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Zu Beginn des Sommers 1934 verlässt Miló das Zuchthaus und überquert den Großen St. Bernhard; aber ohne Napoleons Berberstute … Innerlich nimmt er die Radtouren an den Ufern des Genfersees mit, das Paradies oberhalb der Veveyse, das Geklimper des Gefängniswärters, der im Vorbeigehen an die Gitterstäbe des Zellenfensters schlägt, Bassanesis Riesenvogel; und jenes Wort, das er nicht vergessen kann: «unerwünscht». Er hat Anna verlassen, die nun ihre Kunden in den Cafés sucht, wo sie sich für wenig Geld verkauft, und in den Nachtlokalen, in denen sie sich als Tänzerin ausgibt; auch sie wird die Strafanstalten kennenlernen. Auch sie wird ausgewiesen werden, un­­erwünscht.

In Italien strengt Miló sich an. Er lernt Roulette spielen wie die schicken Krawattenträger in Vevey, die er durch die Scheiben sah, wenn er an den Luxushotels vorbeiging. Auch er ist jetzt ein vornehmer Herr. Er fährt einen Balilla und hat stets ein Hündchen dabei, setzt in den Spielcasinos auf Rot und auf Schwarz: Er hat eine Methode entdeckt, die es ihm ermöglicht, zu gewinnen und ein schönes Leben zu führen. Bei Frauen ist er begehrt.

Hier ist er in Venedig. In der Rechten die Zigarette wie ein Geschäftsmann, die Linke in der Tasche des Mantels, den er mit dem Geld vom Roulette gekauft hat: im Hintergrund die Piazza San Marco, Touristen mit Tauben und Fledermaus-Carabinieri. Auf einem anderen Foto ist er in Nizza, mit Clownshose und Clownshut, in einer Gruppe, die von einer Ziehharmonika bei Laune gehalten wird. Im Jahr 1936 löst er das Überlebensproblem in einer Kaserne von Turin, viertes Bersaglieri-Bataillon: Er ist italienischer Staatsbürger und muss seinen Militärdienst ableisten. Der piemontesische Feldwebel begrüßt ihn mit dem Schrei: «Valdustàn patata» …

Nach dem Militär kehrt er zu seinem Onkel nach Aosta zurück. Die Gebirgsstadt empfängt ihn mit rauen Straßen, engen Gassen, Handwerksbetrieben. Auf dem Marktplatz sieht er Bergbauern mit gegerbten Gesichtern, Kinder, die barfuß um Almosen betteln, den Scherenschleifer mit seinem Karren, die fliegenden Händler und die Gemü­sefrauen; ihm aber fehlt die blaue Luft des Sees. Die Stadt gefällt ihm wenig mit den traurigen Steinquadern des Römischen Bogens und den faschistischen Samstagen, den Fähnchen und Standarten, den Tugenden der Faschistischen Jugend, dem strahlenden Horizont, den Worten, die aus dem Radio tönen:

«Die Sonne geht auf, es kräht der Hahn, o Mussolini, aufs Pferd, wohlan!»

Vor dem Bahnhof stehen Statuen von Cäsar und Au­gustus. Wenn er den Blick hebt, sieht Miló die Berge; doch ihm fehlen die anarchistischen Freunde von den Baustellen in der französischen Schweiz. Auch wenn die Straße, in der er wohnt, ihn an gewisse enge Straßen in Vevey erinnert, wo er sich als Kind herumtrieb und von der Schleuder Davids träumte.

