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Gefängnis von Bochuz, 21. März 1934

Miló ist nach Bochuz verlegt worden und wartet auf den Tag seiner Ausweisung aus der Schweiz. Die Polizei hat ihn als «unerwünscht» bezeichnet; er trägt das Wort in sich, als hätte man ihn angespuckt.

An der Umfassungsmauer des Gefängnisses Bois-Mermet, das er vor wenigen Tagen verlassen hat, hatte auch Benito Mussolini kurz mitgebaut, einer der sechstausend armen Schlucker, die damals in Lausanne arbeiteten: Als Gelegenheitsmaurer in Lausanne zu Beginn des Jahrhunderts musste er manchmal sogar auf einer Bank unter dem Grand Pont übernachten. Er war nicht nur Handlanger gewesen, sondern auch Gehilfe im Weinladen und in der Metzgerei, der aus der Romagna ausgewanderte Schullehrer, der jetzt Italien beherrschte. Eines Abends in der Maison du Peuple, bei einem Streitgespräch über «Christus als Befreier der Sklaven und Vorläufer des Sozialismus», hatte Mussolini die Größe Jesu geleugnet, was hatte der denn schon Denkwürdiges vollbracht? Ein paar Dörfer missioniert und ein Dutzend unwissende Landstreicher als Jünger geworben …

Diese Dinge hat Miló von seinen italienischen Freunden erfahren, und ab und zu denkt er daran. Jetzt in dem neuen Gefängnis wurde die Umfassungsmauer durch Stacheldraht ersetzt: eine moderne Strafanstalt in der ­Orbeebene. Ein Schandmal.

«Er war in Bochuz» ist ein Satz, der dich für immer brandmarkt.

In seiner Zelle eingeschlossen, wird Miló wieder zum Kind: In der Zweizimmerwohnung an der Place Orien­tale hat er sich nach den Vorhaltungen seiner Mutter hinter dem Vorhang versteckt. Er will nicht herauskommen, lauscht im Dunkeln dem Stundenschlag der großen Turm­uhr. Er hört sein Herz klopfen, der vaterlose kleine Fuchs … Er hat mit sich selbst gewettet: das Dunkel aushalten. Keinen Vater zu haben, ist besser, so kannst du ihn dir ausdenken, wie du willst. Ein Vater mit Schnauzbart, der mit mir auf dem See Boot fährt, meine Hand in seiner hält, mir beibringt, flache Steinchen über die Wellen hüpfen zu lassen …

Eines Tages trottet er nach der Schule mit seinem Klassenkameraden dahin. Am Seeufer bleiben sie nachdenklich stehen:

«Du hast überhaupt keinen Papa», sagt der Kamerad.

«Oh doch. Mein Papa ist Handelsvertreter. Er reist her­um und verkauft Sachen. Er ist reicher als deiner, mein Papa.»

«Das ist nicht wahr. Ich hab ihn noch nie gesehen. Wo wohnt er denn?»

«In Frankreich. In Paris.»

«Das ist nicht wahr. Du hast keinen Papa.»

«Und du weißt nicht mal, wo Paris liegt …»

Damit stößt Miló den Kameraden ins Wasser, damit er den Karpfen und Hechten des Genfersees Gesellschaft leis­tet.

In der Zelle in Bochuz fallen ihm die Dinge aus der Kindheit ein: Sie kommen und gehen wie die Wellen der Brandung. Nun bringen die Wellen das Buch mit dem blauen Umschlag aus der Grundschule: die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut, das Kamel, die Wüste, der Turmbau zu Babel, die Landkarten in Grün, Ocker und Blau, das Blau des Meeres. Wie gern würde er einmal im Meer schwimmen! Was waren das bloß für Geschichten, die sie in der Schule lasen? Der Steinklopfer beklagt sich über die Anstrengung und will aufhören zu arbeiten, aber der Ochse hält ihm eine Predigt: Des Menschen Schicksal ist es zu arbeiten, zu leiden und auf den erlösenden Tod zu warten, und die Reichen werden den Elenden die Brosamen von ihrem Tische geben …

