Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 11

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Stille Nacht

Großmutter läßt sich von der politischen Lage der Nation samt Dissidenten- und Rückkehrerschicksale nicht beeindrucken. Sie rückt Möbel, weil sie ein Ungetüm von Webstuhl mit gedrechselten Säulen aufstellen lassen will. Ihre zierlichen, weißlasierten Möbelstücke, die ihr verstorbener Bruder, Gott sei seiner Seele gnädig, ihr als Hochzeitsgeschenk gezimmert hatte, Tisch, Hocker, Regal und Schränkchen, müssen weichen, sie werden an der Wand aufgereiht. Früher hat Großmutter grobe Leinenwäsche gewebt und die schmalen Stoffbahnen mit einer Naht in der Mitte verbunden. Bei Bettüchern eine praktische, aber im Wortsinne drückende Angelegenheit.

In diesem Winter will Großmutter Flickenteppiche weben. Sie hat bei einer Textilfirma säckeweise Stoffreste bestellt und wir müssen die Stoffstücke erst zu Fäden schneiden. Großmutter zeigt mir, wie es geht. Wenn sie es nicht sieht, sichere ich ein paar größere Stücke für meine Puppe, die ich hoffe, unter dem Weihnachtsbaum zu finden. Doch die Puppenlappen verschwinden am nächsten Morgen schon aus meiner Kiste. "Die sind viel zu schade für solche Kindereien", erklärt Großmutter und ich verstecke wieder ein paar Stoffstücke, die sie wieder findet und beschlagnahmt.

Der Webstuhl wird mit den Kettfäden bespannt, das sind die Längsfäden aus fester Baumwolle. Der Schuß, das sind die Querfäden, in dem Fall unsere zerschnittenen Stoffe, werden auf Schiffchen gewickelt und zwischen die Kettfäden geschoben. Der Webstuhl hat einen Tritt und es rattert laut, wenn Großmutter die Stellung wechselt, damit die Kettfäden versetzt über die Querfäden kommen, um diese festzuhalten. Ein Muster gibt es nicht, die Stoffäden werden kunterbunt aneinandergeknüpft und auf die Schiffchen gewickelt. Wir weben, wie es kommt. Das Ergebnis unserer Arbeit sind Läufer und kleinere Teppiche. Ich darf auch einen kleinen für mich behalten, als ersten Arbeitslohn.

Während ich Großmutter beim Aufschneiden der Stoffstücke helfe, singt sie und beklagt, daß ich kein Gehör hätte. Sie meint kein musikalisches. Großmutter hat eine Stimme wie ein Engel, hoch und klar, ohne Schnörkel, schön. Ich versuche sie nachzuahmen, aber mir rutschen immer die Töne weg.

»Schade«, sagt Großmutter nur und damit ist für sie meine musikalische Erziehung beendet. In ihrer und der Familie meines Großvaters gibt es nur Leute mit gutem Gehör, sagt sie. Was die Familie meiner Mutter angeht, weiß sie allerdings nichts Genaueres...

Überall, wo ich allein bin und meine Stimme herauslassen kann, singe ich aus voller Kehle. Meistens falsch. Mein Übungsstück ist das Weihnachtslied Stille Nacht. Es ist kurz vor Weihnachten. Die Tage vergehen, ich bin schon heiser, aber immer noch nicht gutgehörig. Doch eines nachmittags, einen Tag vor Heiligabend, singe ich fehlerfrei Stille Nacht. Ich kann es nicht fassen und versuche es wieder und wieder. Einmal in der richtigen Spur, bleibe ich darin, für immer. Ich stimme ein anderes Lied an und auch das geht.

Unter dem Weihnachtsbaum steht die Familie, es ist wie immer. Nur daß ich eine große Überraschung habe, von der noch niemand etwas weiß. Der Baum ist vollgehängt mit dem traditionellen Salonzucker - das sind weiche Fondant-Bonbons in Silber- und Goldpapier gewickelt, an den fransigen Enden wie Knallbonbons zugedreht -, mit Kerzen, die schon brennen und Weihnachtskugeln in allen Farben und oben die glitzernde Spitze, die die Decke der guten Stube berührt.

Mutter legt schnell noch die Schürze ab, sie kommt gerade aus der Küche. Mein Bruder steht linkisch vor dem Baum; er befürchtet, daß der Weihnachtsmann kommt, wie im letzten Jahr, und er muß wieder seine Missetaten aufzählen. Großmutter bringt eine Schüssel mit Mohnpielen in Honig eingelegt. Vater nestelt noch an dem Baumschmuck, er will seine Verlegenheit und den Unwillen, Weihnachten spielen zu müssen, verbergen.

