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Eine Sendung, eine Absicht, ein Gefühl, ein Buch

NIGHT FLIGHT - so heißt die Radiosendung, die ich einmal in der Woche für den BFBS (British Forces Broadcasting Service) moderiere. Ich entschied mich damals für diesen Namen, nicht nur weil mir der Gleichklang der beiden Worte gefiel, sondern auch, weil sie mir das zu vermitteln schienen, was ich mir für diese Sendung vorstellte. Ich wollte meine Hörer mit auf die Reise nehmen; sie würden mitten in der Nacht starten und irgendwo landen, wo sie noch nie zuvor gewesen waren. Ich wollte, dass das Ziel beim Abflug noch nicht feststand. Aber ich wünschte mir auch, dass unser Flug ruhig verlief, mit so wenig Turbulenzen wie möglich.

Mit solchen Vorstellungen im Kopf verbrachte ich Stunden, manchmal auch Tage oder sogar Wochen damit, die Reihenfolge eines Programms auszutüfteln und die einzelnen Musikstücke darin so aufeinander abzustimmen, dass oft schwer zu sagen war, wo ein Stück aufhörte und das nächste anfing. Der innere Zusammenhang eines Programms wurde mehr als nur die Summe seiner Teile. Ich versuchte die Stücke so zu kombinieren, dass sie sich wie eine Art Kommentar gegenseitig ergänzten, so dass sich jede weitere Bemerkung von mir erübrigte. Ich wollte mich durch die Musik ausdrücken, sie für das sprechen lassen, was ich oft selbst nicht in Worte fassen konnte. Aber dennoch blieb die Präsentation des Programms ein integraler Bestandteil des Ganzen. Sie war dazu da, die Richtung vorzugeben und Höhe sowie Geschwindigkeit unseres Fluges zu bestimmen.

Die Art von Moderation, die mir schon immer am meisten zugesagt hat, kann am besten mit dem Begriff »indirekt« umschrieben werden, anders gesagt, sie konzentriert sich weniger auf die Musik an sich, sondern versucht statt dessen, einen Kontext zu schaffen, der sie indirekt von ihrer alten Rolle befreit.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das zu erreichen. Die einfachste ist vielleicht die, die Umstände zu beschreiben, unter denen man ein bestimmtes Musikstück zum ersten Mal gehört hat. Wenn diese Beschreibung präzise ist, kann sie einem Hörer ganz neue Wege für das Verständnis eines Songs bieten, selbst, wenn er es schon tausendmal gehört hat. Für mich hat es noch nie gereicht, zu wissen, dass eine Platte neu ist: Sie muss mir zuallererst etwas bedeuten. Ich muss wissen können, warum ich sie spiele - entweder im Kopf oder im Bauch. Andererseits fällt meine Entscheidung ziemlich oft auch rein intuitiv aus: Dann weiß ich schon, warum ich sie spiele, auch wenn ich die Gründe dafür nicht in Worte fassen kann. Es ist eher eine Sache des Gefühls als des Verstandes.

Da wir gerade dabei sind, kann ich ja auch gleich darauf hinweisen, dass ich meistens zu viel von mir erwarte und dann ziemlich frustriert bin, wenn das »Gefühl« mich im Stich lässt. Andererseits bin ich realistisch genug, um einzusehen, dass man nun mal nicht jede Sendung mit der gleichen Intensität machen kann. Selbst wenn das möglich wäre - ich wäre der letzte, der sich darüber freuen könnte, ich habe nämlich keinen Bock auf eine solche »Harmonie«, jedenfalls nicht, solange ich noch einmal in der Woche eine Sendung mache und nicht einmal im Jahr. Ich lege es natürlich nicht gerade drauf an, meinen Hörern schlechte Programme vorzusetzen, (und ich habe es oft genug erlebt, um zu wissen, wovon ich spreche).

Ich versuche eher, solche Situationen zu akzeptieren (was mir gewöhnlich nicht gelingt), indem ich mir bei jedem Schnitzer resigniert vornehme, es beim nächsten Mal besser zu machen (oder auch beim übernächsten Mal).