Nun bringen die Wellen seine Mutter. Sie ist aus der Fabrik zurückgekehrt, Miló geht pfeifend Brot holen, und es gefällt ihm, hinter dem Mann mit dem Stab herzugehen, der auf der Straße die Gaslampen anzündet. Dann erscheinen in der Brandung die kleinen Dinge des Alltags, die großen Schuhe, mit Stroh gepolstert, um die Füße warmzuhalten, die Frau, die ihm fürs Einkaufen zwei Franken gibt, das Räuber-und-Gendarm-Spielen auf der Gasse. Die Grande Place, der Herbstmarkt mit Rindern, Schweinen und Ziegen, Schießbuden, Karussellen, Marroniverkäufern zwischen den Säulen der Markthalle La Grenette, dem Duft nach gebrannten Mandeln und Lebkuchenherzen … Die Geschichten des Lehrers: Napoleon mit dem goldbetressten Zweispitz auf dem Kopf und dem Säbel an der Seite lässt die Männer auf dem Platz Revue passieren, bevor er zum Großen St. Bernhard aufbricht: Er reitet auf einer Berberstute, ist so groß wie die Welt, und ein Adler leitet ihn bei seinen Eroberungen.

Früh hatte er den Ungehorsam entdeckt, der Junge. Statt in die Schule zu gehen, sah er den Fischern am Bootssteg zu und betrachtete die in der Metzgerei an Haken aufgehängten Tierleichen. Einmal war er der Straßenbahn mit der Reklame für Suchard-Schokolade in der Rue de Lausanne bis zum Bahnhofsplatz gefolgt, wo die Wagen der Hotels halten, und hatte sich bis zu der großen Aufschrift Hôtel de Vévey vorgewagt. Auf dem Rückweg war er vor dem Pavillon stehengeblieben, wo am 1. August die Fan­fare spielt und lebende Bilder mit der weißgekleideten Mamma Helvetia inszeniert werden.

Jetzt in der Zelle erscheint ihm vor dem Einschlafen Anny. Mädchen gefallen ihm. Ihre Arme sind weich. Sie lächeln wie das Wasser im Wald: Man hört es fließen, und dann sieht man es, dieses Wasser. So ist es, wenn die Mädchen lächeln. Wenn sie dir in die Augen schauen. Das Wasser glitzert auf den Kieseln im Bachbett der Veveyse, und Anny zieht lächelnd ihre Bluse aus.

In Bochuz kennt man nach einer Weile die Geschichten aller anderen, wenn man in den Werkstätten oder auf den Feldern arbeitet. Miló sieht sich um: Wer mögen diese Männer sein, die hier hinter Gittern leben? Diese Mäuse in der Falle?

Der hier ist ein Alkoholiker, den seine Frau betrogen hat, er hat das Haus angezündet und zehn Jahre bekommen. Der dagegen hat mit dem Ordonnanzgewehr geschossen und auf dem Dorfplatz zwei Leute umgebracht. Der andere, der ins Leere starrt, lebte in Lausanne, Rue du Pré, mit drei Brüdern und vier Schwestern, er hat früh angefangen, nachts auszureißen, mit elf Jahren war er schon im Erziehungsheim. Dann ist da noch der Einbrecher, der das Geschäft seines Arbeitgebers ausgeraubt hat.

Im Zuchthaus hat Miló alle Zeit, sich zu erinnern. Nicht nur an Anny und die Brücke, wo sie sich verabredeten, im Schilf der Veveyse. Er erinnert sich auch an die Ferien in Fénis, die Wiesen, wo die Weidenröschen blühten, an die Füchse, an die Großmutter beim Heuen und beim Kochen von Polenta mit Käse und peilà, an die Sprüche: «Kuckuck, mein Kuckuck, wie viele Jahre gibst du mir noch zu leben?» Einmal hatte er das Schloss besichtigt, und der heilige Christophorus mit dem Kind auf der Schulter hatte sich ihm eingeprägt, auch er wollte ein Heiliger werden. Tja, die Dinge geschehen, damit man sich später daran erinnern kann, bevor sie der Kuckuck holt …

Die Tage, als er als Maler und Gipser in Genf arbeitete, kommen ihm in den Sinn, die Streifzüge über die Bau­stellen auf der Jagd nach Streikbrechern: Sie verraten die Brüder, wie Judas Jesus Christus verraten hat. Arbeitslose schliefen mal hier, mal dort, in einem Waggon, in einem Keller, in einem Heuschober am Rand der reichen Schweizer Stadt. Vagabunden. In seiner Gruppe gab es viele ritals: So wurden die Italiener genannt. Sie waren in den zwanziger Jahren über den Moncenisio gekommen auf der Flucht vor Mussolini.

