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4. Kapitel

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Während Corinna sich heute wieder durch die Straßen Westberlins auf ihren hohen Hacken vorwärts bewegte und ihre Blicke wie eine gönnerhafte Kokotte herumschweifen ließ, trat ihr plötzlich eine schmutzige Bettlerin mit ausgestreckter Hand in den Weg. Corinna, Armen gegenüber immer mildtätig gesinnt, öffnete sofort ihre Handtasche, entnahm dem prall gefüllten Portmonee einen großen Geldschein und überreichte ihn der Armen mit gefälligem Lächeln. Seit sie reich war, hatte sie Bettler immer reichlich beschenkt. Da kam voll ihre Großzügigkeit, die ihr eigen war, zur Geltung. Ohne sich zu bedanken, riss ihr die Bettlerin grob den Geldschein aus der Hand und blieb ihr auf den Fersen. Dieses Benehmen stieß Corinna furchtbar ab und brachte sie so in Rage, dass sie sich abrupt umdrehte und die Bettlerin anfuhr: Verschwinden Sie sofort! Ich hole die Polizei!

Als die Bettlerin das Wort Polizei hörte, floh sie mit ausgebreiteten Armen wie eine Krähe davon. Man müsste sich als Reiche große, bissige Hunde anschaffen, dachte Corinna in ihrer Wut, und sie an der Leine spazieren führen. Aber große Hunde mag ich nun mal nicht; vielmehr, ich fürchte mich schrecklich vor ihnen. Ich könnte nicht mit ihnen umgehen, dies liegt außer meiner Kompetenz. Nur wenig sollte man solchen unverschämten Leuten geben und nicht so einen großen Geldschein wie ich es immer tue. Vielleicht sollte ich mir dies überhaupt abgewöhnen. ich sollte mich umstellen und nicht so extrem vornehm aussehen. Aber bei einem solch elenden Auftreten vergeht mir jede Lust am Leben. Ich will schon etwas hermachen, etwas darstellen und Eindruck erwecken. So ist es schon immer gewesen, auch schon als Kind.

Die Filmaufnahmen rückten endlich näher. Corinna ließ sich beim Friseur und Kosmetiksalon herrichten und aufdonnern, bevor sie im Filmstudio erschien, wo sie vom Filmteam bereits erwartet wurde. Man konnte nicht umhin, bei ihrem Eintritt die elegante Dame zu beklatschen.

Der Regisseur sagte bei ihrer Ankunft: Es ist ja bekannt, dass Filmdiven immer zu spät kommen. Dies war doch schon so bei Marilyn Monroe.

Man lachte. Und als er spürte, sie wolle sich eventuell entschuldigen, fügte er noch schnell hinzu: Nein, nein!, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es ist alles in Ordnung.

Nun lasst uns, sagte er zur Crew, mit der Theorie beginnen, bevor wir dann morgen zur selben Stunde zur Praxis übergehen.

Man setzte sich an einen großen runden Tisch, wobei Corinna neben dem Regisseur zu sitzen kam. Sie bildete den strahlenden Mittelpunkt. Sie wurde von allen mit großen Augen angeschaut und begutachtet. Sie war ja für alle eine brandneue Schauspielerin, von der sie im Leben noch nie etwas gehört hatten, so, als wäre sie soeben vom Himmel gefallen. Deshalb erschien sie ihnen auch als Besonderheit, außer Frage. Alle wussten schon, sie würde die Hauptrolle spielen.

Dem Regisseur schaute sie heute vertraut, doch auch noch scheu in die Augen, sie kannte ihn ja im Grunde noch überhaupt nicht. Dennoch stand ihr Herz bereits in Flammen, fühlte sie. Ein Strohfeuer vielleicht? Nichts war voraussehbar.

Beim Abschied merkte sie, seine schwarzen Augen schauten sie liebevoll an, was sie erregte. Ich bin tatsächlich in ihn schon verliebt und wahrscheinlich auch er in mich, fühlte sie, als sie das Filmstudio wieder verließ. Liebe auf den ersten Blick womöglich, so wie Anna Karenina und Wronski das plötzliche Verliebtsein erlebten im Roman von Tolstoi? Aber hoffentlich wird unsere Liebe zueinander glücklicher werden als ihre, wünschte sich Corinna.

