Читать книгу MISTY DEW 2 - Agnete C. Greeley - Страница 12
4. Kapitel
ОглавлениеStormy Mills
Während Irene unter den prasselnden warmen Strahlen stand, versuchte sie, ihre Gedanken zu sortieren. Sie wünschte sich für eine Sekunde, dass der weiche, zart duftende Schaum all ihre Wirrnisse wegwaschen würde, doch dem war nicht so.
Ständig sah sie die nasse Straße und den Graben vor sich, erneut vermeinte sie, die unheimliche Stimmung wieder zu spüren, nein, nur weg damit.
Sie hob den Kopf und ließ sich das warme Wasser direkt aufs Gesicht prasseln. Eigentlich hätten die Wärme und der Dampf ihre verkrampften Muskeln lösen sollen, doch es gelang nicht so richtig.
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit das Wasser abdrehte und aus der Dusche trat, war der kleine Spiegel angelaufen und Schwaden feuchtwarmer Luft durchzogen träge den kleinen Raum.
Sie trocknete sich rasch ab und schlüpfte erneut in ihre Kleidung. Missmutig stellte sie fest, dass selbst ihre Unterwäsche von der Feuchtigkeit ein wenig klamm geworden war.
Da sie keinen Haartrockner gesehen hatte, nahm sie an, dass sowas hier nicht im Preis inbegriffen war, also rubbelte Irene, so gut sie konnte, die Haare mit dem Handtuch trocken. Morgen würde sie wie Cinderella aussehen, doch da nutzte jammern nichts. Ihre Naturlocken setzten sich immer unbarmherzig durch, sobald sie keinen Haarglätter benutzte. Dann ging sie endlich wieder zurück ins Zimmer, wo Julian gerade am Fernseher herumhantierte.
»Hm, mal sehen, ob das heute noch was wird. Scheinbar ist die Antenne nicht schneesturmfest.«
Er wandte sich zu ihr um.
»Na, alles wieder in Ord ...« überrascht hielt er inne. Er starrte Irene an, als ob sie gerade vom Mars gekommen wäre. Ihre Haare fielen ihr in weichen, feuchten Locken um das blasse Gesicht und ihre Augen leuchteten in einem tiefen kornblumenblau. Verdammt – er fühlte sich auf eigenartige Weise überrumpelt. So wollte er sie nicht betrachten. Ausgerechnet.
Er spürte einen winzigen Schauder, als er die weich geschwungene Rundung ihrer Schultern unter der nachlässig geknöpften Bluse erkannte.
Der zarte Duft nach Jasmin umspielte seine Nase. Klar – frisch geduscht.
Innerlich fluchend versuchte er, das seltsame Gefühl in seinem Magen wegzuatmen. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen.
»Was ist? Sitzt irgendein Tier auf meiner Nase?« Sicherheitshalber rieb sie über ihr Gesicht, auch wenn diese Geste mehr dazu diente, ihre Verlegenheit ob seines Blickes zu verbergen.
»Ähm, nein. Es ist nur – du siehst so anders aus.« Unerwartete Emotionen durchströmten ihn, als er sie, wider besseres Wissen, genauer musterte. Ihre blasse Haut schien nach der warmen Dusche von innen her zu glühen. Er sah ihre weichen Rundungen unter der hellen Bluse, die sich durch die Feuchtigkeit aus dem Badezimmer enger als sonst an ihren Körper schmiegte.
Irene war verwirrt. Sein Blick war anders, als sonst. Fast so als ob er sie zum ersten Mal richtig ansah.
Wie ein Mann eine Frau ...
Hastig begann sie, in ihrer Handtasche nach einem Haargummi zu kramen.
»Ach, das sind nur die blöden Locken.« Als sie endlich einen zu fassen bekam, band sie sich die Haare hastig zu einem Zopf zusammen.
Mist.
Sie atmete tief durch. Auf einer Ranch mit zwei so heißen Typen zu leben, war einfacher, als hier in einem Motelzimmer dieser geballten Ladung Testosteron ausgesetzt zu sein.
»Ähm, ja«, er verdrängte die merkwürdige Hitze, die ihn bei ihrem Anblick überkam. Erneut wandte er sich dem Fernseher zu.
