Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 10
ОглавлениеDer Aufstand
In Budapest ist ein Aufstand im Gange“, sagt Vater ein paar Tage nach meiner Rückkehr mit Mutter aus der Hauptstadt. "Es wird geschossen, viele Schaufenster sind kaputt." Daß auch auf Menschen geschossen wird, erwähnt er nicht.
Ich höre nur Schaufenster und denke an die Puppe mit den braunen Locken und blauen Augen und heule; sie ist bestimmt auch kaputtgegangen bei der Schießerei.
Aus dem Radio kommen spärliche Nachrichten, die genaueren erfährt man durch Mundpropaganda. Allerdings nur hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Jeder hat Angst, niemand weiß genau, was in Budapest passiert und wann die Ereignisse auch auf unser Provinznest ihre Schatten werfen.
Großonkel János und mein Vater vertreiben sich die Zeit der Ungewißheit mit Schabernack. Sie organisieren ein Radiogehäuse ohne Innereien und verbergen sich in der guten Stube. Über ein verstecktes Mikrofon verbreiten sie vom Nebenzimmer aus haarsträubend falsche Nachrichten über die Lage der Nation. Vor dem Gerät sitzen Eingeweihte und Unaufgeklärte in schönster Eintracht.
Einer der unaufgeklärten Zuhörer ist ein Spitzel. Noch in derselben Nacht werden Großonkel und Vater zum Verhör abgeholt. Danach an vielen Abenden. Dann kommt Großonkel János eines Abends nicht mehr nach Hause. Er bleibt zwei Jahre weg und als er zurückkehrt, sind seine Haare fast weiß, er hustet, atmet schwer und mindestens zwei Jahre noch ist er sehr krank.
Der Sohn von Großvaters jüngster Schwester studiert in der Zeit in Sopron an der Hochschule für Forstwirtschaft. Er hätte die Kommilitonen aufgewiegelt, heißt es in der Amtssprache, deshalb traut er sich nicht mehr nach Hause. Mit vielen anderen Studenten verläßt er das Land und geht nach Kanada. Er lebt heute noch dort.
»Die Amis und der ganze Westen haben uns fallengelassen, obwohl sie uns aufgestachelt haben, einen Aufstand zu machen. Und als Hilfe notwendig gewesen wäre, haben sie den Schwanz eingezogen. Wie konnten sie es nur zulassen, daß russische Panzer in die Menge schießen?«
Das sind Kommentare und Fragen der Leute im Dorf über die Ereignisse. Während meiner Schulzeit wird das Thema offiziell totgeschwiegen. Aber es gibt kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form von den Folgen des Aufstands betroffen ist. Selbst unser Dreitausendseelendorf hat viele Dissidenten zu verzeichnen. In jener Zeit geht das Lied Heimweh um im Land, jedes kleine Kind kann es singen. Viele der Emigranten, die meisten leben in den USA, finden sich im Ausland schwer zurecht, aber mindestens genau so viele loben das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie schreiben angeberische Briefe und schicken den Daheimgebliebenen Pakete mit begehrtem Inhalt. Unsere Familie hat keinen Dissidenten, also bekommt sie auch keine Pakete aus Amerika oder von sonstwo.
Eine Mutter mit vielen Kindern kommt aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zurück und wird nicht nur in unserem Dorf, sondern landesweit als leuchtendes Beispiel von richtiger Besinnung und politischer Reue vorgeführt. Der Mann der armen Frau hätte die Familie wegen eines Flittchens verlassen und sowas gebe es ja nur im Sündenbabel Westen. Die Familie bekommt ein großes Haus von der Gemeinde gestellt, die Kinder werden mit neuen Kleidern ausgestattet; man läßt sich schließlich nicht lumpen! Und die Medien berichten eine ganze Weile fleißig.
Nach einem Jahr ist der Rummel vorbei, die Kinder sind aus den neuen Kleidern herausgewachsen, im Haus Dielen und alles Brennbare verheizt. Die Mutter trinkt wie vor ihrer Flucht - allerdings damals mit ihrem Ehemann zusammen - und wird behördlich belangt, weil sie ihre Kinder nicht regelmäßig in die Schule schickt. Daß zwei der älteren Töchter dem ältesten Gewerbe der Welt nachgehen und damit die Familie ernähren, findet in den amtlichen Berichten keine Erwähnung.