Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 8

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Blaue Schlafaugen

Mutter kommt eines Abends mit strahlendem Gesicht in die Küche. »Wir fahren nach Budapest, du und ich«, sagt sie und schaut mich an. »Ich komme gerade von Großtante Klára.« Was das bedeutet, weiß ein jeder in der Familie: Mutter hat von der Großtante Geld geborgt. Und weil Großtante Klára meine Großmutter genausowenig mag wie ihren verstorbenen Schwager, verschwestert sie sich mit meiner Mutter. Sie kommt oft zu uns herüber und erkundigt sich nach besonderen Kochrezepten.

Mutter kocht anders, viel raffinierter, mit weniger Fett als es in gewissen Haushalten üblich ist, sagt Großtante Klára und überzeugt sich mit einem Seitenblick davon, daß Großmutter es hört. Mir fallen dabei die Streitereien über den Fettverbrauch in unserem Haushalt ein und wie Mutter, jedesmal, wenn Großmutter Mittagessen gekocht hat, demonstrativ eine Kelle nimmt und die dicke Fettschicht vom Essen abschöpft. Großmutter könnte sie dafür in einer Kelle Wasser ertränken, wie es bei uns heißt, am liebsten in der Kelle, mit deren Hilfe Mutter sie soeben der Verschwendungssucht überführt hat.

Mutter zeigt mir Budapest, ihren Wohnort in den Kriegsjahren. Es ist Oktober 1956 und die Geschäfte in der Promenierstraße in der Innenstadt sind voller Sachen, die ich nie zuvor gesehen habe. Eine Puppe hat es mir in einem Schaufenster angetan, eine mit lockigen braunen Haaren und blauen Schlafaugen.

Blaue Augen sind für mich das größte, was der liebe Gott einem Menschen mit dunklen Haaren schenken kann.

Für meine Mutter offensichtlich auch, weil sie, so oft sie kann, ihre Enttäuschung über die plötzliche und heimtückische Veränderung meiner Augenfarbe äußert.

»Du warst vielleicht ein halbes Jahr, bis dahin waren deine Augen blau, ein tiefes Veilchenblau, und dann gucke ich nach 'ner Weile mal genau hin und was sehe ich: Das Kind hat auf einmal braune Augen!«

Eine Schande. Daß ich ihre braunen Augen geerbt habe, kommt ihr nicht in den Sinn. Die ganze väterliche Familie besteht aus Menschen mit dunklem Haar und blauen Augen. Und alle haben eine helle Hautfarbe. »Weiß wie Milch«, wie Großmutter es nennt. Sie bemüht sich nach Kräften, ihre Haut nicht allzusehr der Sonne auszusetzen, denn sie bevorzugt die vornehme Blässe. Wenn sie besonders wütend auf meine Mutter ist, nennt sie sie eine halbe Zigeunerin.

»So braun, von Natur aus, sind nur diese fahrenden Leute«, sagt sie, weil sie es nicht wagt, ein zweites Mal jenes Wort in den Mund zu nehmen.

»Trotzdem haben sich die Männer nach mir umgedreht«, schlägt Mutter zurück. »Freilich, als ich jünger war ...«

Ihr Blick ist verträumt. Ob sie dabei an meinen Vater denkt? Der Zustand von Verträumtheit hält nicht lange an, Mutter holt wieder aus. »Hier kann man sich nicht mal anständig waschen, ohne beobachtet zu werden, mit welcher Seife und was man anschließend anzieht! Hier wird einem hinterherspioniert, man sollte sich was schämen!«

Mutter redet sich in Rage und Großmutter weiß, wann sie sich zurückziehen muß. Denn man und hier sind nur zwei Ersatzwörter für Großmutters Ausspioniererei der Schwiegertochter, für die kleinen Teufeleien, die sie sich ausdenkt, um die Frau ihres ältesten Sohnes zu ärgern. Großmutter zieht sich also zurück.

Das Haus der Groß- und Urgroßeltern beherbergt zwei Wohnungen, die hintereinander aufgereiht sind. Die Wohnstätten sowohl der Großeltern als auch später der Eltern hat je eine Wohnküche und eine gute Stube, alle Räume sind mit Dielenfußböden und Balkendecken ausgestattet. Die Dielen weißgescheuert, die Decken weißgestrichen, die Sprossenfenster klein, alle haben von innen einhakbare Läden und vor den verglasten Türen eine zweite aus massivem Holz. Das alte Haus wurde aus Lehmziegeln gebaut. Vater schimpft auf die Urgroßeltern, die, anstatt sie für das Haus zu verwenden, eine Zweimetermauer aus Ziegelsteinen um das halbe Grundstück haben errichten lassen. Dafür ist das Dach mit vornehmen Holzschindeln gedeckt.

»Damit es besser brennt«, kommentiert Vater aufgebracht. »Alles Angabe, Augenwischerei«, wettert er weiter, »die Leute sollten denken, die Mártons haben es dicke. Von wegen!«

Dann kommt die Geschichte vom Urgroßvater János, der Betrügern aufgesessen war und sein gesamtes Barvermögen nebst der noch nicht eingebrachten Weinernte gegen wertlose Aktien eingetauscht hatte. Als er es erfuhr, bekam er einen Schlaganfall und starb. Nun müssen wir alles ausbaden. So hat Vater den Unterschied am eigenen Leib erfahren müssen, wie das ist, wenn man vom Großbauerssohn plötzlich in den Sohn eines verarmten Großbauern verwandelt wird. Vielleicht war das auch der Grund für seine spätere Entscheidung, als die LPGs bei uns nach sozialistischem Muster den Grundbesitz ablösen sollten, als einer der ersten in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft einzutreten. Er hat mit Grundbesitz, den man einem jederzeit wegnehmen kann, nichts mehr zu tun haben wollen.

