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ОглавлениеEnde Februar und Anfang März erhellen Lichtschlangen die Nächte im Valtournenche. Das Tagebuch spricht deutlich: Am 27. Februar sprengen die Rebellen mit Sägen, Dynamit, Sprengkapseln und Zündschnüren einen Mast in die Luft, der den Strom nach Turin leitet, wo die Arbeiter zu streiken begonnen haben: eine Hochspannungsleitung von 270 000 Volt. Ein trockener Knall, ein weißes Licht und dann ein rotes Licht, auf das eine zweite Explosion folgt. Nach der Aktion bleibt keine Zeit zum Feiern. Eilig laufen sie zur Baustelle Volpe und machen sich an die Arbeit: Da gibt es so viel zu holen, was sie schultern und wegtragen müssen … Nun drohen die Deutschen und die Faschisten der Republik von Salò, die Wehrdienstverweigerer zu erschießen.
Doch einige Tage später nehmen die Saboteure einen Gittermast des Kraftwerks von Breil aufs Korn: In der Nacht unterbricht das Kreischen von Sägen an Stahl die Stille des Waldes. Nachdem die Sprengstoffkästen und die Lunten platziert sind, begibt sich die Gruppe auf eine Anhöhe, um das Schauspiel zu genießen: plötzliche Helle, Explosion, rote Schlange am Himmel. Und am ersten Frühlingstag gehen die Rebellen, manche mit dem Hut der Alpini auf dem Kopf, zum Kraftwerk von Castiglion Dora, setzen den Wächter fest und sprengen die Leitungsrohre.
Weitere Vögelchen fliegen aus dem Nest davon. Bis der April kommt, la fleur d’avril ne tient que par un fil. April ist ein besonderer Monat. Im April hat Miló die Schweiz verlassen, im April hat er geheiratet, im April beginnt der Kuckuck zu rufen: «Kuckuck, mein Kuckuck, wie viele Tage gibst du mir noch zu leben?»
Ende vergangenen Monats hat es in La Suelvaz einen Ausbruch gegeben. Eines Nachts haben sich Celestino, Vittorio, Gino und Bich, der Säufer, ein Maschinengewehr, zwei Breda, drei Kisten Munition und sieben Musketen gekrallt und sind auf und davon. Angeblich hat es was mit Chanoux und der Unabhängigkeit des Aostatals zu tun: Im Valtournenche soll eine neue Autonomistengruppe entstehen. Miló und die anderen haben sie in den Wäldern verfolgt, oberhalb von Misérègne, dem Reich des Elends. Giovanni hat fünf Magazine geleert, indem er im Wald breitgestreute Garben abfeuerte, und die Flüchtigen haben die Waffen zurückgelassen, auch Celestino, der als Oberfeldwebel den Russlandfeldzug mitgemacht hat und das Kriegshandwerk gewöhnt ist. Ob sie bestraft werden? Der Ältestenrat der Bande hat sich für die Todesstrafe entschieden, sie soll am Ostersonntag vollzogen werden. Wird es gelingen, die Sache zu klären?
Anfang April ist eine schlimme Nachricht eingetroffen; Carlo, das heißt Jean Chabloz, der Genosse aus der ersten heimlichen Versammlung, ist festgenommen worden, sie haben seinen Ring mit Hammer und Sichel gefunden: ihm einen Eisenring um den Kopf geschraubt, Benzin in die Arme gespritzt, ihn ausgepeitscht, mit Bajonetten, Fäusten und Fußtritten massakriert …
In der Nacht vom Samstag 22. April
geht Miló auf Kontrollgang mit Mario,
dem Jungen, der erst fünfzehn Jahre alt ist:
Vor Tagesanbruch erreichen sie das Kraftwerk von
Covalou
im Valtournenche, hinter dem Grat von Champlong,
tauchen die Masten der Druckleitung auf,
die Feinde, die fallen sollen
im ersten Licht der Morgenröte,
man muss die Gegend erkunden,
in Kürze sitzen die Bauern
mit dem Schemel am Hintern im Stall beim Melken
wie vor hundert Jahren, immer das gleiche Leben.
Miló umklammert den Fotoapparat in der Tasche,
in Kürze geht die Sonne auf, in La Suelvaz die Genossen
träumen von einer Frau,
der Wachposten friert in seinem Häuschen,
der ganze schwarze Wind des weiten Tals,
das Rauschen des Sturzbachs,
hier muss man warten auf das Licht,
das sonntägliche Morgenrot, die neue Sonne,
wann wird es möglich sein, in einer Gesellschaft
zu leben, in der alle gleich und alle verschieden sind
so wie die Blätter der Eiche?
Die Schönheit zu genießen
wie der Sperber, der am Himmel die Flügel ausbreitet?