Am nächsten Tag fuhr sie zusammen mit der Crew in einem Kleinbus zur alten Schlossruine, wo man sich gemeinsam umsah, das dortige Panorama, die Lage, die Umgebung studierte und endlich auch das alte, heruntergekommene Schloss, in dem zwar der Mord an der weißen Dame nicht stattgefunden hatte, aber das sich für einen Gespensterfilm innen und außen bestens eignete. Beim Eintritt ins geheimnisvolle Schloss verbreitete sich sofort Angst und Schrecken unter der Crew wegen dem gespenstigen Knarren und Knirschen und Quietschen beim Öffnen von Türen und Begehen von Dielen und Treppen, die total abgelaufen waren, sodass sie mit größter Vorsicht betreten werden mussten. Man gab sich insgesamt laut in diesen alten Gemäuern, lachte aus Erregung viel zu laut und ein ums andere Mal sagte jemand: Das ist ja wirklich und tatsächlich ein Gespensterschloss wie in Grimms Märchen. Corinna trug noch dazu heute schon ein weißes halb langes Kleid, bis oben hin geschlossen, aber in der Taille schmal und geschnürt. Kein Totenhemd also. Erst bei Filmaufnahmen würde sie jenes Schreckensgewand überziehen müssen; und als jetzt die Türe knarzte und quietschte und Corinna plötzlich eintrat, rief man aus: Oh, die weiße Dame erscheint uns ja schon!

Leise, scheu und wie schwebend hatte sie das Gesellschaftszimmer betreten, wo sie sich inmitten der der Crew umsah. Ihre langen schönen goldblonden Locken wellten sich fast bis zur Taille herunter. Die ganze Crew nahm Corinnas Erscheinung mit großem Erstaunen wahr. Der Regisseur wurde offenbar von ihr so in Bann geschlagen, dass es ihm momentan die Stimme verschlug. Fast musste er nach Atem ringen, hatte Corinna das Gefühl. Und als er einmal abseits der Crew in ihrer Nähe stand, hörte sie ihn das liebe Wort „Schatz“ in ihre Richtung hauchen. Nein, sie hatte es nicht überhört. Sie fing dies süße Wort auf wie ein Frühlingserwachen.

Jeder konnte sich bereits jetzt ausmalen, dass dieser Film schon allein wegen Corinna Brombergs geheimnisvoller, phänomenaler Erscheinung einzigartig werden musste.

Alles passe wunderbar zusammen, betonte schließlich voller Zufriedenheit der Regisseur, und für kommende Filmaufnahmen sei man gerüstet, mit denen man schon morgen beginnen würde, wenn Kameramann, Tontechniker und entsprechende Aufnahmegeräte zur Verfügung stünden. Auch der Drehbuchautor und der Filmkomponist würden dann mitbestimmend auf den Film einwirken; dies sei sehr wichtig.

Nachdem man wieder im Filmstudio angekommen war, verzog sich die Crew sofort, nur der Regisseur trat noch schnell zu Corinna heran, gab ihr die Hand und bedankte sich, im Film mitzumachen und fragte geschickt: Haben Sie heute vielleicht noch Lust auf ein Gläschen Wein oder mit mir zum Abendessen zu gehen? Es würde mich aufrichtig freuen.

Ja, ich habe Zeit, sagte sie, denn sie wollte sich nichts entgehen lassen.

Sie konnte nicht absagen, nicht neinsagen zum geliebten Mann, sofern es sich vorläufig für sie nur um das Kennenlernen mit Rudolph handelte, der ihr Herz bereits bezwungen und sie erobert hatte binnen kürzester Zeit, was noch kein Mann vor ihm bei ihr fertiggebracht hatte. Mit dem Auto fuhren sie schnurstracks in den nächsten Stadtbezirk, wo der Regisseur, wie er ihr mitteilte, ein gutes Restaurant kannte. Er erzählte ihr unterwegs Witze, worüber sie laut lachen mussten, und später dann auch beim Abendessen. Gottlob gebrauchte er keine Zoten, nichts Zweideutiges, nichts Widerwärtiges, darüber sie sich nur gegrämt hätte. Wahrscheinlich hörte er Corinna gerne lachen, was wahrscheinlich sein Herz erfreute. Je besser sie den Regisseur kennenlernte, umso mehr wuchs er ihr ans Herz. Sie dachte insgeheim: Er scheint ein ironischer, aber gut gelaunter Mensch zu sein. Aber falls er mich hinterher nach dem Abendessen bäte, mitzukommen in sein Hotelzimmer oder in seine Berliner Wohnung, werde ich es strikt ablehnen. Das nahm sie sich vor und so geschah es auch, als er seinen dementsprechenden Wunsch äußerte, den sie erwartet hatte. Nein, ich kann nicht, ich habe heute noch etwas Wichtiges vor, sagte sie.