Am Samstagnachmittag teilten sich die militanten Gewerkschafter in Gruppen auf und gingen nachsehen, ob der Feierabend eingehalten wurde. Ein Unternehmer weigert sich, den Kollektivvertrag zu unterschreiben? Dann geht man hin und demoliert die Baustelle, reißt alles wieder ein, hoppla! Und wenn der Vermieter einem Arbeitslosen fristlos kündigt und die Gemeinde ihm ein Rattenloch zur Verfügung stellt, geht man hin und demoliert das Rattenloch. Démolissons les taudis stand auf einem Plakat, das auf den Straßen der Stadt aufgetaucht war. Ein Teil der Gewerkschaft war für die direkte Aktion: Ganz einfach, man steht um fünf Uhr morgens auf, geht die Bruchbuden abreißen und schafft so Arbeit für neuen Wohnungsbau. Haben wir nicht das Recht, anständig zu leben? In Genf standen Tausende von Wohnungen leer, doch wer die Miete nicht zahlen konnte, flog raus. Der Gerichtsvollzieher kam mit seiner gelb-roten Schärpe und begann: «Im Namen des Gesetzes …»

Einmal, in der Rue Verte, erfand eine Gruppe von Rabauken ein neues Gesetz, das Gesetz der Jungs von Carouge: Man zieht dem Gerichtsdiener ein Leintuch unter den Achseln durch und hängt ihn wie eine Salami ans Fenster. Und ein andermal sperrten sie die flics in den Keller und brachten die Möbel aus den Wohnungen der Gekündigten weg, um zu verhindern, dass der Gerichtsvollzieher mit der Schärpe kommt und sie pfändet.

In Genf gingen die Streikbrecher in jenen Jahren unter Polizeischutz zur Arbeit und wurden abends bis zum Büro der Christsozialen, die ihre Beschützer waren, zurückbegleitet. Auf der Place du Molard gab es L’Ouvrier du Bois et du Bâtiment und Le Réveil Anarchiste zu kaufen. Manchmal wurden die Zeitungsverkäufer von den Faschisten angegriffen.

Miló las L’Ouvrier, der jeden Mittwoch herauskam. Ob er registriert war, wusste er nicht. Doch die Militanten standen auf der schwarzen Liste, das wusste er. Es herrschte Arbeitslosigkeit, und die Bosse nutzten es schamlos aus. Sie fragten den Arbeiter:

«Wie viel verlangst du pro Stunde?»

«Na ja, ein Franken fünfundfünfzig ist mir recht.»

«Nein, nein, ich finde für einen Franken Arbeiter, so viel ich will …»

«Aber wir wollen den Tariflohn. Der Tarif muss eingehalten werden!»

«Welcher Tarif denn? Nichts zu machen!»

«Wir haben unsere Gewerkschaft, die verteidigt uns.»

«Wir pfeifen auf eure Gewerkschaft …»

Den Franken fünfundfünfzig hatten die Maurer bei dem Streik 1928 erstritten. Miló war gerade neunzehn – er hat früh angefangen, mit Pinsel und Spachtel bewaffnet auf luftigen Gerüsten herumzuklettern. Damals führte Lucien Tronchet die Maurer an, in Samtjacke und schwarzer lavalliere:

«Die Herrschaften, die sich christlich nennen und mit ihrem Verhalten wegen drei Centimes ihr Paradies verspielen …»

Er sagte zu den Arbeitern:

«Lernt euer Handwerk gut. Wenn ihr euch unentbehrlich macht, könnt ihr den Bossen die Stirn bieten.»

Doch diese setzten die «trockene Guillotine» ein, das heißt, sie vereinbarten, keine Arbeiter zu beschäftigen, die Gewerkschaftsmitglieder waren.

Milós bester Freund war Amedeo, ein vor dem Faschismus geflüchteter Maurer aus dem Piemont. Arbeitslos geworden, half er hier und da aus, ernährte sich von den Abfällen der Restaurants, manchmal auch von streunenden Katzen. Man nannte ihn «den wandernden Juden». Sie trafen sich oft, und Miló lauschte seinen Geschichten.