Bald setzen die Frauen zur Messe den Schleier auf
die Kühe haben am Brunnen getrunken
in der Küche kocht man peilà
heute Abend geht’s nach Septumian zum Treffen mit dem Kommando
Pierino ist abgehauen,
seit drei Tagen saß er bei Solari und trank,
da, es wird hell, Miló knipst die Masten,
die in die Luft fliegen sollen,
seine Männer werden kommen mit dem Sprengstoff
man braucht Disziplin,
Brot und Käse.
Mario ist im Gras eingenickt
er ist doch erst fünfzehn
jetzt steigen sie zur Staatsstraße hinunter, Vorsicht,
hier fährt das Auto der Faschistenrepublik durch,
jetzt können wir gehen, sagt Miló, sie sind vorbei,
ja, sie sind vorbei
er umklammert den Fotoapparat in der Tasche
im Talgrund überqueren sie die Straße
hinter der Abzweigung nach Pontey,
doch da, auf der Staatsstraße, vier Lastwagen
kehren von der Razzia zurück
die Gewehrläufe noch heiß
verfluchter Mist
Miló und Mario rennen auf die Häuser von Breil zu
sie rennen, rennen
dann jeder auf eigene Faust
dort ist die Bahnunterführung
weg von den Häusern
Vergeltungsmaßnahmen der Schwarzhemden,
sie brennen nieder, foltern, nehmen Geiseln
bloß weg von den Häusern von Breil!
Miló umklammert die Handgranate in dem Säckchen
das Leinensäckchen hat seine Ida ihm genäht
die Frau, die er mehr liebt als alle anderen Frauen
dort vorn ist die Brücke über die Dora
da ist sie, die Brücke
Miló zieht die Granate heraus
dreht sich zu den Faschisten um und schreit
doch die Garbe trifft ihn ins Gesicht, mitten ins Gesicht
so lassen sie ihn liegen, neben der Dora
das Gesicht voller Blut
nehmen ihm Schuhe, Uhr und Ring ab
ja, auch den Ring, den Ida ihm geschenkt hat
lauf wenigstens du, Mario, lauf, wirf dich ins Heu
die Heugabel des Soldaten kann dich nicht finden
doch jetzt schießen sie erneut
die Musketiere aus den Alpen schießen
schießen auf ein kleines Mädchen
aus einem Haus kommt noch ein Junge
hat die Schüsse gehört, will nachsehen, was los ist
und die Garbe trifft ihn voll:
es ist Vittorio, einer aus dem Valtournenche
ein Partisan von neunzehn Jahren
er war heimgekommen, um die Weiden zu
bewässern.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Heute ist Sonntag, ein Sonntag im April, und in allen Dörfern läuten früh die Glocken zur Messe, die Frauen legen den schwarzen Schleier an, die Heilige Maria vom Schnee verlässt ihre Nische, um dich anzusehen, setzt das Kind, das sie im Arm trägt, auf den Boden und lässt es aus den ersten Blumen eine Girlande winden, sie tritt zu dir und wischt dir das Blut vom Gesicht, und mit ihr kommen nun die Madonnen aus den Nachbardörfern, Notre-Dame des sept douleurs, Notre-Dame de Pitié, Notre-Dame de l’Epine und Notre-Dame de la Guérison mit dem Wundermantel, bald wird hier das Weidenröschen zwischen den Trümmern blühen.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Mario konnte sich retten, tsamba de bouque, das Hinkebein, wollte ihn mit der Heugabel aufspießen, doch er hat sich tief im Heu verkrochen, wie eine Eidechse ist er in den Schober gehuscht und wartet nun auf dich, um nach La Suelvaz zu laufen, wo die Bande dich braucht, damit die Männer losgehen und die Masten in die Luft sprengen können.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Da ist Ida allein, mit der Kleinen auf dem Arm, die noch einmal deine Stimme hören will, und dann machst du für sie den Kuckuck nach, der nun zu rufen beginnt, um dich zu wecken: Ist Sterben wirklich, als erwachte man aus einem tiefen Schlaf? Jeden Tag fliegt eines fort und ein anderes kommt, lass uns nicht allein dem Lied der Dora lauschen.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Jetzt kommt der Pilot Bassanesi mit seinem Eindecker und rettet dich, er nimmt dich mit; er ist in der Schweiz losgeflogen und hat deine Mutter Joséphine-Amérique dabei, die die steinernen Löwen der Place Orientale verlassen hat, um zurückzukehren nach Fénis, wo sie ein junges Mädchen war, sie hat dich schon ziemlich lange nicht mehr gesehen, verstecke dich nicht, steh aus dem Staub auf, Miló, zieh dich um, empfange sie im Sonntagsstaat.
Miló, steh auf, schlaf nicht ein.
Zeige dein Gesicht noch einmal den Arbeitern von Cogne, die mit glühenden Stahlschlangen aus dem ganzen Tal herkommen, um zu beweisen, dass der Kampf für die Unabhängigkeit nicht nur eine Region betrifft, sondern jeden Einzelnen, so wie du dachtest: Die Unabhängigkeit gilt für jeden von uns, in unserem Leben, wenn es die Ketten abwirft.