Er wohnt in der Via de Lostan in einem Reihenhaus bei seinem Onkel Baccio, der als Schmied arbeitet, und nimmt seine Tätigkeit als Anstreicher wieder auf. Doch bald erfasst ihn die Sehnsucht: Was wohl seine Mutter in Vevey macht? Umwickelt sie immer noch poupons in der Fabrik? Ist ihre Arthritis schlimmer geworden? Er hat sie seit mehreren Jahren nicht gesehen und beschließt, sie zu besuchen: Am 29. Juli – wenn der Weizen reift, wie sie beim Barras in den Osterien von Turin sangen – macht er sich auf Ziegenpfaden auf den Weg. Kein Weizen, allerdings. Keine kleinen Mädchen «mit einer Rose in der Hand», sondern Steinhaufen voller Vipern und das plötzliche «Halt! Wer da?» des Schweizer Gendarmen, der auf dem Großen St. Bernhard Dienst tut: Sie nehmen ihn fest, entdecken, dass er aus der Schweiz ausgewiesen wurde, und übergeben ihn dem italienischen Wachtmeister, der sich darum kümmert, ihn «angemessen» zu verhören und zum Sprechen zu bringen, um ihn in Handschellen ins Gefängnis von Aosta zu überführen. Auf dem Fahndungsfoto des Polizeipräsidiums hat der Flüchtling eine geschwollene Nase und verquollene Augen. Sie geben ihm drei Monate und zweitausend Lire Geldstrafe. Doch dann hat Maria Pia von Savoyen die gute Idee, auf die Welt zu kommen, und es gibt eine Amnestie: Der Allmächtige, unendlich Gütige und Gerechte hat die gekrönten Häupter nach seinem Bilde geschaffen, um die Unerwünschten zu begnadigen.

Begnadigt und überwacht. Niemand kann ihn allerdings daran hindern, sich zu verlieben. Lässt die Liebe nicht selbst die Esel tanzen? Eines Tages arbeitet er als ­Anstreicher auf dem Gerüst an der Entbindungsstation, als er eine magere Krankenschwester mit lächelnden schwarzen Augen vorbeigehen sieht: Es ist Ida, die Kleine aus den Abruzzen. Sie hat ihre Heimat am Meeresufer, wo sie sich eingesperrt gefühlt hat, für die Berge im Norden verlassen. Ihre Brüder arbeiten bei Cogne, sie schuftet hier. Und nun steht dort dieser kräftige Bursche mit dem Schnauzbart: Die Pinsel in der Hand, hält er inne und sieht sie verzaubert an. Er gleicht dem Schauspieler aus dem Film, den sie im Filmtheater Politeama Vittoria gesehen hat. Sein Po ist wohlgerundet, wie er da auf der Leiter balanciert. Seine Augen dunkel wie die Blüten der Akelei. In ihren Augen funkeln Sternchen. Sie unterhalten sich. Und heiraten am 13. April 1940. Die wichtigen Dinge geschehen immer im April.

Miló findet eine Stelle bei Cogne in der Mechanikerwerkstatt, Abteilung Eisenlegierungen. Die große Fabrik befindet sich im Süden der Stadt, wo ein Wildbach in die Dora fließt.

Er bekommt einen Arbeiterlohn, arbeitet aber als Angestellter:

«Bist du Parteimitglied?», fragt ihn der Personalchef, als er sich vorstellt.

«Wollt ihr jetzt einen Faschisten oder einen Angestellten? Wenn ihr einen Angestellten wollt, bin ich dabei.»

Der Betrieb arbeitet auf Hochtouren für den Krieg. Stahl für Eisenbahnschienen, Waggons, Kanonen, Flugzeuge, Schiffe, Panzer, leichte Waffen, Geschosse. Der Krieg. Nach der Eisenbahnüberführung sieht Miló, wenn er zur Arbeit geht, über dem Hauptgebäude des Stahlwerks die Schrift mit den weißen, fensterhohen Buchstaben: Duce Duce Du­ce. Und vor einigen Monaten hat man der Belegschaft die ­Regeln des faschistischen Arbeiters ausgehändigt, ­die folgendermaßen beginnen: «Erinnere dich, dass Mussolini immer recht hat.» Und so enden: «Arbeite und schweig.» Dazwischen wird an einer Stelle dazu aufgerufen, die aufrührerischen «Schwachköpfe», die behaupten, etwas von Politik und Strategie zu verstehen, unerbittlich niederzumachen: «Hab absolutes Vertrauen zu Demjenigen, der – in Rom – die Verantwortung für alles trägt. Er genügt für alle.»