In Genf lebten zu der Zeit mehr als zweitausend Juden, Georges Oltramare hasste sie und hetzte auf den Kundge­bungen gegen die geizigen Besitzer der Kaufhäuser der Stadt: «Die Verantwortlichen für die Oktoberrevolution in Russland sind alle Juden … Sie sind nicht einfach Bürger wie alle anderen, die Juden, sondern Terroristen, Zerstörer der Mittelklasse!»

Miló war ein junger Fuchs, der allmählich heranwuchs. Er begann zu begreifen, dass die menschliche Gesellschaft auf Lüge gebaut ist. Bei der Arbeit auf den Baustellen hörte er den Gesprächen seiner Kollegen zu; und an einem Novembernachmittag 1932 kommt einer und sagt, sie sollen sich bereithalten, am Abend alle nach Plainpalais zu laufen, um die Union Nationale ein bisschen aufzumischen; die, die mit gestreckter Hand den rechten Arm he­ben.

«Die sind wie die Nazis», sagen die Arbeiter, «wir gehen hin und hindern sie am Reden!»

«Sie haben die Banque de Genève in die Pleite getrieben …»

«Mit unserem Geld spielen sie an der Börse …»

«Hoch Nicole!»

«Hoch Dicker!»

«Gehen wir die Genossen verteidigen!»

«Bringt Stöcke, Pfeffer und Trillerpfeifen mit!»

Doch an jenem Novemberabend marschiert vor dem Palais des Expositions das Militär auf:

Rekruten aus der Infanterieschule

Jungs aus dem Wallis, der Waadt, dem Jura, aus Genf

können kaum die Waffen halten

mit Helm und Gewehr mischen sie sich unter die Menge

beziehen Prügel von den Arbeitern

ein paar Gewehre gehen zu Bruch

es sprechen Nicole und Tronchet

«Hoch die Sowjets!», «Tod den Schweinen!»

Man singt die Internationale

ist das die Revolution?

Nein, nur Krawall, Pfiffe, fliegende Steine

«Die Soldaten in die Kaserne!»

Ketten versperren den Zugang zum Gemeindesaal

die Menge durchbricht sie, zu Dutzenden stürmen sie

durch die Bresche

die Polizei jagt sie zurück

nur Krawall

bis die Trompete schallt

was hat das zu bedeuten?

«Un coup, visez bas, feu!»

schau diese Unglücksmenschen an, sie knien nieder,

zielen und schießen!

Maschinengewehre und Kriegsmunition!

in die Luft zielen verboten

nach dem Schuss eine tiefe Stille

in der Brasserie des Sports kommen erste Verletzte an

sie werden auf den Billardtisch gelegt

ein alter Mann wiederholt immer wieder

«Sagt es meiner Tochter, sagt es meiner Tochter …»

Erinnerst du dich, Miló? An alles erinnerst du dich, auch an Blanche, deine Gewerkschaftsgenossin: Sie hat ihren Bruder in der Rue de Carouge besucht und sieht nun auf dem Heimweg die Leute auf dem Platz, sie hört, dass es schon zwei Tote gegeben hat. Zuletzt werden es dreizehn Tote sein – darunter auch der Vater eines der Rekruten, die geschossen haben –, von den Verletzten zu schweigen.

Aber die Kaufleute können beruhigt sein, ihre Geschäf­te haben überlebt, nur das Schaufenster des Bäckers hat ein Loch, die Feuerwehrleute werden in der Nacht mit ei­nem Wasserschlauch die Blutspuren tilgen, und was soll die junge Blanche anderes tun, als in der Manteltasche die Fäuste zu ballen? Es ist kalt heute Abend in Genf, die Bise treibt die dürren Lindenblätter vor sich her, wer es sich leisten kann, geht ins Capitol in den Film La foule hurle mit Jean Gabin oder ins Central-Sonore, um die Beine der Marlene Dietrich zu bewundern.

In Bochuz denkt Miló wieder an die Szene mit Ramón ­Novarro und dessen akrobatische Flugkünste in dem Film La flotta del cielo, den er eines Nachmittags im Cinéma Oriental gesehen hat: Draußen schneit es, und Ramón springt hinaus in den Himmel, weil er seine unglückliche Liebe vergessen will, die schöne Sirene, die ins Meerwasser eintaucht. Die Flugzeuge dröhnen, Miló ist Ramón Novarro, er fliegt aus der Zelle davon und erlebt eine Liebesgeschichte mit der Sirene, küsst sie tief und lange.