Es gibt jedoch auch subtilere Methoden, mehr zu sagen, als es scheint - man muss nicht unbedingt über die Situation sprechen, in der man eine bestimmte Platte zum ersten Mal hörte. Joseph Conrad, der als Kind zuerst Polnisch und dann Französisch lernte, hat einmal gesagt, dass er vielleicht nie Schriftsteller geworden wäre, wenn er nicht irgendwann dann auch die englische Sprache entdeckt hätte. Er fand, dass die Unbestimmtheiten des Englischen, seine Vagheiten, dieser Sprache eine immense Macht zur bloßen Andeutung verleihen, und meinte damit, dass es genau diese Unbestimmtheit ist, die sie so beschwörend wirken lässt. Wenn man etwas Englisches liest, sagte er, kann man nie ganz sicher sein, ob man verstanden hat, was der Autor eigentlich meint, denn die simpelsten Begriffe können in der englischen Sprache auf hunderterlei Arten benutzt werden und jedes Mal eine andere Bedeutung haben. Man muss also beim Lesen jedem Wort die Möglichkeit geben zu »vibrieren«, bis die Bedeutung, die es in dem jeweiligen Zusammenhang hat, klar wird. Conrad war davon überzeugt, dass Englisch sich perfekt dafür eignet, beispielsweise einen Dschungel zu beschreiben, wo nichts jemals das ist, als was es erscheint, und alles permanenter Veränderung durch Licht und Hitze unterworfen ist.

Genauso ist es möglich, auch im Radio zu sprechen - Vibrationen auszusenden, ohne sie beim Namen zu nennen, sich unvollständig oder vage auszudrücken, ohne genau zu sagen (oder auch zu wissen), was man meint. Am Ende hängt alles davon ab, ob man es schafft, eine Spannung zu erzeugen - Spannung zwischen dem, was gesagt und was gemeint ist, Spannung zwischen der Präsentation und der Musik und natürlich auch Spannung zwischen den einzelnen Musikstücken. Um das zu verdeutlichen, möchte ich ein Beispiel aus der Malerei benutzen. In seinem Buch »Ways of Seeing« demonstriert John Berger an van Goghs berühmtem Gemälde »Weizenfeld mit Krähen«, wie uns Sprache, oder auch wissen, beim Betrachten eines Bildes beeinflussen kann.

Das Bild »Weizenfeld mit Krähen« ist bei Berger auf einer rechten Seite unten abgedruckt. Darüber steht: »Dies ist die Ansicht eines Kornfeldes mit Vögeln, die aus ihm herausfliegen. Schauen Sie es sich in Ruhe an. Dann blättern Sie um.« Wenn man weiterblättert, erscheint das Bild noch einmal, diesmal aber mit folgendem Text: »Dies ist das letzte Bild, das van Gogh malte, ehe er Selbstmord beging.« Die Wirkung dieses Textes ist geradezu unheimlich. Wie Berger selbst sagt: »Es ist nicht leicht, genau zu definieren, wie die Worte das Bild verändert haben, aber sie haben es verändert. Nun illustriert das Bild den Satz.«

Wenn man van Gogh durch Johnny Ace und sein Bild »Weizenfeld mit Krähen« durch Aces Song »Pledging My Love« ersetzt, kann man fast die gleiche Wirkung erzielen. Dies ist der letzte Song, den Johnny Ace aufnahm, ehe er am Weihnachtsabend 1954 in Houston, Texas, russisches Roulette spielte und dabei umkam. Auch hier erhellt der Song das Gesagte. Es ist jedoch immer noch eine vergleichsweise direkte Form der Präsentation, die sich auf den Menschen, und nicht auf die Platte, gründet.

Ich möchte jetzt ein Beispiel für verstecktere Zusammenhänge erzählen. Als ich zum ersten Mal John Fantes Roman »Ask The Dust« las, war ich sehr beeindruckt. Mir gefiel die Story und die einfache, unverfälschte Form des Romans. Eines Nachts nahm ich das Buch mit ins BFBS-Studio und beschloss so ziemlich gegen Ende der Sendung, als ich schon eine Platte von Rupert Hine auf dem Plattenteller liegen hatte, einen Abschnitt daraus vorzulesen. Da ich nichts vorbereitet hatte, blätterte ich einfach so lange, bis ich an eine Stelle kam, die mir geeignet erschien. Sie handelte von Leuten, die nach Kalifornien kommen, auf der Suche nach dem »amerikanischen Traum«, und schließlich als Benzinzapfer in irgendeiner gottverlassenen Tankstelle enden. Sie »sind dazu bestimmt, in der Sonne zu sterben, mit ein paar Dollars auf der hohen Kante, einem Abonnement der Los Angeles Times und genug Illusionen, um sich vorzumachen, dass das das Paradies war und ihre kleinen Häuschen aus Pappmache Schlösser...«