Er hatte noch nie Probleme mit Frauen gehabt, ganz im Gegenteil. Er mochte sie und er war Sex nicht abgeneigt, solange beide ihren Spaß hatten.
Auch hier in dieser abgelegenen Gegend hatte sich der eine oder andere One-Night-Stand gefunden, doch in diesem Moment fühlte er sich in die Enge getrieben. Sie passte nicht in sein Beuteschema.
Während Irene erfolglos versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen, dass sie beide hier in diesem Bett liegen mussten, hantierte Julian intensiv mit dem Fernseher herum.
Die Erschöpfung war mit einem Male für beide deutlich spürbar.
Zu vieles war heute passiert, dennoch befürchtete Irene, nicht schlafen zu können. Eine Menge Gedanken spukten in ihrem Kopf herum, und dann gab es auch noch dieses verdammte Queensize-Bett! Erneut verfluchte sie sich dafür, in die Stadt gefahren zu sein. Sie hätte schon längst zuhause auf Eagleside sein können, in ihrem mollig warmen Wohnzimmer oder in ihren eigenen privaten vier Wänden, stattdessen steckte sie hier mit Julian fest. Einem modellmäßigen Superkerl mit einer Knarre und einem ungemeinen Selbstvertrauen.
Und du bist mit dem Superkerl aus der Wildnis vor WAS geflohen? Der Gedanke kam schleichend, doch er arbeitete sich langsam hoch. Sie fröstelte leicht. Nein, sie wollte noch nicht daran denken. Sie war viel zu erschöpft.
»Vielleicht solltest du dich hinlegen und etwas schlafen.«
Leichte Besorgnis war aus seiner Stimme herauszuhören.
Ja, wie gerne würde sie dem nachkommen, doch so einfach war es nicht.
»Klar, Superheld, und wo schläfst dann du?«, entgegnete sie trocken.
»Hm«, Julian ließ den Blick durch den Raum wandern, ehe er auf dem schalenförmigen, grünen Ding eines Sofas hängen blieb.
»Ich finde schon was.«
»Oh, okay«, Irene hatte Zweifel, doch sie beschloss, nichts zu sagen. Allerdings sah dieses futuristische Sofa aus, als wäre es gerade vom Raumschiff Enterprise hier runter gebeamt worden. Und wirkte keinesfalls bequem. Allein schon die Länge des Dingsbums konnte mit Julians Größe nicht mithalten.
»Versuch einfach, dich auszuruhen, okay?«
Er wies zum Fernsehapparat.
»Ich werde noch ein bisschen fernsehen.«
Irene fühlte sich zu benommen, um etwas zu sagen, also nickte sie unmerklich und streckte sich behutsam auf der einen Seite des Bettes aus. Es war verlockend, so weich und einladend.
Sie schob die Hände unter das Kissen. Obwohl sie nicht sicher war, ob es tatsächlich funktionieren würde, schloss sie die Augen.
Dann, irgendwann, ehe sich ihr Gedächtnis wieder auf das Erlebnis mitten im Wald konzentrieren konnte, driftete sie fort. Die Ereignisse des Tages verschwammen zu einem dicken, undurchdringlichen Knäuel übermächtiger Bilder, die sie einfach mit sich in sanftes Dunkel rissen.
Julian betrachtete sie eine Weile. Wann würde es passieren? Wann würde sie anfangen, über das zu sprechen, was sie im Wald erlebt hatte? Er wusste, dass es kommen würde. Und was sollte er ihr dann sagen?
»John?« Verwirrt schreckte Irene hoch und blinzelte ein paar Mal in die dämmrige Dunkelheit.
Das lebhafte Bild ihres Exfreundes noch vor Augen, brauchte sie ein paar Sekunden um sich zurechtzufinden.
Julian runzelte die Stirn.
»Sagtest du gerade John?«
Sollte Irene nicht eher von dem Schrecken im Wald träumen, anstatt von ihrem Ex? Hoffentlich war die Sache mit der Gehirnerschütterung nicht schlimmer als er dachte. Andererseits könnte es sein, dass sie noch unter Schock stand. Jeder hatte seine eigene Art mit Extremsituationen umzugehen.
»Was?« Dann fiel es Irene wieder ein.