Sichtbar enttäuscht, wandte er sich von ihr ab, denn so etwas war ihm vermutlich während seiner beruflichen Laufbahn als Filmregisseur im Umgang mit Schauspielerinnen, so nahm sie an, noch nicht vorgekommen.

Corinna bestieg ein Taxi und fuhr sofort nachhause. Daheim malte sie sich weiß Gott für eine große Liebe mit ihm aus. Zufrieden mit sich, schlief sie ein.

Als sie morgens erwachte, dachte sie sofort an ihr erstes Auftreten in einem Spielfilm: Großartig!, meine erste Filmrolle im Leben wartet auf mich; ich werde alle überzeugen von meinem angeborenen Talent, meinem schauspielerischen Können und meine Karriere als Filmstar wird beginnen. Vielleicht bringe ich es sogar noch zu Weltruhm. Wer weiß?

Nach dem Frühstück suchte sie wieder den Friseur- und Kosmetiksalon auf, um sich toll herrichten zu lassen. Gestylt als Filmdiva erschien sie am Nachmittag im Filmstudio. Dort stieg sie mit der gesamten Crew in einen Kleinbus, um zur alten Schlossruine zu fahren, wo die Filmaufnahmen sofort stattfanden. Es sollte sich fortan dann über Wochen und Monate hinziehen. Immerfort gab es bei den Filmaufnahmen mühsame Wiederholungen, was Corinna nervte, denn der Regisseur strebte das Optimum und Maximum an. Corinna trug ein weißes leinenes Totenhemd mit aufgemalten Blutflecken, was erschütternd wirkte. Noch dazu musste sie unbedingt bei den Filmaufnahmen immerzu barfuß laufen, denn, so sagte man ihr: Gespenster tragen nun mal keine Schuhe.

Weil sie sich auch über das abgeschmackte Hemd mit den Blutflecken aufregte, schärfte ihr der Regisseur wiederholt ein: Gespenster gehen barfuß und tragen nur rohe Leinenhemden, mit denen man sie als Leichen ins Grab gelegt hat, merken Sie sich das, Frau Bromberg, denn Abgelebte, schon Heimgegangene sind Leichname, bei denen beim Tod alle Eitelkeit abfällt; sie fragen nicht mehr nach gutem Aussehen. Beinahe nackt und bloß werden sie in den Sarg gelegt, den man zunagelt und anschließend ins Grab senkt oder im Krematorium mitsamt der Leiche verbrennt. So geschieht es. Mit Toten wird zwar sehr pietätvoll aber im Allgemeinen nicht mehr so höflich umgegangen. Geschah einem Toten im Leben ein Leid, steigt manche Leiche nachts aus dem Grab, um ihrem Übeltäter zu erscheinen, um sich an ihm zu rächen und ihn zu strafen.

Sie, Corinna Bromberg, stellen im Film nicht mehr und nicht weniger so eine Leiche dar, die um Mitternacht bei Vollmond aus dem Grab heraufsteigt und der verdächtigen Schlossgesellschaft erscheint, um sie aufzuschrecken und zu verunsichern. Das ist Ihre Rolle, die Sie zu spielen haben, sagte er zu ihr. Da kommt es nicht mehr auf Schönheit an, sondern auf das Grauen und den Schrecken, den sie verbreiten sollen. Freilich Ihre goldnen Locken verlocken und geben den Anschein, als ob sie noch lebten. Ihr Gesicht ist auch viel zu glatt und hübsch, denn das der Leichen ist eigentlich bereits schrumpelig, halb vermodert, ja, eklig verfallen. Aber es ist ja nur ein Film und die Kinogänger wollen immer eine schöne und guterhaltene Leiche sehen, als würde sie wirklich noch unter uns weilen. Das ist es ja, und dies ist auch mein Zweck, denn je schöner Sie als Leiche sind, umso mehr Leute werden sich meinen Film demnächst anschauen, meinte der Regisseur.

Aber, entgegnete Corinna Bromberg, ist man denn ohne Schuhe eine Dame? Ich stelle doch die weiße Dame dar, nicht wahr.

Oh, gewiss, aber Sie sehen selbst ohne Schuhe wie eine große weiße Dame aus, glauben Sie mir, sagte er, das muss man Ihnen lassen. Das ist ein großes Kompliment, das ich Ihnen machen muss. Sie werden einen großen Triumph einfahren als weiße Dame im Film, davon bin ich überzeugt.

