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Epilog
ОглавлениеParma, 3. März 2009
Ich fahre nach Oltretorrente, um Ida Summer zu besuchen, Milós Witwe. Ich überquere den Ponte di Mezzo. Auf der Wiese am Flussdamm sind noch weiße Schneeflecken, und am Brückengeländer lehnt ein alter Mann und beobachtet ein Nutria, eine Biberratte, die langsam aus dem grünen Wasser kommt, um an Land zu klettern. Plump, das wilde Nutria. Eine fette Ratte. Sie aalt sich im milden Märzlicht, das die Fahrräder auf dem Asphalt quietschen lässt und Umarmungen begünstigt; doch die Frau, der ich auf der Brücke begegne, möchte alle Nutrias nur umbringen. Auf der anderen Seite der Brücke das Denkmal eines Mannes, der seinen aufgebäumten Körper den Beleidigungen der Geschichte darbietet.
In dieser Straße ist der Dichter Renzo Pezzani geboren – hier ist die Gedenktafel –, in einer der Wohnungen über den Kebab-Läden, einem Geschäft, das wertvolles Porzellan verramscht. Ida lebt hier in diesem volkstümlichen, am Samstag stillen Viertel versteckt in einem Altersheim. Niemand kennt ihre Geschichte. Die Pförtnerin schaut in der Liste der Heimbewohner nach, findet aber den Nachnamen Lexert nicht. Die Witwe lebt versteckt.
Doch sie ist da, kommt mir im Trainingsanzug entgegen. Darüber eine zu weite Jacke, dieses Jahr ist der Winter auch in Parma lang. Sie schlief gerade in ihrem Zimmer, entschuldigt sie sich. Leicht wie eine Mücke schwebt sie durch die Gänge. Ich überreiche ihr den Strauß roter Tulpen, und wir setzen uns in einen Aufenthaltsraum, der sich nach und nach belebt: Neben uns stößt eine unförmige Frau stotternd ein paar Schreie aus, eine kleine Mongoloide ist still, eine lange Dünne kann sich nicht auf den Beinen halten. Ich frage nach einer Schere, um die Schleife an den Tulpen aufzuschneiden. Doch eine der verlassenen Seelen sagt zu mir: Hier darf man keine Schere haben. Wie? Sind wir im Gefängnis? Ich knote die Schleife auf, eine Frau nimmt sie als kostbares Dekorationsmaterial an sich. Dann stelle ich die Blumen in einen Wasserkrug. Vasen gibt es hier nicht, niemand bringt den alten Frauen, die in der Märzsonne vor sich hin summen, Blumen mit. In der Sonne von Renzo Pezzani.
Ida erzählt. Die Frau, die mit der kleinen Mongoloiden am Nebentisch sitzt, sieht mich an und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als wollte sie sagen: Die ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Die kleine Rache der Verlassenen.
Ida glaubt, ihre Eltern lebten noch. Sie leben in Lido Traversato. Auch ihre Tochter lebt noch und wird niemals sterben. Sie ist bloß Witwe, so wie sie selbst auch. Ida weiß nicht, dass Miló in Parma begraben ist, wenige hundert Meter von ihr entfernt, zusammen mit anderen Partisanen. Sie glaubt ihn noch in Fénis.
Idas Eltern stammten aus den Abruzzen, aus einer Krämerfamilie. Aber ihr Vater tat nichts, er spielte Karten. Sie, Ida, hat bis zur vierten Klasse die Schule besucht; für die fünfte musste man drei Kilometer den Berg hinauf laufen, da hat sie aufgegeben.
Dann ist sie nach Aosta gegangen, um frei zu sein. Auf der Treppe zur Entbindungsstation, wo sie als Krankenschwester arbeitete, begegnete sie eines Tages Miló. Mit diesem Schnauzbart und diesem Blick hatte er schon mehr als eine Frau beeindruckt. Als sie ihn aber auf dem Gerüst sah, verliebte sie sich in ihn, weil er ein freier junger Mann war.
Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihr das Paradies geschenkt, ihr Miló. «Mein Käsebröckchen» nannte er sie. Im Gebirge übte sie mit der Muskete und zielte am besten von allen. Mit der Pistole in der Tasche überbrachte sie Botschaften. Zu Fuß, im Zug, im Bus, sie mischte sich unter Faschisten und Deutsche.
Und als die Leiche ihres Mannes exhumiert wurde, sah Ida, dass er gut erhalten war. Er hatte noch seine schönen Hände, weil man ihn tief in der Erde begraben hatte, dort bei Fénis. Sie hat ihm nur die Strümpfe gewechselt. Nun trägt er neue Strümpfe. Keine Ratte wird ihn zernagen können, denn er liegt tief unter dem Weidenröschen, das die Blume des Feuers ist.