsten hätte er sie fallenlassen und wäre auf- und davongelaufen. Dieses Wesen machte ihn gänzlich verrückt. Doch dann riss er sich zusammen. Sie anzublicken war jedoch auch nicht von Vorteil, denn diese grau-grünen Augen nahmen ihn direkt gefangen und raubten ihm den Atem.
Zu viel ist zu viel!, dachte er verzweifelt, stellte Lena vorsichtig auf ihre Füße, raufte sich die langen Haare und sah Lena noch einmal an. Sentran seufzte. So konnte er sie doch nicht stehenlassen, so blass um die Nase und wackelig auf den Beinen. »Soll ich dir vielleicht etwas zu trinken holen? Du bist weiß wie ein Laken.« Endlich hatte er wieder herausgefunden, wie man sprach.
Nach erneuter Musterung vernahm er zutiefst beruhigt ihre Gedanken, die ihm preisgaben, wie peinlich sie ihr Geschrei fand. Froh darüber, dass sie wieder denken konnte, meinte er: »Stimmt, du hättest wirklich nicht gleich schreien müssen.«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, stöhnte Lena. Immer noch wirkte sie ein bisschen kraftlos, so, als wäre ihr der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren. »Werde ich denn hier die ganze Zeit durchleuchtet wie beim Röntgenarzt?«
»Ich weiß nicht, was ein Röntgenarzt ist, Lena, aber ich will dich ganz sicher nicht durchleuchten. Das liegt mir fern. Nur bin ich es halt nicht gewohnt, so laute Gedanken zu hören.«
»Na toll!«, fauchte sie. »Jetzt gib ruhig noch mir die Schuld, du, du …«
»Du, was?« Er hob spöttisch die Brauen. Keinesfalls wollte er seine Erleichterung darüber zu erkennen geben, dass das Mädchen vor lauter Zorn nun wieder etwas Farbe hatte. »Sprich dich ruhig aus. Ich werde auch mein Möglichstes tun, um nicht wieder in deinen hübschen Kopf zu gucken. Notfalls halte ich mir Augen und Ohren zu. – Oh, zur Sicherheit wohl auch noch die Nase, hätte ich so viele Hände.«
Damit hatte er sie augenscheinlich provoziert, so plötzlich, wie ihr bisschen Farbe zu einem Puterrot wechselte. Mehr noch, sie holte weit mit dem Arm aus, offenkundig in der Absicht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Sentran jedoch griff sich ihre Hand derart blitzartig, dass Lena ihn verdutzt anstarrte.
»Das lässt du lieber bleiben«, kommentierte er kühl, beließ es jedoch dabei – fast. »Es geht dir unverkennbar besser.« Allmählich kehrte der reservierte Wachmann in ihm zurück. »Komm, wir gehen wieder ins Wohnzimmer.« Er lockerte seinen Griff und wollte sie mit sich ziehen.
Lena jedoch versuchte, sich ihm zu widersetzen. »Lass mich einfach in Ruhe und verschwinde aus meinem Dunstkreis, verflixt noch mal!«
Sentran spürte, wie eine immense Wut in und an ihr nagte, die nicht allein ihm galt. Er hatte Verständnis dafür, kannte er doch dieses Gefühl nur zu gut und nur zu tief. Interessiert musterte er sie genauer. War sie auch ein Stückchen größer als ihre Schwester, befand er sie dennoch für winzig klein. Jetzt, nachdem sie sich von Schock und Wut einigermaßen erholt hatte, schimmerte ihre Haut hell und zart. Ihr Haar war von einer eigenartigen Farbe, fast weiß, aber lang und glänzend, wie er es gerne mochte. Auch ihre Kleidung gefiel ihm: hautenge dunkle Jeans und ein grauer Pulli, der trotz des Rollkragens mehr von ihrer Figur preisgab als verhüllte.
Allerdings vermied er es, ihr ein weiteres Mal in die Augen oder auf den Mund zu schauen. Denn er bemerkte, wie sehr ihn das irritierte. Und wenn er eins nicht wollte, dann die Aussicht, sich noch einmal von einer Frau verunsichern zu lassen. Nein, er würde sich nie mehr mit einer Frau einlassen, die ihm den Kopf verdrehen könnte. Egal, ob Elfe oder Mensch.
»Komm«, wiederholte er sich, »sie machen sich schon Sorgen um dich«, und brachte sie zurück zu den anderen.