Читать книгу MISTY DEW 2 - Agnete C. Greeley - Страница 10
2. Kapitel
ОглавлениеStormy Mills
Während die Übereifrigen zu den Ausgängen stürmten, ließ Irene den gesamten Nachspann über sich ergehen. Elvis war immer eine Pause wert, fand sie. Außerdem konnte sie da ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Mel, ihre Freundin hatte ihr nämlich erzählt, dass ihr Exfreund John in Cedars in einer Kühltechnik-Firma zu arbeiten begonnen hatte. Mit dieser Neuigkeit konnte Irene nicht gut umgehen.
Melanie hatte an einem Charity-Rennen in Louisiana teilgenommen und war ihm dort zufällig begegnet. Falls es sowas wie Zufälle überhaupt gab, wenn es sich um John handelte. Irene wagte, das zu bezweifeln. Er war nicht dumm, hatte Ahnung von Computern und Recherche und hätte garantiert rausfinden können, dass Mel sich in La Fayette zu einem Charity-Pferderennen angemeldet hatte. Natürlich wollte Irene ihn nicht verdächtigen, aber seit sie ihrem Stalker in Wien, ihrer alten Heimat entkommen war, hatte ihr Misstrauen gegenüber Zufällen deutlich zugenommen. Es bestand eine geringe Wahrscheinlichkeit John in Cedars anzutreffen, denn die Stadt war riesig, dennoch hatte sich sofort ein beklommenes Gefühl in ihr breitgemacht. John war zuvor in New York gewesen, weit weg von Irene und ihrem neuen Leben, aber jetzt arbeitete er in Cedars, mitten im Mistydew County – eine Gegend, die er niemals besonders gemocht hatte.
Seufzend verließ sie den Filmsaal und trat in die Vorhalle des alten Kinos. Normalerweise hätte ein solcher Film sie entspannt, doch heute war es anders. Vermutlich lag es an den vielen Menschen, die sich hier herumtrieben.
Sie war so etwas von dem uralten Silverdime-Theatre nicht gewohnt.
Hierher verirrte man sich nur ganz selten. Es liefen immer alte Filme und das Kino, oder auch Theater war schon ziemlich abgehalftert. Irene war jedoch gerne da. Sie mochte den Charme des alten Gebäudes. Früher waren viele Künstler hier aufgetreten. Selbst William Cody, auch als Buffalo Bill bekannt, sollte irgendwann einen seiner Wildwest-Shows in diesem altehrwürdigen Gebäude veranstaltet haben. Danach hatte es als Filmtheater Verwendung gefunden.
Der Geruch der alten Mauern, von Zuckerwatte und Popcorn erinnerte Irene an ihre Kindheit. Doch heute konnte sie nicht richtig abschalten.
Eigentlich war Stormy Mills eine verschlafene, kleine Wildwest-Stadt, aber gerade jetzt war die Hölle los. Sie hatte nicht gewusst, dass dieses Dorf einen solchen Bekanntheitsgrad hatte. Beim näheren Umsehen stellte sie verwundert fest, dass sie nicht mal die Hälfte der Leute kannte.
Viele waren Anzugsträger. Damen in Abendkleidung schritten hocherhobenen Hauptes, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen durch die Kinohalle, in der man ein Buffet aufgebaut hatte. Merkwürdig, das war ihr zuvor gar nicht aufgefallen.
»Okay, der Film ist aus, ich sollte wohl gehen«, sprach sie zu sich selbst, wie um sich zu beruhigen. Konnte es tatsächlich sein, dass sie so in Gedanken gewesen war, dass sie den Aufwand nicht bemerkt hatte?
»Oh ja, das kann sein«, beantwortete sie ihre Frage selbst. Mit grimmiger Entschlossenheit steuerte sie auf den Ausgang zu. Nichts wie raus hier.
Als sie Shelby, die Enkeltochter des Kinobesitzers beim Ausgang des Saals mit einem Tablett voller Champagnergläser vorfand, hielt sie abrupt inne.
Heute trug Shelby ein buntes Minikleid im Fetzenlook und dazu hohe Cowboystiefel. Rosafarbiger Glitzer schimmerte auf ihren Augenlidern, und ein babyblauer Cowboyhut mit einer knallig roten Feder rundete ihre schillerndes Outfit ab. Irene lächelte amüsiert. Was für ein Aufwand, und dennoch so typisch für die junge Frau.
»Sieh mal einer an! Shelby Lucas. Heut ist aber ganz schön was los, oder?« Irene wies auf die beträchtliche Menschenmenge, die sich um einen behelfsmäßig aufgebauten Tresen sammelte.