Wieso zur Hölle musste sie auch ausgerechnet von IHM träumen?
»Oh, scheinbar hatte ich einen Albtraum.« Glücklicherweise brannte kein Licht im Zimmer. Sonst hätte Julian gesehen, wie ihr Kopf langsam die Farbe einer reifen Tomate annahm. Genug Peinlichkeiten für einen Tag.
Vor der Tür konnte sie Frauenlachen und eine tiefe Männerstimme hören. Während sie noch mit ihrer Erinnerung kämpfte, entfernten sich die beiden Stimmen wieder. Schön langsam fiel Irene wieder ein, weswegen sie sich hier in diesem fragwürdigen Schuppen befand. Ein heller Streifen Licht fiel unter der Tür hindurch. Erneut folgten Schritte, sowie gedämpftes Geplauder.
»Das geht schon eine Weile so«, antwortete Julian ruhig vom Sofa aus.
»Scheinbar kehren die wilden Städter gerade erst wieder zurück.«
Irene schob sich hoch und versuchte den Schlaf wegzublinzeln.
»Oh ja, die haben es sicher toll getrieben hier in diesem netten, aber überaus langweiligen Kaff.«
Irene schob sich ein weiteres Kissen hinter den Rücken, ehe sie einen Blick auf den Bildschirm riskierte und das Logo vonm TWC erkannte.
Der Wetterkanal zeigte gerade einen aufgeregten Inder, der mit weitausschweifenden Gesten auf die eingeblendete Landkarte im Hintergrund deutete.
Erschrocken erkannte sie eine Menge Rosa und Lila über den Rockies und stöhnte laut auf.
»Das glaub ich jetzt nicht! Wir hängen in einem Schneesturm fest, der sich über die gesamte Bergkette bis ins Tal hinunterzieht?«
Julian nickte.
»Jep, der Winter zieht ins Land«, meinte er trocken und richtete sich ein wenig auf.
»Mistydew County erstickt sozusagen gerade im Schnee. Und das mitten im Oktober. Zwischen Shannon und Cedars hat man bereits die Interstate gesperrt.«
Julian rieb sich müde die Augen. Er lehnte sich auf dem viel zu kleinen Sofa zurück und spielte mit der Fernbedienung in seinen Händen. Das entging Irenes Aufmerksamkeit nicht.
»Sag bloß, du hast noch gar nicht geschlafen.«
»Ist nicht nötig. Ich warte darauf, dass das Bild wiedermal verschwindet. Sieht aus, als ob diesmal die Flimmerkiste gewinnt.«
»Wie bitte?«
»Naja, ich hab mit dem Ding gewettet, dass er es keine zehn Minuten aushält, bis er sein Bild verliert.«
Irritiert betrachtete sie ihn.
»Du solltest dich wirklich hinlegen.« Sie fand es äußerst bedenklich, dass er bereits mit dem Fernseher Wetten abschloss.
»Ach was, Schlaf wird überbewertet.«
Kopfschüttelnd klopfte sie neben sich auf die Matratze.
»Komm her, Julian. Versuch es einfach. Ich – ähm, ich bleib hier ein bisschen sitzen.«
Er dachte kurz über den Vorschlag nach, doch winkte dann ab.
»Bleib nur. Du hast es nötiger als ich. Ich schaffe das hier schon.«
Irene seufzte.
»Du musst unbedingt schlafen, Jul. Sonst sieht es echt schwarz für unsere Heimfahrt morgen aus. Mein Auto ist – ach du weißt schon.«
Julian nickte.
»Im Graben, Irene. Dein Auto liegt im Graben. Ich weiß schon.«
Irene hatte nicht genug Kraft, ihm Konter zu bieten, denn sie wusste ja, dass er recht hatte.
Sorgfältig rückte sie ein weiteres Stück auf ihre Hälfte des Bettes, um dafür zu sorgen, dass er genügend Platz und Abstand hatte.
Seufzend gab Julian nach. Er war wirklich ziemlich lädiert außerdem wollte er sie nicht auch noch dem Risiko eines Sekundenschlafes aussetzen. Das, was sie heute erlebt hatte, reichte wohl für die Ewigkeit.