Die Bewohner des Aostatals arbeiten bei Cogne, auf diese Weise brauchen sie nicht zu emigrieren: Der Krieg mit seinen Haien, Spekulanten und der Todessense kommt ihnen zu Hilfe. Die meisten sind Bauern, nach der Arbeit gehen sie heim zum Heuen und Stallausmisten. Sie haben zwei Arbeiten, das Tal hört auf, sich zu entvölkern. 1936 hat der Faschismus in Spanien seine Generalprobe abgehalten. Drei Jahre später ist Mussolini in das kleine Rom der Alpen eingezogen, durch einen M-förmigen Bogen gegenüber dem des Kaisers Augustus. Und jetzt marschieren bei Cogne die fürchterlichen Deutschen ein: Die verstehen was vom Tod! Und im Mai 1943 wird man deutlich sehen, was der Krieg wirklich ist, was übrigbleibt vom Bataillon Monte Cervino, das in den Steppen des Don zur Schlachtbank geschickt wurde … Die jungen Hasen kommen in Waggons zurück, auf denen steht: W i lupi della steppa – Ein Hoch auf die Steppenwölfe. Den gefeierten, mit Blumen und Schlachtrufen empfangenen Alpini bleibt nichts, als sich an die Flasche zu hängen: Die wenigen Überlebenden können den Bischof über die Barbarei der Roten und der Engländer reden hören und abends mit Freikarten ins Filmtheater gehen: Der Sieg ist ein Kinomärchen.

Seit Ende des Jahrhunderts, als die Cholera ein Massaker angerichtet hat, gibt es im Tal keine Arbeit mehr; Felder, wo man etwas anbauen kann, gibt es wenige, die Ernten sind karg und die Steuern hoch. Also wandert man aus: nach Paris, um Taxi zu fahren, in die französische Provinz, in Schweizer Städte, nach Amerika; Milós Mutter hat Vevey gewählt. In einigen Dörfern des Hochtals hängen in den Geschäften die Fahrpläne der Überseedampfer aus. In der Osteria flucht man: «Scheißitalien, hauen wir ab!»

Jetzt aber ist es genug: Man arbeitet bei Cogne, und in der Stadt ist sogar ein neues Viertel entstanden, wo die Arbeiterfamilien wohnen, die häufig aus dem Veneto und aus Kalabrien stammen oder Ausländer sind. Das zertrüm­merte Erz wird mit Loren aus dem Bergwerk und dann mit einer Seilbahn bis zur Fabrik in Aosta transportiert: Hochofen, Stahlwerk, Walzwerk. Die Bewohner des Aosta­tals sind stark und gelehrig. Die Gießerei ist die Hölle: Hochöfen zum Schmelzen des Stahls bei Temperaturen von 1500 bis 2000 Grad, Getöse der Walzstraßen, Kräne, die Schrott wegräumen, Spritzer von geschmolzenem Stahl beim Guss. Der größten Gefahr sind die Schlangenlenker ausgesetzt, die am Ausgang und am Eingang der Walzen mit riesigen Zangen die Rundstahl- und Vierkantstäbe steuern. Tust du einen falschen Schritt oder verpasst den richtigen Moment, wirst du von der glühenden Schlange erfasst. Außerdem bringt die Schichtarbeit den Rhythmus des täglichen Lebens durcheinander: Eine Woche steht man vor Sonnenaufgang auf, in der nächsten Woche arbeitet man bis spät und kommt erst mitten in der Nacht nach Hause, in der dritten Woche schläft man nachts überhaupt nicht.