Shelby grinste frech.
»Oh, hi, Tequila-Babe, wie läufts so in der Wildnis und wie viele Holzfäller hast du diesmal unter den Tisch gesoffen?«, rief sie mit ihrem breiten Akzent quer durch den Raum. Einige der Herrschaften blickten irritiert auf.
Shelby nannte sie Tequila-Babe, seit Irene mit ihr gemeinsam bei einer Weihnachtsfeier im Pub zwei Holzfäller unter den Tisch getrunken hatte. Eigentlich hatten sie damals ein wenig geschummelt, denn Holzfäller trank man nicht so rasch unter den Tisch, jedenfalls war es eine wilde Nacht gewesen.
»Naja, ich hab‘s in der Zwischenzeit mal mit Bikern versucht«, entgegnete Irene daraufhin trocken. »Und was bringt dich dazu, hier herumzustehen und einen auf Supervisor zu machen?«
Shelby machte eine abfällige Handbewegung.
»Die Familie, Schatz, was denn sonst? Heute sind ein paar hohe Herrschaften aus Cedars zu einem Abenteuertrip hierher aufgebrochen.« Sie verdrehte die Augen.
»Natürlich haben die sich viel zu spät angemeldet, sie hätten in Shannon unterkommen sollen, so mit Rafting Tour und Minenbesichtigung.« Abfällig verzog sie ihren Mund. »Doch dort gab’s einen Wasserrohrbruch im Hotel, also wurden sie hierher umgesiedelt.« Sie grinste spitzbübisch.
Während sie das Tablett herumreichte, sprach sie weiter.
»Und nun sind wir dabei, sie zu unterhalten. Dabei wollte ich doch heute nach Kanada zum Schifahren«, sie zuckte bedauernd mit den Achseln. »Doch wie du siehst ...«
Irene lachte. Shelby war alles, doch keinesfalls eine Schifahrerin. Das war halt ihre Art von Humor.
»Okay, also ein Firmenausflug. Fantastisch. Da habt ihr wohl genügend zu tun.«
»Oh ja.« Shelby rollte vielsagend mit den Augen, ehe sie auch Irene das Tablett unter die Nase hielt.
»Na los, nimm dir auch ein Glas.«
Irene war unschlüssig.
»Na komm schon, geht heute aufs Haus.« Aufmunternd sah sie Irene an, die schließlich und endlich den Kopf schüttelte.
»Nein, danke«, sagte sie bedauernd. »Lieber nicht. Ich muss noch fahren und du weißt doch, wie es mit den Straßen hier so ist.«
Shelby nickte wissend.
»Ja, die Straßen hinauf in dein Paradies.« Das letzte Wort betonend, lächelte sie anzüglich.
»Hm, wie geht es eigentlich deinem hübschen, ewig besorgten Cowboy?«
Irene tat, als ob sie nicht genau wusste, wen Shelby damit meinte.
»Welchem denn? Den geheimnisvollen großen Kerl mit den dunklen Haaren und dem tiefgründigen Blick oder das sexy Greenhorn mit dem Knackarsch und dem James Dean Image?«
Shelby schüttelte wild mit dem Kopf.
»Ach du Scheiße, fast hätte ich’s vergessen. Du hast ja jetzt zwei im Team.«
Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, vorwurfsvoll zu klingen.
»Eigentlich unfair. Ich muss hier mit Daddy und Bruderherz herumhängen, während du gleich zwei Prachtexemplare in deinem eigenen Bestand hast. Ich frage dich, wo bleibt da nur die Gerechtigkeit.«
Irene lachte.
»Schon gut, schon gut. Ich werd Matt schöne Grüße ausrichten.«
»Ja, tu das! Und er soll sich gefälligst mal wieder hier unten blicken lassen.«
»Sag ich ihm, Shelby. Alles klar.« Sie warf einen letzten Blick auf die unzähligen Menschen, die sich mittlerweile zu kleinen Grüppchen zusammengeschlossen hatten und sich gedämpft unterhielten. Höchste Zeit zu gehen.
»Viel Spaß noch«, rief sie, ehe sie rasch durch die Glastür hinaus in den kühlen Abend entschwand.
Im Freien traf sie auf die nächste unangenehme Überraschung.
Große, dicke Schneeflocken segelten leise vom inzwischen dunklen Himmel und kühler Wind ließ sie frösteln.
»So ein Mist!« Das konnte einfach nicht wahr sein! Als sie das Kino betreten hatte, war der Himmel doch klar gewesen!