»Aber den Fernseher lassen wir laufen.«
Er schob rasch die übrigen Polster zur Seite und legte sich vorsichtig hin, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass die Decke zwischen ihnen blieb.
Die mehr oder weniger erzwungene Nähe ließ ihn für eine winzige Sekunde an der Richtigkeit dieser Idee zweifeln. Nach wie vor konnte er den zarten Duft von Jasmin riechen. Doch er wusste, dass sie recht hatte. Wenn beide Morgen k.o. waren, konnte das böse enden.
Irene schien sich auch unwohl zu fühlen, zumindest lehnte sie angespannt in ihrer halbsitzenden Position.
Julian indessen, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einer ungewohnten Situation befand, aber Irene schien keine Ruhe zu finden. Ihre Anspannung war merkbar. Irgendwann seufzte Julian tief. So ging es auch nicht. Auch sie brauchte ihren Schlaf, mehr noch als er. Außerdem fürchtete er nach wie vor den Moment, wo sie zur Gewissheit gelangen, und erkennen würde, was heute abgelaufen war.
»Lass endlich locker, Irene«, murmelte er. »Du musst auch schlafen. Du bist nicht fit.«
Ja, das wusste sie, doch das war leichter gesagt als getan. Immerhin lag neben ihr im Bett ein heißer Typ. Ein ziemlich komisches Gefühl, wie Irene fand.
Doch Julian war scheinbar härter im Nehmen als sie. Nach wenigen Minuten konnte sie erleichtert seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge wahrnehmen.
Beneidenswert.
Nach einer Weile spürte sie selbst, wie sie endlich entspannte.
Doch mit dieser Entspannung kamen auch die Träume – und die Schrecken der letzten Stunden holten sie mit lauernder Intensität ein und drangen erbarmungslos an die Oberfläche.
Der Wald war düster – zwischen den Bäumen hingen dicke fetzenartige Dunstschwaden, die einen trägen Totentanz aufführten, ohne aus dem Schatten des Waldes zu gelangen. Und da war noch etwas. Sie konnte fast körperlich die Anwesenheit von etwas Fremdem spüren. Sie kannte dieses Gefühl, hatte es schon einmal gehabt. Verschwommene Bilder tauchten vor ihren Augen auf – der leere Highway, die Schneeflocken – ja, sie war schon hier gewesen.
Entsetzt starrte Irene in die graue Dunkelheit. Ein Sumpf aus finsterer Leere, der mit klebrigen Fingern nach ihrem Bewusstsein griff.
Sie konnte die Intensität des Schreckens erfühlen. Dunkle Beklommenheit legte sich wie ein schwerer Mantel um sie und machte sie fast bewegungslos. Nein, sie musste weg! So schnell wie möglich musste sie von hier verschwinden. Sie wusste irgendwie, dass sie sonst tot sein würde. Aber wo war Julian?
Sie erzitterte vor Angst. War er nicht gerade hier bei ihr gewesen?
Dann hörte sie jemanden rufen. Zuerst klang es nur hohl und in weiter Ferne, doch umso mehr sie in das Dunkel lauschte, desto näher schien die Stimme zu kommen.
Julian! Ja, das musste er sein!
Schon wollte sie ihm entgegen laufen, als ihr bewusst wurde, dass sie damit geradewegs in die Dunkelheit der Wälder hineinlaufen würde. Nein! Das konnte nicht stimmen! Julian würde sie nicht in die Irre führen – dann, mit einem Mal wurde es ihr bewusst: Es war nicht Julian! Julian er war – »Tot – er ist tot«, drang die Stimme erneut an ihr Ohr, nur klang sie diesmal anders – hohler – raunend.
»Nein!« Irgendwie wusste sie, dass es so nicht stimmen konnte. Diese Kreatur erzählte nur das, wovon sie annahm, dass es Irene aus der Fassung bringen konnte.
Kopflos stürmte sie los. Bloß weg von den Bäumen, hinaus auf das weiße Feld aus Schnee und Eis. Etwas Schweres, fast Lautloses folgte ihr – sie erfühlte dessen Gegenwart deutlich, doch sie rannte trotzdem, weiter und immer weiter ...
»Es ist hinter mir her! Es ist in der Nähe!«, dachte sie.