Als Großmutter das erste Weihnachtslied anstimmt, tut Vater so, als würde er mitsingen, aber Großmutter sieht ihn auffordernd an. In sein Schicksal ergeben, singt er die zweite Strophe des Liedes mit, danach alle Lieder. Erst bei Stille Nacht merken sie, daß ich schon die ganze Zeit mitsinge, ohne aus dem Chor zu fallen. Großmutter ist still, meine Eltern auch. Sie lassen mich das Lied noch einmal von vorn singen, allein. Großmutter hat ein großes Staunen und einen noch größeren Stolz in den Augen.

Unter dem Baum finde ich meine Puppe aus dem Budapester Schaufenster. Mutter hatte sie für mich von einer Verwandten besorgen lassen. Geschenkpapier knistert, die Kerzen werfen ihr flackerndes Licht auf Weihnachtskugeln und bunten Baumbehang, es duftet nach Gebäck, Wachs und Tannennadeln. Es ist Friede auf Erden und in unserer Familie. Anstatt des immerwährenden Streits herrscht besinnliche Stille. Einmal im Jahr, zu Weihnachten.

»Sie blinkert nicht mehr«, sagt plötzlich mein kleiner Bruder und hält meine neue Puppe hoch. Wo vorher noch ihre blauen Augen strahlten, starren mich jetzt leere Höhlen an.

»Ich hab gar nichts gemacht«, sagt mein Bruder und steht mit hochgezogenen Schultern da, die Mundwinkel nach unten gerichtet, zum Weinen bereit.

»Er kann nichts dafür«, sagt Mutter, legt ihre Hand auf den Kopf meines kleinen Bruders und geht mit ihm in die Küche.

Und es nützt nichts, daß mein Vater noch an diesem Heiligen Abend die Augen der Puppe repariert, indem er die Schleife im Nacken der Puppe öffnet, ihr den Kopf abnimmt und den Steg, der die beiden blauen Glasaugen verbindet, mit Isolierband wieder zusammenklebt. Der Kopf ist wieder an seinem Platz, aber die Augen meiner ersten und einzigen Puppe bleiben in meiner Erinnerung für alle Zeiten leer.

»Anna, komm schnell, hilf mir!«

Der Schrei des Vaters aus der guten Stube, wenige Tage nach Heiligabend, erreicht Mutter am Kochtopf. Sie rührt erst einmal seelenruhig weiter. Als Vaters Stimme immer ungehaltener wird, geht sie nachsehen. Und bleibt auf der Schwelle stehen. Weil ich hinter ihr hergegangen bin, bietet sich mir wie Mutter der gleiche Anblick: Vater steht hinter dem Weihnachtsbaum und versucht ihn vor dem Umkippen zu bewahren.

Noch bevor ich mich davonschleichen kann, höre ich schon: »Hiergeblieben!« Vaters Aufforderung verheißt nichts Gutes, denn er hat unsere Missetaten entdeckt. Mein Bruder und ich gingen abwechselnd in die gute Stube, wenn wir uns unbeobachtet fühlten, um den süßen Baumbehang abzuernten. Die freien Enden der Salonzuckerpapiere kann man mit Leichtigkeit aufdrehen, den Inhalt entnehmen und das Ende wieder zudrehen. Auf den ersten Blick merkt niemand, daß Räuber am Werk waren.

Wir haben übertrieben. Nachdem mein Bruder mich bei einem Klaugang erwischt hat, habe ich ihm meine Methode, die Bonbonenden zu öffnen, verraten müssen, sonst hätte er mich verpetzt. Und weil wir beide immer die hinteren Stücke abgepflückt haben, damit es nicht sofort auffällt, hat der Baum ein beträchtliches Ungleichgewicht bekommen.

Dieses Ungleichgewicht versucht Vater jetzt mit beiden Händen auszugleichen. Und anstatt ihm zu helfen, steht Mutter immer noch an der Schwelle und lacht, daß ihr die Tränen über die Wangen rollen. Vater ist wütend, seine Arme sind erlahmt, aber er kann den Baum nicht loslassen, wenn nicht die ganze Pracht nach vorne kippen sollte. Irgendwann fängt er auch zu lachen an, schimpft ein bißchen, aber nicht mit Überzeugung wie sonst, und sagt, ich soll den Baum an der Vorderseite von seiner süßen Last befreien. Mein Bruder kommt auch dazu und wir beide sind sehr fleißig beim Abnehmen der Doppelbehänge, soweit wir herankommen.