Rasch stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch, doch der kalte Wind drang erbarmungslos durch den Stoff hindurch. Einen Moment bedauerte sie, sich nicht ihre Daunenjacke mit der kuscheligen Kapuze angezogen zu haben, doch heute bei Melanie in Pinedale hatte die Sonne vom herbstlich-milden Himmel gestrahlt. Es hatte keinerlei Anzeichen für Schnee gegeben. Nun ja, nicht direkt. Bis auf die Prophezeihung von Askuwheteau. Außerdem hatte man sich in Pinedale bereits auf Regen eingestellt. Mit einem solchen Wetterumschwung äatte sie dennoch nicht gerechnet.
»Das darf einfach nicht wahr sein«, stöhnte Irene leise, während sie in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel wühlte, der sich ausgerechnet jetzt gut versteckt hatte. Dann endlich fand sie ihn. Erleichtert zog sie ihn hervor und steuerte auf ihr Auto zu.
Wenn sie sich beeilte, konnte sie die Strecke heimwärts schaffen, ehe die Straßen unpassierbar wurden.
Eine Schneeflocke trübte kurzfristig ihre Sicht und sie wischte sie mit einer unwilligen Handbewegung weg. Die Straße schimmerte bereits feucht.
Da Irene kaum auf den schmierigen Bürgersteig achtete, passierte das Unvermeidliche. Die glatten Sohlen ihrer Cowboystiefel rutschten unter ihr weg.
Es gelang Irene nicht mehr, den Sturz zu verhindern. Hart plumpste sie auf ihren Po.
»Au, das hat sicher wehgetan.«
Überrascht hob Irene den Kopf und starrte auf die Gestalt in Jeans und Lederjacke, die sich schwungvoll von einem großen Jeep abstieß und auf sie zuschlenderte.
Julian in Stormy Mills – fantastisch.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«, blaffte sie. Der hatte ihr noch gefehlt!
»Glücklicherweise hab ich mit dem schon lange nichts mehr am Hut«, antwortete er lässig. »Na komm. Hoch mit dir.«
Ehe Irene es sich versah, hatte er seine Hände unter ihre Achseln geschoben und sie auf die Beine gehievt.
Noch etwas wackelig hielt sie sich an ihm fest, während sie versuchte, ihr Gleichgewicht komplett wiederzuerlangen.
»Ich brauche keinen Babysitter«, murrte sie verdrossen.
»Danke, Julian, gern geschehen – wie schön das du da bist, um mich nachhause zu begleiten«, säuselte er mit übertriebener Stimme.
Irene atmete hörbar aus.
»Okay, Julian. Danke, aber was soll das? Ich dachte, ihr bleibt auf der lauschigen Ranch und wartet darauf, dass ich mich in Schwierigkeiten begebe.«
Julian grinste.
»Ach, Matt dachte, einer von uns solle lieber hierherkommen, bevor du dich in Schwierigkeiten begibst«, antwortete er, von ihrem Tonfall unbeeindruckt.
»Ach, der«, hastig wischte sie sich hinten über die feuchte Jeans. Schmerzverzerrt zuckte sie zusammen.
»Aua.« Das würde Morgen bestimmt einen anständigen blauen Fleck geben. Als sie endgültig ihre Balance wiedergefunden hatte, stemmte sie die Hände demonstrativ in die Hüften.
»Okay, und was hast du jetzt vor, du Angeber?«
Die Schneeflocken lieferten sich in der Zwischenzeit ein herrliches Intermezzo mit dem kalten Wind. Irenes Gesicht wurde schon taub von der Kälte, doch um nichts in der Welt würde sie das zugeben.
»Ganz einfach. Ich bin hier um dich nachhause zu begleiten. Schmeiß dich in deinen RAV und nichts wie heimwärts. Ich fahre vor und du folgst mir.«
»Glaubst du tatsächlich, dass ich einen Guide zurück zu meiner Ranch brauche?«, erwiderte sie erbost.
»Hör zu.« Julian hatte keine Lust auf Diskussionen. »Du wolltest in die Stadt, obwohl du genau gewusst hast, dass ein Unwetter kommt, und dann wäre da noch die Sache mit den Schneeketten.« Er zuckte mit den Schultern.
»Klar könntest du auch alleine zurück, aber das wird nicht passieren, wenn du von der Straße abkommst, also sei ruhig und steig endlich ein.« Er dachte wieder an das verschwundene Pärchen, doch erwähnte es nicht.
»Na gut.« Irene seufzte ergeben. Sie war auf einmal nicht mehr in der Stimmung zu diskutieren. Die Geschichten von Mel über ihren Ex, das übervolle Kino. Nein, eigentlich wollte sie nur mehr nachhause.