Doch sie rannte weiter, stolperte über Wurzeln und abgebrochene Äste. Nur weg ...
Dann erkannte sie die Wahrheit. Sie würde nicht entkommen – niemals – dieses Wesen kannte die Gegend. Jede Abkürzung, jeden Zentimeter des Bodens.
Ein erneutes Rufen riss sie aus ihrer Panik. Schon wieder rief jemand ihren Namen – diesmal aus einer anderen Richtung.
Gehetzt sah sie sich um. Das klang wieder nach Julian! Vielleicht steckte er in Schwierigkeiten.
Sie fuhr herum und starrte in die Richtung, aus dem sie die Stimme vernommen hatte. Ja, das klang eindeutig nach Julian! Sie war sich sicher. Er musste in der Nähe sein!
»Hilf mir. Schnell!«
Ja, das war er sicher! Es klang wirklich, als ob er in Schwierigkeiten steckte!
Nicht mehr nach links oder rechts blickend, raste sie über die dicke Schneedecke in Richtung der Bäume davon. Nichts war von ihrer Angst übriggeblieben! Sie folgte nur ihrem Wunsch, Julian zu finden.
»Hey, Irene. Wach auf!«
Diese Stimme klang auch nach Julian, nur dass sie von irgendwo oberhalb den dichten Wolken zu ihr durchdrang. Nein, das konnte doch nicht sein. Er war doch dort zwischen den Bäumen. Oder etwa nicht?
»Irene, ich bin hier.«
Verwirrt hielt sie inne.
Die Stimme kam von irgendwoher, aber nicht von diesem Ort an dem sie sich gerade befand. Seltsamerweise klang sie für sie vertrauter, als die Stimme aus dem Wald.
»Wo bist du, Julian?« Unnötig zu fragen, dennoch ...
»Ich bin hier, Irene. Genau hier.« Ja, das war er wieder, oder nicht?
Leise Zweifel regten sich in ihr. Könnte es sein, dass die Stimme aus dem Wald, die wie Julian klang, gar nicht Julian war? Könnte es sein, dass diese Kreatur, dieses Schreckliche, dass hier auf sie lauerte, sie verwirren wollte? Irene hatte auf einmal das Gefühl, dass sich die finstere Leere und der seltsam schwere Nebel lichteten. Erst ein bisschen, dann ...
Für Sekunden erkannte sie sein wahres Ich. Vom nackten Grauen überwältigt, starrte sie auf die knochige Gestalt, von deren skelettähnlichen Armen fetzenartige Hautreste hinabhingen. Sein Kopf war kahl, mit einer dünnen pergamentähnlichen Haut, wie die einer Mumie, überzogen. Doch die Augen waren es, die sich wohl für immer in ihre Seele brennen würden. In den Höhlen war nichts als dunkle Leere und dort, wo sich die Iris befinden sollte, flackerte ein unstetes gelbes Licht. Seelenlos spiegelte sich der Schein in totem Schwarz wider.
Julian beobachtete ihren unruhigen Schlaf. Sie schien etwas Schlimmes zu träumen. Er überlegte, ob er sie wecken sollte, doch beschloss, sie in Ruhe zu lassen.
Irene wälzte sich von einer Seite auf die andere, während sie unverständlich vor sich hinmurmelte.
Ein paar Mal vermeinte Julian, seinen Namen zu hören.
Stirnrunzelnd zog er ihr die verrutschte Decke über die Schultern.
Eine Weile hatte er geschlafen, doch irgendwann war er aufgewacht, und konnte nicht mehr weiterschlafen. Also war er einfach so liegengeblieben und hatte an die Decke gestarrt, bis Irene begonnen hatte, zu träumen.
Stirnrunzelnd musterte er ihr fahles Gesicht. Eine Strähne ihres Haares klebte an ihrer Stirn und ihre Lider zuckten.
Vorsichtig strich er ihr die Strähne zurück. Warum er es tat, konnte er nicht sagen, doch etwas an ihr strahlte Hilflosigkeit aus, obwohl sie nur schlief.
Besorgt stellte er fest, dass ihre Stirn sich heiß anfühlte. Könnte eine Nebenwirkung des Schockes sein.