In der Schwärze der Einsamkeit bevölkert sich die Stille mit Gespenstern, und der Gefangene sieht seine Helden wieder vor sich: Ramón Novarro, Bartolomeo Vanzetti, Nicola Sacco.

Eines Tages erschien auf den Straßen ein Plakat, auf dem stand: Sacco et Vanzetti sont innocents, liberons-les. Die Arbeiter in Genf demonstrierten. Einer von der Gewerkschaft zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, der die beiden mit Handschellen aneinandergefesselt zeigte: Vanzetti hat einen Schnauzbart, Sacco einen stolzen Blick und eine Fliege. Beide tragen einen Mantel mit Pelzkragen: genau wie der Mantel, den Toto gestohlen hat, der Mantel, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Unter der Fotografie die Worte, die Vanzetti vor dem elektrischen Stromstoß gesagt hat, schwarze Binde über den Augen, Metallring um den kahl rasierten Kopf:

«Hier vor dem Tod wiederhole ich: Ich bin unschuldig. Sicherlich habe ich auch Unrecht begangen, aber ein Verbrechen nie. Ich danke allen, die mit uns gekämpft haben. Ich bin ein unschuldiger Mann, wie auch mein Genosse im Unglück, Sacco, unschuldig war. Ich verzeihe den Menschen, die mir das angetan haben.»

Und dann das im Gefängnis geschriebene Gedicht:

An den Füßen tragen wir Ketten

zur Buße.

In schmutzigen, dunklen Gefängnissen erleiden wir jede Qual

Zur Buße

Doch ihr, ihr da draußen

zerreißt die Ketten, holt uns heraus.

Die Gefängnistür geht auf

und wir hören den Schrei, den einzigen Schrei

Die Welt ist frei – ist frei – ist frei!

An einem dieser Tage hatte Amedeo ihm eine Zeitungsseite mit einer unfassbaren Nachricht mitgebracht:

Heute gegen zwölf Uhr erschien über Mailand plötzlich ein italienisches Flugzeug am Himmel und warf Flugblätter von Giu­stizia e Libertà ab. Die sprachlose, staunende Bevölkerung las sie mit Freuden. Die Flugblätter fordern zur Rebellion auf, um den Faschismus zu stürzen. Die Po­li­zei griff ein, als das Flugzeug schon wieder aufgestiegen war und am Horizont verschwand.

Es ist ein Samstag im Juli 1930, Miló fantasiert. Zerreißt die Ketten! Dieser Irre ist ein Grundschullehrer aus Ao­sta: Bassanesi heißt er. Kommt aus dem Aostatal wie seine Mutter, ein Lehrer, ein sturköpfiger Fuchs, der gelernt hat, einen Eindecker zu fliegen. Um Platz für die Stöße von Flugblättern zu schaffen, verzichtet er auf den Fallschirm: zu schwer. Und über dem Domplatz von Mailand werfen Bassanesi und sein Freund die Flugblätter ab, die zur Revolte aufrufen, Tausende und Abertausende rote, grüne und gelbe Vögel flattern am lombardischen Himmel. Genau dann, wenn die Arbeiter und Angestellten aus den Käfigen der Büros und Fabriken kommen, in den Straßen den bunten Vögeln nachlaufen können und die Worte lesen: Revolte! Revolte!

Miló stellt sich vor, er sei sein Landsmann Bassanesi. Er erhebt sich im Flug über den See. Neben ihm in der Kanzel des Farman F200 sitzt seine Mutter Joséphine-Amérique, die aufgehört hat, Zigarren zu rollen. Jetzt überfliegen sie die Savoyer Alpen, der Eindecker verwandelt sich in einen rosa Phönix, der bis nach Fénis fliegt, dort macht er ein akrobatisches Manöver à la Ramón Novarro und setzt seine Mutter auf einer Wiese mit blühenden Weidenröschen ab; dann steigt er wieder auf, kehrt um und holt seine Verlobte Anna, die einen Mantel mit Fuchskragen trägt, aber darunter ist sie eine splitternackte Sirene und singt, wie die Sirenen für Odysseus auf dem Schiff.

Miló

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