»Schon gut« sie nickte ergeben.
»Dann lass uns mal losfahren. Eigentlich freu ich mich schon auf ein warmes Bad und ein Glas Rotwein.« Julian musterte sie abwartend, also sprach sie weiter.
»Der Tag war einfach blöd. Ich hab wieder Neuigkeiten wegen meines Ex, die mich nicht gerade glücklich machen. Er hat ja Mel in Lafayette aufgelauert, oder wie auch immer man das nennen kann.« Sie seufzte schwer. »Na, jedenfalls hat sie mir heute die ganze Story von ihrem unglücklichen Aufeinandertreffen geschildert und jetzt bin ich wütend.«, sie winkte verächtlich ab.
»Gut, ich geb‘s zu, ich kann es nicht ausstehen, wenn er auf meine Freunde trifft. Außerdem glaube ich, dass er absichtlich dort aufgetaucht ist, nur um mich auf die Palme zu bringen. Also bin ich eben ins Kino gehüpft, um mich abzulenken. John macht immer Ärger, ganz besonders wenn er auf meine Freunde trifft.« Als ihr bewusst wurde, wem sie hier ihre Probleme erzählte, beschloss sie, das Thema zu wechseln.
»Egal, wir sollten fahren, ehe es schlimmer wird«, sie vermied tunlichst, Julian anzusehen. Sich über John so auszulassen, war ihr unangenehm.
»Matt wird sicher nervös, wenn wir nicht bald auf Eagleside sind.«
Julian zog die Augenbrauen hoch. Ihre Absicht abzulenken, hatte er sofort durchschaut, doch er ging nicht weiter darauf ein.
»Okay, dann mal los.«
Erleichtert ließ Irene sich auf ihren Fahrersitz nieder, während Julian in den großen Jeep stieg.
Kurz darauf verließen sie mit mäßiger Geschwindigkeit das Städtchen.
Julian fuhr mit geringem Tempo. Er wollte nicht riskieren, dass sie in Schwierigkeiten gerieten, denn die Straßen begannen, rutschig zu werden. Außerdem wurde es dunkel. Die Kombination hatte schon vielen Menschen Ärger bereitet.
Das Schneegestöber hatte an Stärke zugenommen und die angrenzenden Felder funkelten verräterisch weiß. Nicht mehr lange, und der Schnee würde das Mistydew County komplett in eine Winterlandschaft verwandelt haben.
Kaum hatten sie die beleuchtete Mainstreet hinter sich gelassen, empfing sie der dunkle, nassschimmernde Highway.
Irene verlangsamte automatisch ihr Tempo, während Julian gleichmäßig weiterfuhr. Die Rücklichter des großen Jeeps verschwammen vor ihr in dicht wirbelnden Schneeflocken. Bald konnte sie sie nicht mehr erkennen und beschleunigte unruhig. Leichte Panik ergriff von ihr Besitz.
Verdammt noch mal, konnte Julian nicht ein bisschen langsamer fahren?
Um nicht alleine in dieser Einöde zurückzubleiben, beschleunigte Irene ein wenig.
»Bitte, bitte warte auf mich«, flehte sie leise, doch sie nahm nur mehr schemenhaft die roten Lichter vor ihr wahr.
Ihr Tempo weiterhin erhöhend, versuchte sie, den Abstand zu dem Jeep zu verringern. Sofort spürte sie ein Rutschen der Reifen. Nein, bitte nicht ... Irene hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, und zwang sich dazu, nicht noch schneller zu werden.
Der Wagen schlenkerte ein bisschen, doch es gelang ihr, ihn auf der Straße zu halten.
Ruhig, Irene, sprach sie sich in Gedanken Mut zu – du kennst dich hier aus, nchts wird passieren.
Erleichtert nahm sie erneut die Rücklichter des Jeeps vor ihr wahr, und atmete auf. Gott sei Dank.
Aus Angst alleine in der Wildnis zurückzubleiben, klebte sie eine Zeitlang förmlich an seiner Stoßstange. Inzwischen war sie heilfroh darüber, nicht alleine unterwegs zu sein. Sie wusste nicht, weshalb sie so empfand, denn sie war schon so oft auf dieser Strecke gewesen. Ob es daran lag, dass zwei Menschen spurlos verschwunden waren? Immerhin war so etwas schon länger nicht passiert.
