Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 12
ОглавлениеSchneeschanze im Hühnerhof
Vater steht eines morgens gutgelaunt in der Küche, sein Gesicht strahlt mit der Wintersonne um die Wette. »Nach dem Frühstück gibt es eine Überraschung«, verkündet er.
Ganz anders als sonst, läßt mein Bruder das Frühstück über sich ergehen, er ißt ohne zu mäkeln den Teller leer, trinkt seinen Tee und läßt erwartungsvoll und aufgeregt die Füße von dem für ihn zu hohen Stuhl baumeln. Daß er dabei ab und zu seitlich ausholt, um gegen mein Schienbein zu treten, ist in diesem Moment der gespannten Erwartung unerheblich, ich kann es ihm später heimzahlen. Wir müssen uns beide in Geduld üben, denn Vater ißt demonstrativ langsam und liest die Zeitung dabei. Hoffentlich fängt er nicht auch noch das Kreuzworträtsel an, bevor er uns die Überraschung zeigt. Er tut es nicht, und als er die Morgenlektüre beiseite legt, stehen mein Buder und ich angezogen, mit Mütze und Schal gegen die Kälte gewappnet, die Schneeschuhe aus Gummi über die gefütterten Winterschuhe gezogen und den Druckknopf zugedrückt, an der Tür.
Vater nimmt uns an die Hand führt uns auf den zweiten Hof, wo sich bei wärmeren Temperaturen die Hühner und anderes Federvieh tummeln. Die sind jetzt im warmen Stall eingesperrt, scharren im Heu und erschrecken das immer nervöse Pferd, wenn sie nach dem Eierlegen anfangen zu gackern.
Jetzt steht zwischen dem Stalltor und dem dicken Stamm des Maulbeerbaumes eine hohe Schneeschanze, mit Stufen an der Rückseite. Zum bequemen Hochsteigen. Vater hat inzwischen den Schlitten aus der Kammer geholt und nimmt ihn mit nach oben. Wir stapfen hinterher. Vater setzt uns beide auf den Schlitten und gibt dem Gefährt einen kleinen Schubs. Mein Bruder klammert sich an mich, und ich spüre es, daß er an mir vorbeilugt, während wir nach unten gleiten. Kurz vor dem Hühnerhofzaun kommt der Schlitten zum Stehen. Vater steht schon neben uns und schaufelt noch rasch eine Auffangmauer aus Schnee vor den Maschendrahtzaun. Falls wir doch mal schneller runterkämen als eben, sagt er.
Die Schanze ist unsere Spielwiese für die nächsten Tage, das Wetter ist stabil, sonnig und kalt. Es ist klar, daß wir anfangs nicht die Stufen an der Rückseite der Schanze nehmen, wenn wir wieder nach oben wollen, sondern versuchen es an der Schräge. Vater hatte den Schnee aber so fest zusammengeklopft, daß es sich an der Oberfläche bald eine dünne Eisschicht bildet und das Hochkommen immer schwieriger wird. Irgendwann benutzen wir dann doch die Stufen. Vater grinst verstohlen im Vorbeigehen, sagt aber nichts. Als Ausdruck seiner stillen Freude darüber, daß er uns wiederum eine solche Freude bereitet, tätschelt er anstelle unserer Köpfe den Rücken des Pferdes, das sich jetzt im Stall langweilt. Er wirft dem Hengst eine Decke über und dreht ein paar Runden mit ihm im Hof.
Die Existenz unserer Schneeschanze spricht sich in der Straße schnell herum, unsere Jubelschreie sind über mehrere Höfe zu hören. Jeden Tag kommen neue Kinder dazu und als die Kapazität der Schanze erschöpft ist, bietet Vater den Nachbarn an, auch bei ihnen so etwas zu bauen. Den meisten Vätern ist es nur recht, die sind froh, die Winterruhe ohne Belästigung durch die Kinder zu genießen und überlassen Vater die Aufgabe, deren Kindern das gleiche Vergnügen zu verschaffen wie uns. Meinem Bruder und mir ist es auch recht, weil die ständig wachsende Kinderschar unseren Spaß verkürzt hat.
Nun gehört die Schanze wieder ausschließlich uns beiden und wir binden einen Stoffetzen, der aus Großmutters Restekiste stammt, an einen Stock, stecken den Stock zum Zeichen der Wiedereroberung unserer Spielstätte, wie eine Fahne an einer Burgspitze, in den Schnee. Abends sind wir von der frischen Luft und der Bewegung so müde, daß Mutter keine Mühe hat, uns ins Bett zu stecken. Wir gehen freiwillig schlafen, weil dann der nächste Tag, den wir wieder draußen verbringen können, schneller herbeigeeilt kommt.
Auch der Frühling kommt schnell herbei, schneller als uns lieb ist und verwandelt unsere stolze Schneeschanze in einen kläglichen Haufen gräulich-weißen Matsches, der in der Sonne täglich ein Stück mehr in sich zusammensackt und eines Tages als plätscherndes Wasser in der Bodenrinne des Hühnerhofes davonfließt. Das aber kümmert uns nicht mehr, jetzt gibt es andere Dinge zu tun.