Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 6

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Dörfliche Idylle

Der Ort, wo sich das Bisherige und fast alles Spätere abspielt, ist ein Dorf im Nordosten Ungarns. Unser Dorf ist viel größer als andere in der Gegend. Die anderen bestehen nur aus einer langen Hautpstraße: Man fährt an dem einen Ende hinein, dann immer geradeaus und wenn das zweite Ortsschild im Blickfeld auftaucht, ist man auch schon wieder draußen.

Unser Dorf hingegen hat ein ganzes Gespinst aus Straßen und Gassen, die allesamt nach Dichtern und Freiheitskämpfern der zahlreichen Unabhängigkeitsbewegungen Ungarns benannt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg auch nach den Helden des Arbeitskampfes und politischen Größen der jüngsten Geschichte. Die Hauptstraße, die genauso heißt wie alle Hauptstraßen der umliegenden Dörfer, ist die einzige asphaltierte, die anderen sind nur notdürftig befestigt. Kopfsteinpflaster gibt es bei uns nicht, größere und kleinere Kieselsteine ragen aus dem sandigen Boden hervor und rütteln die Pferdewagen ordentlich durch. Mit denen befördern die Bauern Heu, Mist, Saatgut, Korn, Mais, Kartoffeln und außerordentlich selten Ausflügler ins Grüne.

Glücklich ist, wer auf einem mit Heu und Stroh beladenen Wagen mitfahren darf. Der kommt sich vor wie ein König auf dem Thron, der obendrein noch auf vier Rädern von meistens zwei Pferden gezogen wird. Nur hin und wieder steigt der Dampf von frischen Pferdeäpfeln nach oben, aber das kann die Nase der Wagenmajestäten nicht beleidigen, denn gegen soviel duftendes Heu behauptet sich der Roßapfeldunst nicht lange; er ist im Nu auf und davon. Verflogen.

An den Hängen von zwei Gebirgen, Ausläufer der Karpaten, gedeiht ein guter Wein, der den Charakter der Umgebung bestimmt. Die meisten Bauern besitzen Weinfelder und große kühle Weinkeller in den traditionell gebauten, langgezogenen Landhäusern. Die meisten haben eine überdachte, mit einer meterhohen Mauer eingegrenzte und mit Säulen unterteilte Veranda, tornác genannt. Davor rankt bis zum Dachfirst Wein hoch, den man gleich zum Essen ernten kann, ohne auf die Felder zu gehen.

Der Wein spielt in unserer Gegend die Hauptrolle. Vom frühen Frühjahr bis zum Spätherbst werden die Rebstöcke gehätschelt, beschnitten, hochgebunden, vor Schädlingen geschützt, und der Boden wird zwischen den Reihen regelmäßig aufgelockert. Die Tage nach der Blüte, wenn die Beeren ansetzen, sind heikel, besonders, wenn es Spätfröste gibt. Ein stetiger Grund zur Sorge ist ein zu feuchter, warmer Sommer. Und wenn die ersten Trauben zu reifen beginnen, beten die Bauern, daß das Wetter bis zur Lese sonnig und trocken bleiben möge. Soviel Fürsorge lassen sie ihren Kindern selten angedeihen.

Auch nach der Ernte wird der Wein mit viel Aufmerksamkeit bedacht, wenn die Trauben gepreßt und der junge Wein in den großen Holzfässern gärt. Dann darf man nur mit einer brennenden Kerze in den Keller. Wenn die Flamme erlischt, empfiehlt es sich, schleunigst an die frische Luft zu gehen. Manch benebelter Winzer oder unbedachtes Kind überlebt eine solche Exkursion in den Hades der Weinkeller nicht.

Nachdem der junge Wein sich abreagiert hat, wird er domestiziert. Das ist die Hohe Schule des Kelterns. Hierbei entscheidet es sich, ob aus der Ernte des jeweiligen Jahres Weinessig oder ein Qualitätswein wird. Großonkel János keltert gewöhnlich Weinessig, behaupten Großvater und Vater einvernehmlich, und wenn dieser hin und wieder eine glückliche Hand an den Wein anlegt, kommt bestenfalls eine trübe hefige Brühe dabei heraus, bei der man die nachträgliche Zuckerung herausschmeckt. Großvater hatte mit Vergnügen über den Wein seines Bruders gelästert, dessen Kaufkundschaft hauptsächlich aus der oberen Region, aus dem Norden des Landes kam. Das waren Bergleute, die keine Ahnung von echter Qualität hatten.

Großvater bekam regelmäßig Besuch von Freunden, wenn der junge Wein bereits genießbar war. Er hatte im Spätherbst und Winter erstaunlich viele Freunde. Mit ihnen verschwand er am Vormittag im Weinkeller, tauchte vergnügt und mit einer verräterisch roten Nase zum Mittagessen auf, um danach wieder einen Ausflug in Gesellschaft in die Unterwelt zu wagen. Am Abend waren Großvater und Freunde nicht mehr ganz sicher auf den Beinen und kamen sie von außerhalb, konnte man ihre Rückreise nicht verantworten. Also blieben sie zum Frühstück am nächsten Tag. So erzählt es immer wieder Großmutter.

