Читать книгу Einmal im Jahr die Sintflut ebook - Alana Maria Molnár - Страница 4
ОглавлениеLetzter Arztbesuch
Beim Einsetzen meiner ersten eigenen Erinnerungen bin ich knapp fünf Jahre alt. Mein Großvater ist neunundfünfzig und krank. Er ist so krank, daß er im Bett liegen bleiben muß, er ist halbseitig gelähmt. Weder die rechte Hand noch den rechten Fuß kann er bewegen, er spüre darin nichts, sagt er, nur eine große Kälte. Doktor Horváth kommt zweimal die Woche zum Großvater, um ihn zu behandeln. Feri, der Barbier auch, nur an anderen Tagen als der Arzt. Feri hat ein Friseurgeschäft in der Hauptstraße, eine kleine dunkle Kammer mit immer schmutzigen Fensterscheiben. Während er Hausbesuche macht, bedient seine betagte Mutter die Kundschaft; rasieren und Haare waschen kann sie schließlich auch. Feris gewellte blonde Haare duften nach Pomade, sein rosiges Gesicht ziert eine noch rosigere Nase und er bringt immer gute Laune mit. Mit ihm weht ein frischer Wind ins Krankenzimmer, das eigentlich die Wohnküche meiner Großeltern ist.
Wie ein Zauberer im Varieté holt Feri ein großes Tuch aus seiner Tasche, die ein bißchen wie die Arzttasche von Doktor Horváth aussieht, nur daß sich ab und an eine sorgfältig verkorkte Flasche zwischen die Utensilien seiner Zunft verirrt. Die Flasche sieht genauso aus wie die, die Großmutter für zahlende Kundschaft im Weinkeller abfüllt.
Feri wedelt ein paarmal mit dem blütenweißen Tuch, bevor er es Großvater umbindet. Großvater sitzt jetzt aufrecht im Bett, im Rücken von mehreren Kissen gestützt. Inzwischen hat Großmutter schon warmes Wasser in die Schale gegossen, die Feri aus den Untiefen seiner Tasche hervorgezaubert hat. Dann kommt der große Auftritt des Figaro: Mit lockeren Bewegungen aus dem Handgelenk rührt er Seifenschaum in der Schale an, vorher hat er das ausklappbare Rasiermesser an einem Lederriemen geschärft. Ich halte jedesmal vor Spannung die Luft an, wenn Feris Messer an Großvaters faltigem Hals und an dem hervorstehenden Adamsapfel hinauf- und hinuntergleitet.
Am Nachmittag kommt wieder Doktor Horváth zum Großvater. Großmutter schickt mich wie immer hinaus.
»Du kannst bald wieder hereinkommen«, sagt sie, »wenn der Herr Doktor fertig ist.«
Vor der Tür lausche ich auf jedes Geräusch. Ich höre Großvater stöhnen. Als der Arzt weg ist, tröste ich ihn damit, daß ich ihn garantiert heilen werde, weil der Doktor das offensichtlich nicht kann.
Früher als sonst schläft Großvater an diesem Abend ein.
»Sei leise, wenn du hinausgehst«, ermahnt mich Großmutter, »ich bin froh, daß er jetzt schläft und keine Schmerzen spürt.«