Unter den Arbeitern fühlt Miló sich wohler als unter den Bauern, die ständig am Schwanz ihrer Kuh hängen. Er beginnt, den historischen Materialismus zu studieren, organisiert Versammlungen bei sich zu Hause in der der Via Croix de Ville Nummer zwei. Er ist einer der «Besserwisser, die behaupten, sie verstünden etwas von Politik». Ida, die inzwischen die kleine Renata bekommen hat, gönnt sich einen Tapetenwechsel und fährt für einige Monate in ihre Heimat, die Abruzzen, während Miló zum Lehrer wird für Emilio, Alfredo, Augusto und Italo, alles Cogne-Arbeiter: Sein Freund Lino Binel, der in Mailand Inge­ni­eur geworden ist, hat ihm Das Wesen des Marxismus gegeben, und er macht auf losen Blättern Zusammenfassungen: «Was versteht man unter Ware? Als Ware müssen alle durch menschliche Arbeit geschaffenen Dinge verstanden werden … Denn der Wert einer Ware ist nichts anderes als die Arbeit, die zu ihrer Produktion aufgewendet wurde …» Worte, bei denen man begreift, wie die Hölle funktioniert und wie erbarmungslos sie ist. Ende 1942 schreibt Miló an seine Frau: «Meine Schüler rauben mir all das bisschen Freizeit, das ich habe.»

Unterdessen macht der Faschismus mit seiner Angeberei weiter. Doch nicht alle heben den Arm mit der ausgestreckten Hand. Manche «Schwachköpfe» treffen sich nachts in der Vorstadt oder am Ufer der Dora, um zu bera­ten. Einer davon heißt Jean Chabloz und gehört einer Un­tergrundzelle an: Sein Deckname ist Carlo. Er ist in Frankreich Kommunist geworden, nachdem er die Ziegen des Aostatals mit einem Pariser Taxi vertauscht hat. Während er auf Kunden wartete, konnte er Zeitungen und Bücher lesen, verstehen, wie es in der Welt läuft. Er hat sich einen goldenen Ring machen lassen, auf dem eine Emaille mit dem Foto seines Sohnes angebracht war, innen eingraviert Hammer und Sichel mit den Initialen seines Namens. Die frühen Dreißigerjahre hat er in Paris erlebt, so wie Miló in Genf. Und nun, im Frühjahr 1943, erreichen die Nachrichten über Streiks in den Fabriken von Mailand und Turin allmählich auch das Tal, und es sind auch ein paar rote Fahnen aufgetaucht. Die faschistischen Schlägertrupps drohen mit Schlagstöcken und Pistolen, aber die Arbeiter reagieren, indem sie Bolzen werfen.

In der Stadt spielen die «Schwachköpfe» dem Regime lustige Streiche: Dem römischen Kaiser, der auf die Gipfel schaut, wird eines Nachts eine Kette aus steinharten Broten um den Hals gehängt, zusammen mit einem Schild, auf dem steht: Augustus, kannst du mit deinem Bronzemagen dieses Brot verdauen? An manchen Häusern tauchen Sprüche auf wie: Brot und Pasta, mit Duce ist jetzt basta. Und in der Fabrik organisieren sie kleine Sabotageakte der Kriegsproduktion: langsam arbeiten, Material verschwenden …

Am 25. Juli, einem Sonntag mit leuchtenden Wolken über den Höhen, kann der piemontesische Schuster in der Via Croix de Ville endlich verkünden:

«Er ist gestürzt! Er ist gestürzt!» Es ist, als setzte ein plötzlicher Rausch die Luft in Brand, ein unruhiges Glücksgefühl: Das obszöne Maul der römischen Wölfin, die von der Säule gegenüber dem faschistischen Parteibüro alles dominiert, muss dem federnden Schritt des Fuchses weichen, der die Freiheit schnuppert. Anmut und Schlauheit statt Grausamkeit.

Miló beteiligt sich an dem Trubel auf den Straßen der Stadt, er reißt die Abhörwanzen der Faschisten herunter, die Plakate, die «Glauben-Gehorchen-Kämpfen» predigen. Noch einmal wird er verhaftet, auf die Polizei und ins Gefängnis gebracht. Nur kurz allerdings: Die Tage folgen aufeinander, aber sie verändern sich.

Miló

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