Unser Weinkeller, den Urgroßvater angelegt hat, ist vollständig erhalten. Die Wände sind mit großen Natursteinquadern gemauert, an denen entlang die Fässer in allen Größen aufgereiht sind. Auf den oberen Treppenstufen und einer Ablage überwintern die Geranien und von der gewölbten Decke hängen die gebündelten Knollen von Dahlien und Gladiolen. Auf halber Höhe des Treppenabgangs ist der kleine Kartoffelkeller. Hier hätten sich die Frauen in den letzten Kriegstagen versteckt, erzählt Großmutter, sie hatte man für ein paar Tage eingemauert. Und damit sie nicht erstickten, hatte man ein Loch durch die Decke des Kellers zur Kornkammer geschlagen, und ein Lüftungsrohr eingeschoben. Das Loch dort ist heute noch zu sehen.

Die Straße, in der unser Haus steht, hat zwar einen amtlichen Namen, sie wurde nach einem berühmten Dichter benannt, trotzdem kennt sie jeder im Dorf nur als Rübenzeile. Die Mártons stammen ursprünglich aus der ungarischen Tiefebene und haben dort offenbar Rüben angebaut. Ob Zucker- oder Futterrüben, das weiß niemand mehr oder will niemand es genau wissen; Wein zu kultivieren ist eine weit höhere Aufgabe als sich mit gewöhnlichen Rüben abzugeben. So erinnert nur noch der Spitzname an die einstige Hauptbeschäftigung meiner Vorfahren.

Vor fast allen Häusern der Straße steht die kleine Bank, der Ausruh- und Ausschauplatz der Alten. Am Sonntagnachmittag sitzt vor jedem Haus ein altes Mütterchen in Schwarz oder ein alter Mann mit blankgeputzten Stiefeln und Hut und lassen sich von den Vorbeigehenden grüßen.

»Ruhen Sie sich aus, Onkel János oder Tante Teréz?« fragen sie. Und obwohl sie sehen, daß die Alten offensichtlich nichts anderes tun als dort zu sitzen und sich auszuruhen, empfiehlt es die Höflichkeit, danach zu fragen. Vielleicht auch noch nach der werten Gesundheit, wobei der Fragende sich etwas mehr Zeit für die Antwort der Alten nehmen sollte, denn das Thema kann mit zwei, drei Sätzen nicht abgehandelt werden. Die kleine Bank der Alten ist wie ein Logenplatz im Theater, den man sich mit jahrzehntelanger mühevoller Arbeit verdienen muß. Und so kommt es, daß die Alten zwar nicht mehr viel in Haus und Garten tun können, von den Jüngeren bei wichtigen Entscheidungen dennoch gefragt werden: »Wie denken Sie darüber, Vater oder Mutter?«

Großmutter wird von meinen Eltern nicht gefragt, aber sie gibt ihre Kommentare auch ungefragt ab. Nach Großvaters Tod ist sie jetzt das altersmäßige Oberhaupt der Familie. Jedenfalls meint sie das und benimmt sich auch so.

»Was mischen Sie sich überall ein?«

Vater ist über Großmutters ungebetene Ratschläge ungehalten. Beleidigungen fliegen durch die Luft, vom Vater zur Großmutter hin und von der Großmutter zum Vater zurück. Vater flucht, Großmutter weint, Mutter versucht zu schlichten und obwohl sie Vaters Meinung ist, steht sie ihm nicht bei. Großmutter zieht sich zurück. Sie geht in ihre Wohnküche. Auf einem kleinen weißen Schränkchen, das früher als Ablageplatz für den Wassereimer diente, hat sie sich einen Hausaltar aufgebaut. Drei in zarten Farben bemalte Heiligenfiguren aus Biskuitporzellan stehen darauf und zwei hohe schmale Glasvasen, die immer mit Blumen gefüllt sind. Über dem Altar hängt ein kleines Holzkreuz. Großmutter kniet davor und betet. Anschließend beschwert sie sich, daß ihre Knie weh tun. Nach kurzer Zeit kommt sie mit geröteten Augen, aber gutgelaunt wieder heraus.

»Ihr habt die Ziege wieder nicht rechtzeitig eingesperrt«, bemerkt sie trocken und verschwindet im Garten.

Vater flucht wieder, weil er weiß, was das bedeutet: Die Ziege ist, da das Gartentor offensteht, wieder da drin gewesen und hat zum zigstenmal seine neue Weinzüchtung abgefressen. Merkwürdigerweise rührt das Tier nichts anderes an als diesen einen Rebstock mit den rötlichen Knospen, der solange die Ziege da ist, kaum eine Chance hat, stattliche Blätter, geschweige denn Früchte anzusetzen.

Einmal im Jahr die Sintflut ebook

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