Im selben Moment schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war vom Schlaf noch verschleiert, dennoch erkannte er für die Winzigkeit einer Sekunde die Angst darin. Keuchend fuhr Irene hoch. Ehe sie seitwärts aus dem Bett kippen konnte, gelang es Julian, sie festzuhalten.
»Langsam, Irene, langsam.« Er zog sie vorsichtig in die Mitte des Bettes, ohne sie jedoch loszulassen. »Schon gut. Alles okay.« Julian drückte ihre Hand, während er darauf wartete, dass sie entdeckte, wo sie sich befand. Er fühlte sich irgendwie ertappt, obwohl es keinen Grund dafür gab.
Die wenigen Sekunden, die Irene brauchte, um aus der lichtlosen, zwielichtigen Welt zu erwachen, reichten aus um den Schleier, den der Traum gelüftet hatte, gänzlich von ihren Gedanken zu nehmen.
»Ich – ich hab es gesehen«, keuchte Irene.
Leichenblass starrte sie ihn an. Die Erinnerung an die mumienhafte Fratze hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Hey, du hattest einen Albtraum. Es ist alles okay.«
Irene schluckte.
»Nein, es – es war anders.« Sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte. Mit Albträumen kannte sie sich aus, doch dieser hier war anders gewesen.
»Ich lief dort draußen herum und suchte – ich hab dich gesucht.« Sie schloss einen Moment die Augen und atmete durch.
»Dann hast du mich gerufen. Jedenfalls dachte ich das, doch deine Stimme kam plötzlich aus dem Wald. Ich bin – ihr gefolgt, aber ... «
Der Traum, er hatte sich real angefühlt.
»Es – es hat versucht, mich wegzulocken.«
Die leeren, dunklen Augen mit dem gelben Flackern darin hatten sie direkt angestarrt, so als ob es genau wusste, dass sie ihm nicht entkommen würde.
Sie konnte nicht verhindern, dass ihr bei dem Gedanken daran, ein eisiger Schauer über den Rücken rann.
»Es hat mich – direkt angesehen. Dieses Ding, es – es schien zu wissen, wer ich bin«, flüsterte sie erzitternd. Ja, genau das war es, was diesen Traum von anderen unterschied. Das Wesen hatte sie mit den dunklen, seelenlosen Augen angestarrt. Es hatte sie wissen lassen, dass es sie wiedererkennen würde.
»Da draußen ist etwas, Jul. Etwas Schreckliches, etwas, das – Jagd auf Menschen macht.« Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
Julian erkannte diesen Ausdruck. Er hatte ihn bereits unzählige Male bei anderen Menschen gesehen. Es war die Furcht vor dem Unheimlichen, dem Unerklärbaren – gepaart mit der Gewissheit dass es furchtbare Dinge gab, die da draußen existierten, obwohl es sie nicht geben sollte.
Irene ahnte nicht nur, dass da draußen etwas Gefährliches lauerte, sie wusste es bereits.
»Schon gut, Irene, nichts ist passiert.« Er strich ihr beruhigend über die Haare. Sie sollte so etwas nicht erleben müssen, kein normaler Mensch sollte so etwas erleben müssen.
Er würde ihr gerne sagen, dass alles in Ordnung war, dass sie tatsächlich nur einen Albtraum gehabt hatte, doch er konnte es nicht. Stattdessen zog er sie zu sich heran.
»Hey«, sagte er sanft. »Dir wird nichts passieren.«
Das hoffter er zumindest. Am liebsten wäre es ihm, dass es dieses Wesen da draußen nicht gab, dass Irene nur unter den Nachwirkungen des Unfalls litt, doch er wusste es besser.
Sie schluckte.
»Ich – ich hab keine Angst um – um mich.« Das Zittern in ihrer Stimme verriet Julian etwas anderes, doch er erwähnte es nicht.
Als sie sich an seine Schulter lehnte, konnte sie den leichten Geruch seines Aftershaves wahrnehmen. Der sanfte Duft von milden Zitronen mit einem Hauch Sandelholz umschmeichelte ihre Nase. Aus irgendeinem Grund wirkte das auf sie beruhigend.
Julian zog scharf die Luft ein, als ihm Irenes weiches Haar an der Wange kitzelte. Sie duftete noch immer nach diesem verdammten Jasmin. Trotzdem ließ er sie nicht los.