Als die Parkranger vor ein paar Tagen zur Ranch hochgekommen waren, um eine Warnung gegen eventuelle Tierangriffe auszusprechen, hatte sie es kaum glauben können. Selbst die Ranger schienen ob der ungewohnten Situation unsicher, doch scheinbar hatten sie Spuren gefunden, die auf Wildtiere hindeuteten. Während sie darüber nachgrübelte, wann zum letzten Mal die Rede von einem Wildtierangriff gewesen war, folgte sie dem Jeep in das erste Waldstück auf der Strecke. Von einem Moment auf den anderen wurde sie förmlich von der Dunkelheit verschluckt.
Die Umrisse der Bäume links und rechts neben der Straße, hoben sich nurmehr schemenhaft gegen das weiße Gestöber ab. Mit einem Mal wirkte die Fahrbahn zu schmal. Zu schmal und gewunden.
Als der Jeep sich erneut von Irene entfernte, wuchs ihre Panik an.
Nein, bloß nicht Julian aus den Augen verlieren! Ängstlich stieg sie aufs Gas.
Zuviel; dachte sie noch. Da war es bereits zu spät.
Sie fühlte, wie die Reifen durchdrehten und beging einen weiteren Fehler. Instinktiv trat sie auf die Bremse. Zu spät – schrie sie innerlich. Zu spät.
Der Wagen schlitterte wild über die schmale Straße. Hektisch versuchte die Frau gegenzusteuern, doch die Reifen griffen nicht mehr auf der rutschigen Fahrbahn und der Toyota drehte sich unkontrolliert um seine Achse.
Irene verlor vollends die Kontrolle über den Wagen und schleuderte seitlich von der Straße in den Graben am Rand des Waldes. Erschrocken schrie sie auf und kniff die Augen zu.
Lass da kein Baum sein, bitte, bitte lass da kein Baum sein, betete sie im Stillen.
Knirschend ratterte das Auto durch Schnee und Laub, ehe es mit einem kräftigen Ruck stehenblieb.
Irene stieß mit dem Kopf unsanft gegen das Lenkrad und dann war es endlich vorbei.
Das Nächste, was sie wahrnahm, waren ihre zittrigen Hände, die noch auf dem Lenkrad ruhten. Ihr Kopf dröhnte und das Blut rauschte in den Ohren. Vorsichtig atmete sie ein und aus, um die kleinen schwarzen Punkte vor ihren Augen zu vertreiben.
Bis auf die Scheinwerfer, deren trübes Licht einige Bäume unweit vor ihr erhellten, war es um sie herum stockfinster.
Irene konnte das Rütteln des Windes spüren, während sie wie betäubt auf die dichten Schneeflocken starrte, die um den RAV herumwirbelten.
Ich lebe noch, dache sie. Benommen versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Wieso war sie bloß in die Stadt gefahren? Es hätte ihr bewusst sein sollen, dass Askuwheteau Recht behalten würde. Das tat er eigentlich immer.
Erst als jemand am Türgriff rüttelte, hob sie den Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass es Julian war. Gleich darauf hörte sie das kalte Knirschen des Schnees, als er endlich die Tür aufstemmte.
So viel Schnee in so kurzer Zeit.
»Irene, bist du verletzt?« Die Eindringlichkeit seiner Worte riss sie aus ihrer Benommenheit.
»Ich – glaube nicht.«
Mit zittrigen Fingern fummelte sie an ihrem Gurt herum, doch sie bekam den Schalter, der ihn lösen sollte, nicht richtig zu fassen.
»Verflixter Gurt. Er – ich kann ihn nicht ...«
Julian beugte sich über sie und löste die Sperre mit einem Handgriff. Behutsam zog er sie hoch und half ihr aus den Wagen. Erst als sie im Schnee stand, konnte sie seine Hände spüren, die ihre Schultern fest umklammerten.
»Hey, sieh mich an.« Seine Stimme klang eindringlich und er hob ihr Kinn an.
»Irene, sieh mich an, ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich denke schon«, krächzte sie endlich. Ihre Knie drohten unter ihr nachzugeben und sie verspürte eine leichte Übelkeit, doch irgendwie wusste sie, dass sie nicht verletzt war. Zumindest nicht schwer.
»Ich hab nichts«, versicherte sie Julian schwach.
Er berührte behutsam ihre Stirn, auf der sich bereits der Ansatz einer Beule abzeichnete.
»Du hast dir den Kopf gestoßen.«
Irene zuckte leicht zusammen.
»Oh, hab ich – gar nicht bemerkt.« Verwirrt starrte sie in seine grünen Augen, in denen sich seine Sorge widerspiegelte.