Großmutter eilt nun auch herbei, sie muß die Aufregung mitbekommen haben. »So eine Schande«, zetert sie, »den Baum vor den Heiligen Drei Königen seines Schmuckes zu berauben.«

Wir hören nicht hin und ernten weiter, bis der Baum ohne Vaters Unterstützung wieder steht. So bleibt die untere und hintere Seite unseres Weihnachtsbaumes bis zum 6. Januar kahl und mein Bruder und ich teilen uns die Zuckerstücke redlich, obwohl ich mehr gepflückt habe. Er ist schließlich kleiner, sagt Mutter, und dieses Argument behält sie für alle Fälle bei, wenn ich nicht freiwillig bereit bin, meinem Bruder den gleichen Anteil von irgendetwas abzutreten.

Daß mein Bruder mehr Zuwendung braucht, verstehe ich sehr früh und versuche nicht mehr, bei Mutter das gleiche Maß einzuklagen. Statt dessen mache ich mit Großmutter etwas Praktisches. Sie bringt mir alles bei, was man für einen eigenständigen Alltag braucht. Und dieses Praktische ist heute noch die Grundlage von allem, was ich tue. Großmutter hat mir eine ganze Truhe voller Schätze geschenkt und die habe ich im Laufe meines Lebens vermehrt. Auch wenn manchmal der Inhalt der Truhe nicht so aufgeräumt ist wie es bei Großmutter der Fall war, finde ich für jede Idee etwas, was mich ein Stück weiterbringt. Etwas Brauchbares eben. Das war für sie sehr wichtig.

Großmutter war das vorletzte Kind von sechsen, vier Mädchen und zwei Jungs. Als sie zur Schule ging, das war im Jahre 1908, gab es nur die Pflicht, sechs Klassen zu besuchen. Weil Großmutter in vielen Dingen begabt war, sollte sie auf die weiterführende Schule kommen. Die Lehrer belagerten die Eltern, schrieben Briefe und bestellten sie in die Schule, um für meine Großmutter ein gutes Wort einzulegen, aber alles Zureden half nichts. Die Eltern waren zwar nicht bettelarm, aber sie konnten es sich nicht leisten, eines ihrer Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Und dazu noch ein Mädchen!

Mit siebzehn wurde meine Großmutter verheiratet, mit meinem großen, schwarzhaarigen und blauäugigen Großvater. Sie zog zur Sippe ihres Mannes und brachte mit achtzehn ihr erstes Kind zur Welt. Das war mein Vater. Zwei Jahre danach kam noch ein Kind, ebenfalls ein Junge und noch vier Jahre später ein Mädchen. Großmutter war selig, endlich eine Tochter zu haben. Das Kind starb im Alter von sechs Wochen, noch bevor Großmutter Kleider für sie nähen konnte. Dann hatten Großvater und sie noch einen Versuch, ein Mädchen zu zeugen, unternommen. Zehn Jahre nach meinem Vater wurde mein jüngster Onkel geboren. Danach wurde die Quelle des Kindersegens zum Versiegen gebracht.

Großmutter wurde von ihrer Schwiegermutter nicht sonderlich freundlich behandelt, obwohl jene auch nur eine Eingeheiratete war. Daß Großmutter recht froh sein sollte, vom Sohn einer der angesehensten Familien der Gegend geheiratet worden zu sein, obwohl sie einer nichtbegüterten Familie entstammte, das hatte Großmutter von ihrer Schwiegermutter oft zu hören bekommen. Und die Ungerechtigkeit, die ihr in der Familie ihres Mannes widerfahren war, hielt sie nicht davon ab, ihre Schwiegertochter, meine Mutter, nun ihrerseits mit ähnlichen Aussprüchen zu bedenken. Ein ewigwährender Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist.

Mein Vater wurde von meinem Großvater, der für mich der sanftmütigste Mensch der Welt war, genauso streng erzogen wie er das von seinem eigenen Vater kannte. Die Zärtlichkeit, die er seinen Kindern nicht geben konnte, verschenkte er verschwenderisch an die Enkelkinder, und weil ich die längste Zeit da war, als er noch lebte, gab er fast alles mir. Und wie Großvater, der Fremden gegenüber immer freundlich und hilfsbereit war, hatte mein Vater einen Großteil seiner Aufmerksamkeit fremden Kindern zukommen lassen. Mein Bruder und ich hatten es nicht verstanden, aber auch nicht gewagt, seine Zuwendung für uns einzuklagen. Darum bekommen die wenigen Erinnerungen, in denen er sich mit uns abgab, einen besonderen Glanz.

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