»Es ist okay, angst zu haben.« Seine Stimme klang belegt, was nur zu einem kleinen Teil an ihrer greifbaren Furcht lag.
»Ich kann dir das nicht wegnehmen. Du hast schon erlebt, dass es Dinge gibt, schlimme Dinge, die man nicht auf konventionelle Art erklären kann. Die – die meisten Menschen glauben nicht daran, weil sie es so gelernt haben. Aber ich – ich hab schon eine Menge – gesehen.« Seine Stimme brach und er schloss für einen Moment die Augen. Ungewollte Bilder tauchten auf. All das Grausame, unheimliche, dass er erlebt hatte, durchzog seine Erinnerungen – und jetzt passierte es erneut.
Er brauchte eine Pause, doch er wusste, dass er nicht wirklich Zeit hatte, sich auszuruhen.
Irene hob träge ihren Kopf, und sah ihn an.
Unter seinen Augen lagen grauschwarze Schatten von zu wenig Schlaf und er wirkte erschöpft.
»Du, du bist müde.« Vorsichtig strich sie mit ihrer Hand über die dunklen Stoppeln an seinen Wangen, die zeigten, dass er sich länger schon nicht rasiert hatte.
Die Berührung war im Moment nicht gerade hilfreich, besonders nicht, in diesem kleinen Motelzimmer mitten in einem Bergkaff.
Verflucht noch mal!
Er hatte im Traum nicht damit gerechnet, dass sie so eine Wirkung auf ihn haben konnte. Und sie war wirklich ausgesprochen weiblich.
Nein! So etwas durfte er nicht denken. Das konnte er nicht zulassen. Nicht bei Irene. Sie war ja eigentlich auch gar nicht sein Typ. Zu draufgängerisch, zu stur. Außerdem lag ihm nichts an Beziehungen, und für ein Abenteuer war sie ihm zu schade.
Er dachte an ihren Ex, diesen John. Der schien ein ganz mieser Typ zu sein, zumindest wenn es um Beziehungen ging.
Genau wie Julian selbst. Scheinbar hatte der Surferboy, wie Matt ihn bezeichnete, auch mehrere Eisen im Feuer gehabt, und dann war da noch diese extreme Eifersucht, die ihn nicht ganz ungefährlich machte.
Wieder musste er an seinen älteren Freund Will denken, der in Sheridan in seiner Detektei saß. Er kannte Julian und hatte ihn bei ihrem letzten Gespräch auch gewarnt, etwas mit Irene anzufangen. Ob er da schon geahnt hatte, wie schwierig das werden würde?
Ja, vermutlich – trotzdem viel leichter gesagt als getan.
Julian schloss einen Moment die Augen und atmete den warmen Duft ihrer Haut ein. Mehr ging nicht, mehr würde er nicht zulassen.
Aus Erfahrung wusste er, wohin zu viele Gefühle führen konnten. Sie führten unweigerlich zu Trauer und Schmerz. Er hatte es bei seinem Vater gesehen, und bei sich selbst. Man konnte komplett darin versinken und alles um sich herum verdrängen. Dennoch, die Mauern, die Julian sich im Laufe der Jahre um den stillen Rückzugsort seiner Seele aufgebaut hatte, drohten im Moment einzustürzen.
Behutsam, ganz darauf bedacht, Irene nicht zu verschrecken, umschloss er ihr Handgelenk, ehe er sanft über ihren Handrücken strich.
»Wir müssen uns jetzt beide ausruhen«, flüsterte er.
Vorsichtig schob er ihre Hand weg und zog die Decke über ihren Oberkörper.
»Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das schon.«
Sie murmelte etwas, dass sich wie ‚schlafen‘ anhörte.
Er ließ zu, dass sie ihren Kopf erneut an seine Schulter senkte.
»Ja, schlaf du nur.« Auch wenn es ihm schwerfiel, so nahe bei ihr zu sein, würde er sich nicht von der Stelle rühren. Nicht, solange die Möglichkeit bestand, dass ausgerechnet er sie dazu brachte, zu schlafen, und vielleicht für eine Weile zu vergessen, was sie heute erlebt hatte.