»Ja, das seh ich.«
Er wandte sich ab und zog den Schlüssel aus dem Schloss ihres RAV, ehe er nach ihrer Tasche griff und sie ihr hinhielt. Automatisch nahm sie die Tasche entgegen und hängte sie sich um.
»Komm, dein Auto bleibt erstmal hier.« Er schloss die Fahrertür und sperrte zu. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, griff auf Irene über und sie nickte nur. Das klang irgendwie vernünftig.
Dann hörten beide gleichzeitig dieses Geräusch. Es fiel ihnen deswegen auf, weil es nicht hierher passte. Zuerst klang es wie das Jaulen eines verletzten Tieres, ehe es in ein hohles Knurren überging. In diesem Ton verbarg sich rohe Wildheit.
»Was – ist das?« Ihre Stimme zitterte und übertrug sich auf ihren Körper. Immer noch vom Unfall benommen, stierte sie entsetzt in die Dunkelheit der Baumgruppe hinter ihr. Eine frostig kalte Klammer legte sich um ihr Herz. Bewegte sich da etwas zwischen den Bäumen?
Ja, jemand – etwas starrte sie an. Irene konnte förmlich die Gegenwart eines fremden Wesens spüren. Im Dunkeln lauernd – gefährlich – Ein Jäger.
Die Luft um sie herum wirkte mit einem Mal eingefroren. Eine unheilvolle Atmosphäre ruhte über der gesamten Gegend.
Bis auf das hohle Jaulen und dem eisigen Wind schienen sämtliche natürlichen Geräusche um sie herum verstummt.
»Was zum Teufel«, Julian fuhr herum und durchbohrte mit seinem Blick die nähere Umgebung. Auch er konnte die Stimmung wahrnehmen, die sich über den einsamen Ort inmitten dem Mistydew Forest gelegt hatte und sie gefiel ihm nicht. Durch den dichten Schnee konnte er schemenhaft die hohen Bäume erkennen, die in einiger Entfernung eine undurchdringliche Wand bildeten. Bewegte sich dort zwischen den Bäumen etwas?
An der Stelle auf seinen Oberarm, wo sich das Tattoo befand, konnte er ein leichtes Brennen wahrnehmen. Das drohende Unheil war greifbar. Da draußen lauerte etwas. Etwas, dessen kalte Bösartigkeit sämtliche Lebewesen, auch die größten, vor Furcht erstarren ließ.
Ein kalter Lufthauch strich über Irene hinweg. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Gefahr, dachte sie. Der Ort schien von etwas Unnatürlichem beherrscht. Instinktiv klammerte sie sich an Julians Arm.
Er fluchte leise. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht. Hier lief etwas völlig falsch. Die gesamte Atmosphäre war erfüllt von erdrückender, bösartiger Kraft. Unbewusst tastete er nach seinem Colt, den er seit geraumer Zeit wieder mit sich herumtrug. Das Gefühl des schweren Metalls an seiner Hüfte trug dazu bei, seine Gedanken zu klären. In dem Moment wich das durchdringende Jaulen einem sanften Gesang. Worte einer unbekannten Sprache drangen von allen Seiten auf die beiden Menschen ein und durchfloss zart ihre Seelen.
Die Ahnung eines Grauens erfasste Irene mit weicher, dunkler Intensität. Es war überall um sie herum. In der Luft, in der gesamten Atmosphäre – es war ein Teil des Ganzen und tastete sich an sie heran.
Wie versteinert starrte sie in den, vom wilden Tanz der Schneeflocken getrübten Wald. Dort lauerte es. Etwas Mächtiges, Grausames – ganz in ihrer Nähe. Flüchtige Bilder zweier junger Menschen schlichen sich in ihr Bewusstsein. Die beiden Vermissten. Hier bei Bitteroot Creek hatte die Polizei den Wagen gefunden. Dumpfe Angst machte sich in ihrem Inneren breit.
Sie ließ zu, dass das Grauen ihre Seele durchfloss, spürte die übermächtige Gier, die ihr aus der Düsternis des Waldes entgegenschlug.
Lange genug war sie in der Wildnis zuhause gewesen, genügend Zeit um eine reale Bedrohung instinktiv zu erkennen.
Es jagt uns, dachte sie. Wir sind Beute.
Unfähig sich zu widersetzen, ließ sie sich von der Angst einhüllen.
Irenes Griff um Julians Arm verstärkte sich unmerklich. Wir müssen hier weg.
Julian dachte ähnlich. Seine Sinne liefen auf Hochtouren. Das war nicht normal. All seine Instinkte rieten zur Flucht. Das Tattoo auf seinem Oberarm prickelte, als würden sich hauchdünne Nadeln in seine Haut bohren.