Immer nach den Filmaufnahmen trat der Regisseur an Corinna heran und bat sie flehentlich um ein Rendezvous, das sie jedes Mal strikt ablehnte, indem sie behauptete: Ich muss mich aufs Filmen konzentrieren, sonst wird das nichts werden, Herr Regisseur.

Was ihm allerdings nicht einleuchtete, aber er musste es ohne wenn und aber hinnehmen und akzeptieren. Corinna stellte für ihn allmählich eine Autoritätsperson dar, die ihren eigenen Kopf besaß.

Sie dachte bei sich: Gelegenheit macht Diebe, führt allerdings auch in Versuchung. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Da könnte ja jeder daherkommen und mich ansprechen. Wo käme man da hin? Mir ist Sex unwichtig. Ich bin keine solche. Ich habe ein Rückgrat in solchen Dingen. Ich bin nicht haltlos. Wenn es sein muss, dass er mir zu sehr zusetzt, kann ich auf Liebe ganz verzichten, so wie ich bisher Verzicht leisten und Opfer bringen musste, weil ich die Männer, die ich aus Profitgier heiratete, nicht liebte. Im Grunde gefiel mir keiner der drei Ehemänner so richtig. Alle ließen mich im Grunde kalt. Ich schauspielerte ihnen nur etwas vor, auch im Bett, so wie in einem Film sozusagen, was ja auch Bände spricht, dass ich für die Schauspielerei geboren bin.

Trotzdem sagte sie sich auch: Nach diesem Film werde ich mich wieder vom Filmgeschäft zurückziehen und meiner eigenen Wege gehen, denn die ganze Sache liegt mir doch nicht, sagt mir im Grunde nicht zu. Man hat offenbar bei dieser Filmkunst mit allmächtigen Regisseuren zu tun, die einem als Frau etwas anhaben wollen. Ich habe erfahren, es wird mir auf Dauer nicht behagen. Nur die große Neugierde trieb mich hin zu dieser Filmkunst. Jetzt allerdings bin ich geradezu entsetzt, wie mich alles um das Filmen herum langweilt. Mir tun die armen Leute, die in diesem Geschäft arbeiten müssen, total leid. Ich bewundere sie, dass sie es auf Dauer aushalten können.

Sie fuhr nach einem Stadtbummel zurück in ihr kleines Häuschen, das sie sich mit viel Fantasie nach ihrem Geschmack eingerichtet hatte. Alles dort atmete Wohlstand und Bequemlichkeit, wenn auch Einsamkeit.

Als der Film endlich fertiggestellt war und auch die Tonaufnahmen ruhten, wurde der Film durch Schnitte vervollständigt und fertiggestellt. Zwei Monate lang war man damit beschäftigt, bis er im kleinen Kino im Filmstudio erstmals uraufgeführt und auch Corinna Bromberg eingeladen wurde. Der Film begeisterte alle Anwesenden. Befriedigt feierte man den Erfolg bis tief in die Nacht hinein.

Bevor sich die Gesellschaft auflöste und Corinna das Filmstudio verließ, trat ihr noch der Regisseur in den Weg und sprach sie an: Corinna Bromberg, ich möchte Ihnen danken für Ihre Mitwirkung, Sie haben Ausgezeichnetes geleistet. Ein toller Film ist uns gelungen. Alle sind von Ihrer schauspielerischen Darstellungsweise und Leistung begeistert. Möchten Sie nicht wieder einmal mitspielen? Soll ich mich bei Ihnen melden, wenn ich wieder ein Filmprojekt ins Auge fasse? Bitte sagen Sie ja, ich verliere Sie ungern.

Nein, sagte sie, das möchte ich lieber nicht mehr.

Schade, meinte er. Aber darf ich Sie dann wenigstens hin und wieder treffen?, fragte Rudolph fast flehentlich. Corinna sah ihm seine große Enttäuschung an.

Das schon, sagte sie nach einer kurzen Pause, ich habe nichts dagegen.

Das freut mich sehr, brach es aus ihm heraus. Also werde ich Sie gelegentlich anrufen; dann können wir etwas ausmachen; denn ich möchte Sie nicht ganz aus den Augen verlieren. Ich glaube nämlich, wenn mich nicht alles täuscht, ich habe mich bereits in Sie verliebt.

Corinna lächelte bloß, aber sagte sonst nichts dazu.

Er hatte vermutlich schon längst gemerkt, dass auch sie Feuer gefangen hat.

Dann begleitete er sie noch außer Haus, wo sie sich hinter einem Baum zum ersten Mal küssten, bis ein Taxi kam und Corinna mitnahm.

Die weiße Dame

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