Wenn ich besser vorbereitet gewesen wäre, hätte ich danach wahrscheinlich Steve Forberts Song »It Isn‘t Gonna Be That Way« gespielt. So aber hatte ich schon eine Platte aufliegen, die ich dann auch einfach spielte: die Rückseite einer Single von Rupert Hine mit dem Titel »Scratching At Success«. Um es noch einmal mit Berger zu sagen: Der Song war eine Illustration des Buches. Dies ist im wesentlichen das, was ich im Radio erreichen will - eine Synthese meiner eigenen und fremder Erfahrungen, von Leuten, mit denen ich in irgendeiner Form Kontakt habe, sei es persönlich oder durch Bücher beziehungsweise Schallplatten.

Dieses Ziel spiegelt sich auch im Titel meiner neuen Radiosendung, die ich seit Januar dieses Jahres einmal in der Woche für den WDR II mache. Sie heißt CONNECTION und wird jeden Dienstag zwischen halb elf und Mitternacht live gesendet. NIGHT FLIGHT begann dagegen am 25. Mai 1975, einem Sonntag, und seitdem habe ich mehr als vierhundert-fünfundsiebzig Sendungen für den BFBS gemacht.

Der Titel dieses Buches hat also mit dieser Sendung zu tun, obgleich die Absicht, die dahintersteckt, hier eine andere ist. Ursprünglich hatte ich vor, ein Tagebuch für das Jahr 1984 zu schreiben. So wie es jetzt aussieht, ist es sowohl mehr als auch weniger als das geworden. Vieles entstand spät abends, und wenn ich diese nächtlichen Sitzungen auch meistens damit anfing, dass ich mir Notizen zu dem machte, was tagsüber geschehen war, so ertappte ich mich doch oft dabei, dass ich abschweifte und von etwas ganz anderem erzählte. Wenn ich sage »ertappte ich mich dabei«, dann durchaus mit Absicht: Ich hatte eine vage Vorstellung von dem, was ich schreiben wollte, aber ich war nie ganz sicher, welche Form es annehmen würde, bis ich mich an die Maschine setzte und anfing, meine Gedanken zu ordnen. In diesem Sinne könnte man meine Vorgehensweise damit vergleichen, wie ich normalerweise NIGHT FLIGHT konzipiere. Wenn ich versucht hätte, alles aufzuschreiben, was mir 1984 passiert ist, wäre ich vermutlich nie fertig geworden. Ich war also mehr oder weniger gezwungen, mindestens ebenso viel auszulassen, wie ich reingenommen habe.

NIGHT FLIGHT ist eine Mischung aus Reportage und persönlichen Erfahrungen. Ich hatte das Glück, im Lauf der Zeit eine Menge Leute kennenzulernen, die in irgendeiner Form mit dem Musikbusiness zu tun haben. Ein paar davon kenne ich mittlerweile so gut, dass ich sie als Freunde bezeichnen kann, andere traf ich nur flüchtig. Einige dieser Begegnungen sind in diesem Buch beschrieben, sehr persönlich zwar, aber, wie ich hoffe, nicht allzu langatmig.

Bei Wolfgang Drescher möchte ich mich dafür bedanken, dass er mit der Idee, dieses Buch zu machen, an mich herangetreten ist. Ohne seine Initiative und seinen unerschütterlichen Glauben an dieses Projekt hätte das Buch vielleicht niemals vollendet werden können.

Bei Pociao und Roberto, meinen geduldigen Übersetzern, möchte ich mich dafür bedanken, dass sie mein mehrmaliges plötzliches Verschwinden und meine gelegentliche Orientierungslosigkeit auf sich genommen haben.

Vor allem möchte ich mich aber bei meiner Freundin Elisabeth bedanken, und zwar dafür, dass sie nie aufgehört hat, an mich zu glauben, selbst dann nicht, wenn ich angefangen habe, an mir zu zweifeln. Ohne sie würde ich nicht da sein, wo ich jetzt bin. Sie hat es - mehr als jede andere Person - geschafft, mich immer wieder zum Weitermachen zu bewegen.


Foto: Manfred Becker

Nightflights

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