Das Böse. Er kannte das Gefühl. Auch ohne sein Tattoo wusste er um die Bedrohung.
Schemenhaft erhob sich etwas zwischen den Bäumen. Es schwankte, ungelenk, schlaksig, fast wie ein Betrunkener, doch Julian wusste, das hier war kein Mensch. Innerlich wurde er eiskalt und hochkonzentriert.
»Es will töten«, flüsterte Irene. Sie vermochte sich kaum zu rühren.
Eigenartig, wieso sagte sie sowas? Der Unfall, sicher, der war schuld daran. Sie war verwirrt, stand unter Schock.
Ja, ich stehe unter Schock, bestimmt.
»Okay, komm, ich bring dich zum Jeep.« Die Worte kamen tonlos, von kalter Ruhe erfüllt. Doch Julian hatte alle Mühe ruhig zu bleiben.
Irene nickte benommen.
Kurzerhand schloss Julian seinen Arm um ihre Hüfte und trieb sie vorsichtig an.
»Los, lass uns von hier verschwinden.« Er wusste nicht, was da auf sie lauerte, doch er spürte, dass sie sich beeilen mussten. Falls die Kreatur sich dazu entschloss, sich auf sie zu stürzen, würden sie keine Zeit haben, zu verschwinden. Eisige Schauer rieselten über seinen Rücken, als der Singsang erneut zu einem Jaulen überwechselte. Näherte es sich?
Wir müssen schnell sein, aber wir können nicht laufen, schoss es ihm durch den Kopf.
Würden sie losrennen, was anhand Irenes Zustand sowieso nicht funktionierte, wären sie die flüchtenden Opfer und würden den Jagdtrieb dieser Kreatur vermutlich steigern.
Irene war benommen. Vermutlich hatte sie mehr abbekommen, als sie dachten, also durfte sie im Augenblick nicht erkennen, womit sie es hier zu tun hatten. Denn eines war sich Julian gewiss: Das hier war kein blutrünstiger Bär, es war auf keinen Fall ein normales Tier.
Sein Tattoo kribbelte erneut und all seine Sinne waren hellwach. Wenn Irene jetzt hysterisch wurde, waren sie verloren.
»Okay, Kleines, komm. Wir gehen zum Jeep zurück. Ich helfe dir«, sagte er so sanft, wie möglich. Irene traute im Augenblick ihrer Stimme und ihren Sinnen nicht genug, um zu sprechen, also nickte sie stumm.
»Es ist besser, wenn wir wieder in die Stadt fahren.« Er sah sich rasch um, während er Irene vorsichtig zurück Richtung Straße geleitete.
»Schön langsam.«
Julians gefasste Art besänftigte sie eigenartigerweise.
Das Schneetreiben schien indes zuzunehmen. Julian wagte erneut einen kurzen Blick zurück, doch die dichten Flocken nahmen ihm die Sicht.
War es näher gekommen? Für einen Sekundenbruchteil schloss er die Augen. Nein, nur nicht daran denken – einfach weitergehen.
Es war nicht weit, dennoch kam Julian die Strecke wie eine Ewigkeit vor. Es kostete ihn alle Mühe, nicht loszustürmen. Diese Kreatur würde sofort zuschlagen, wenn sie losrannten. Opfer rannten immer, Raubtiere jagten stets fliehendes Wild.
Er atmete vorsichtig aus. In wenigen Sekunden nur würden sie da sein. Die Straße war gleich hier. Der Jeep stand oben, und der Motor lief noch.
Gut, dachte er. Sehr gut. Wir schaffen das.
Irene lehnte mit ihrem gesamten Gewicht auf ihn, während er ihr über die Böschung durch den tiefen Schnee hinauf auf die nasse Straße half. Er hielt sie so fest, er konnte. Wenn sie ihm entglitt, oder wenn der Schrecken des Unfalls, der sie garantiert noch in ihrem Bann hielt, verging, dann würde sie realisieren, dass hier etwas passierte, was nichts mit Normalität zu tun hatte und sie würde durchdrehen.
Nur ruhig bleiben. Keine hastigen Bewegungen, keine Panik.
Entfernt spürte Irene die Kälte, die durch alle Schichten ihrer Kleidung drang. In ihrem Hinterkopf bildete sich der logische Gedanke, das ihr Adrenalin nach dem Unfall langsam verpuffte, weswegen sie zu frieren begann. Komisch, wie klar ihr Bewusstsein auf einmal war.
Ich denke, aber ich bin nicht wirklich hier.