Aber ich will schon wieder den Geschehnissen vorauseilen. Wir schreiben immer noch das Jahr 1956, Großvater ist soeben gestorben und Vater muß seine Stelle antreten. Mutter hat es fünf Jahre zuvor mit viel Wehklagen und Druck auf Vater geschafft, anderthalb Straßen weiter ein Häuschen mit Garten zu mieten. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, selbstständig zu werden und nicht mehr von den Eltern ihres Mannes abhängig zu sein. Oft genug hat sie sich die Bemerkungen der Vatersippe anhören müssen, sie habe als Habenichts und ohne den urkundlichen Nachweis anständiger Vorfahren in die hochherrschaftliche Márton-Familie eingeheiratet, und daß sie froh sein sollte, aufgenommen worden zu sein.

»Euer Dienstmädchen bin ich, hab zwei kräftige Hände zum Arbeiten mitgebracht, darum habt ihr mich aufgenommen«, schießt Mutter zurück, denn sie muß sich oft gegen die Hinterhältigkeiten der buckligen Verwandschaft ihres Mannes wehren. Mutter ist wütend auf die verarmten Großbauern, die aber so tun, als hätten sie immer noch haufenweise Hab und Gut, und zieht, mit ihrem Mihály im Schlepptau und mit mir im Bauch, ein paar Häuser weiter. Im Garten züchtet sie erstmal Nelken.

Weit und breit gibt es keine Schnittblumen zu kaufen, ist ihr Geschäftsargument, wenn die Leute unken, es wäre vergebliche Liebesmüh, alle hätten hier doch Blumen in den eigenen Gärten im Überfluß. Mutter läßt sich nicht beirren und das Geschäft geht gut an. Die Leute haben zwar Gartenblumen, aber die wollen sie auch dort lassen und ihnen die schönen Köpfe nicht abschneiden. Mutter besorgt Samen auch von besonderen Blüten, die die Dörfler noch nie vorher gesehen haben, die sie aber plötzlich alle haben wollen. Mutter ist schlau und verkauft nur Schnittblumen. Die Samen müßt ihr schon selber auftreiben, meine Quelle verrate ich nicht.

Vater entdeckt seine Liebe zur Imkerei. Wie alles, was er anfängt, betreibt er auch das Bienenzüchten mit System. Er besorgt Fachliteratur, die nötige weiße Schutzkleidung mit Haube, in der er aussieht wie ein Außerirdischer. Die Bienen bevölkern Mutters Blumen, summen von morgens bis abends und ich spiele mit ihnen. Sie stechen mich nie. Vater erzählt die Geschichte von der Bienenkönigin wieder und wieder, auch wenn sie niemand mehr hören will. Und irgendwann weiß ich nicht mehr, ob ich mich erinnere oder nur die Erzählung meines Vaters wiederhole.

Er hatte gerade ein neues Volk Bienen absondern wollen, das Häuschen war schon bezugsfertig und die Königin flugbereit. Nur Vater war im entscheidenden Augenblick nicht zur Stelle. Dafür spielte ich im Garten, auch mit den Bienen. Und als Vater es mitbekam, waren meine bekleideten und unbekleideten Körperteile voller summender Insekten und es kamen immer mehr hinzu. Vaters Erzählung erfährt bei jeder Wiedergabe neue, überraschende Wendungen und immer ein bißchen mehr Dramatik. Demnach stand ich heldenhaft und bewegungslos da, bis er, mit Schutzhaube und Handschuhen bewaffnet, zu mir zurückkam. Zum Glück entdeckte er bald die Königin und nachdem er sie einfing, flog das Volk bereitwillig hinterher in das bereits vorbereitete Häuschen. Er versäumt es nicht, jedesmal zu erwähnen, daß er meine hysterisch schreiende Mutter ins Haus einsperren mußte, um mich gefahrlos von den Bienen befreien zu können. Daß er mit Mutter ausnahmsweise nicht schimpfte, weil sie an am selben Abend noch in der Kirche, aus Dankbarkeit über den glücklichen Ausgang der Geschichte, ein paar Kerzen abbrennen ließ, verschweigt er.

Die selbständige Idylle meiner Eltern währt nicht lange. Als Großvater das Bett nicht mehr verlassen kann, übernimmt Vater, ganz der gehorsame älteste Sohn, den Hof und die übriggebliebenen Felder. Nun leben meine Eltern, um zwei Kinder vermehrt, weil zwischendurch, ein gutes Jahr nach mir, auch noch mein Bruder geboren wird, wieder im Haus der Großeltern. Die beiden Räume zur Straße, gute Stube und Wohnküche, gehören uns. Obwohl die Stube größer ist, spielt sich das Leben in der Küche ab. Erst später werden meine Eltern in dem größeren Raum ein Wohn-Schlafzimmer einrichten.

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