Erleichtert erkannte Julian den Jeep. Die Scheinwerfer durchdrangen die unmittelbare Düsternis der Straße.
Nur noch ein paar Schritte. Das seltsame Jaulen war verstummt, oder verschluckte der erneut aufkommende Wind sämtliche Geräusche? Julian wollte es nicht wirklich wissen.
Als er endlich die Beifahrertür für Irene öffnen konnte, ließ sie sich apathisch auf den Sitz sinken.
Sie ließ zu, dass Julian ihr den Gurt anlegte und ihr eine Jacke, die er vom Rücksitz klaubte, über die Beine breitete. Rasch warf er die Tür zu. Julian wagte einen weiteren Blick über die Schulter zurück in die düstere Schneelandschaft, ehe er blitzartig um das Auto herum fegte und die Fahrertür aufriss. Rasch warf er sich auf den Sitz und verriegelte die Türen von innen.
Julian nahm sich nicht die Zeit, sich anzugurten, sondern legte sofort den Gang ein. Keinen Moment zu früh!
Ein hässliches Schleifen direkt neben der Beifahrertür riss Irene aus ihrer Lethargie und sie fuhr heftig zusammen.
Automatisch blickte sie zum Fenster hinaus. Sie konnte gar nicht anders. Es war wie ein innerer Zwang.
Die Seitenscheibe beschlug sich, doch Irene vermeinte, einen schemenhaften hohen Schatten dahinter zu erkennen.
Eine verschwommene Fratze, verzerrt durch den kalten Dunst aus Schnee und Nebel, schien sie für den Bruchteil einer Sekunde anzustarren.
Eine Kälte, die von innen her rührte, ließ sie frösteln.
Hastig rieb sie sich über die Augen, blinzelte.
Nein, ist nicht richtig. Kann nicht sein.
Ihre Fantasie hatte ihr sicher einen Streich gespielt. Sie war gerade mit dem Auto von der Straße abgekommen. Sie hatte sich den Kopf angeschlagen.
Ich hab mir den Kopf gestoßen, daran liegt es, dachte sie.
Sie öffnete erneut die Augen, starrte auf die beschlagene Scheibe. Nichts – da war gar nichts.
Nur Schnee. Es stürmt, das ist ganz normal.
Sie atmete hastig und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Nur nicht nachdenken, du stehst noch unter Schock. Alles ist in Ordnung.
Plötzlich prasselte hartes Eis gegen die Scheibe und etwas Schweres traf die Beifahrerseite. Das Auto wurde heftig durchgerüttelt, und Irene schrie auf, während sie sich auf dem Armaturenbrett abstützte.
»Verfluchte Scheiße!« Julian nahm sich nicht die Zeit, in den Rückspiegel zu sehen.
Wie eine Masse aus Eis und Schnee wischte etwas Schweres an dem Auto vorbei.
Was es genau war, würden sie nicht mehr herausfinden, denn Julian stieg aufs Gas.
Die Reifen drehten sofort auf dem schmierigen Asphalt durch, der Motor heulte laut auf, doch Julian ließ nicht nach! Er betätigte weiterhin dosiert das Gas, bis er spürte, dass die Reifen endlich griffen. Im gleichen Atemzug schlug Julian mit dem Lenkrad ein, und ergriff die Handbremse. Irene schrie vor Schreck, als der Wagen sich um hundertachtzig Grad drehte und über die schmierige Straße driftete. Panisch klammerte sie sich an den Sitz und schloss die Augen.
Erst als ihr bewusst wurde, dass sie nicht irgendwo gegen einen Baum gekracht – oder über die Böschung gestürzt waren, öffnete sie die Augen wieder.
Sie war kaum in der Lage, Erleichterung zu empfinden, denn ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Was passierte gerade? Oder besser gesagt, was WAR gerade passiert?
Julian lenkte das Auto trotz des beträchtlichen Schneefalls sicher über die inzwischen gefährlich glatte Straße.
Nach einer Weile bemerkte Irene, wie die Spannung endlich von ihm abfiel. Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite her zu, ehe er tief durchatmete.
»Wir fahren zurück nach Stormy Mills.« Er sagte es mit ruhiger, monotoner Stimme. Das hatte er vorher schon erwähnt und es klang richtig.
»Gut«, krächzte Irene mühsam und ließ sich erschöpft in den Sitz zurückfallen.
Ein Anflug von Schuldbewusstsein meldete sich in ihr. Es ist wegen mir passiert. Ohne ihren unnötigen Abstecher in die Stadt wären sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Auf einmal war sie heilfroh, Julian an ihrer Seite zu haben.