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Das Klare Licht des zweiten Bardo [des Erwachens aus der Bewusstlosigkeit]

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Falls Zweifel daran bestehen, ob der Sterbende statt einer durchschnittlich dreieinhalb Tage währenden Bewusstlosigkeit das erste Klare Licht identifizieren konnte, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ihm zudem (108) dasjenige, was das zweite Klare Licht genannt wird, aufscheinen wird. Was die Dauer dieser Erscheinung betrifft, so tritt sie nach dem Versiegen der äusseren Atmung nach einer Zeitspanne, die etwas mehr als eine Mahlzeit in Anspruch nimmt (109), ein (110).

Wie lange auch immer es dem Geist gelang, unbewegt im Klaren Licht zu verharren, so wird es schliesslich zu einem leichten Erzittern, zu einer winzigen Bewegung in ihm kommen, und der Geist des Verstorbenen wird sich aus dem Zustand des Klaren Lichts erheben. Zu dieser Zeit wird der äusserst subtile Wind und das äusserst subtile Bewusstsein aus dem nunmehr aufgebrochenen ‚zu Lebzeiten unzerstörbaren‘ Tropfen im Herzzentrum herausfliessen und den Körper als regenbogenfarbiges Licht verlassen; die unreinen Bestandteile der äusserst subtilen Tropfen verlassen den Körper als kleiner sichtbarer Tropfen von Blut oder Schleim aus der Nase und/oder durch die Öffnung des Geschlechtsorgans. Gleichzeitig bildet sich der Geistkörper des Zwischenzustandswesens, indem die oben erläuterten acht Phasen der Auflösung des feinstofflichen Systems beim Sterben in umgekehrter Reihenfolge – wenn auch ungleich schneller und schemenhafter (111) – vollzogen werden. Dieser auch Geruchsfresser genannte sehr subtile Geistkörper (112) ist mit übernatürlichen Kräften ausgestattet; so kann er beispielsweise durch Felsen und Wände gehen, in einem Augenblick zu jedem Ort im Universum eilen oder die Gedanken anderer Wesen lesen; er kann durch keine äussere Kraft der Welt in irgendeiner Weise verletzt oder getötet werden (113).

Je nachdem, ob das Karma (114) gut oder schlecht ist, tritt der feinstoffliche Wind entweder in den rechten oder in den linken Seitenkanal ein und verlässt den Körper durch eine der neun Körperöffnungen; dadurch entsteht Klarheit im Bewusstsein.

Das Bewusstsein des Verstorbenen wird nach Ablauf von durchschnittlich dreieinhalb Tagen – vom karmischen Wind fortgeblasen – seinen ehemaligen Körper durch eine der neun Öffnungen verlassen und die feinstoffliche Form eines Zwischenzustandswesens annehmen: Sollte der Verstorbene in seiner nächsten Existenz im Höllenbereich wiedergeboren werden, wird das Bewusstsein den alten Körper durch den Anus verlassen. Entweicht das Bewusstsein durch Mund (115), Harnröhre (116), Augen (117), Nabel (118), Nase (119), Ohr (120), der Stelle zwischen den Augenbrauen (121) oder der Krone des Kopfes (122), so werden dadurch Wiedergeburten in den entsprechenden Bereichen eingeleitet (123).

Dazu folgendes: Es heisst zwar, dieser Prozess nehme etwa soviel Zeit in Anspruch wie das Verzehren einer Mahlzeit, die Dauer jenes Prozesses ist jedoch von der Verfassung der feinstofflichen Kanäle des Verstorbenen sowie davon, ob er das Ruhen im meditativen Gleichgewicht geübt hat oder nicht, abhängig.

Personen, die zeitlebens niemals meditiert haben, erwachen bereits einen Moment später aus dieser Bewusstlosigkeit, während sich diese Bewusstlosigkeit für Praktizierende über mehrere Stunden und Tage erstrecken kann. Das Bewusstsein verlässt nur dann nicht mit dem letzten Ausatmen den Körper, sondern verbleibt noch eine Zeitlang im in ihm, wenn die betreffende Person ein geübter Dharmapraktizierender war. Die Äusserung des ›Tibetischen Totenbuches‹, dass das Bewusstsein erst dreieinhalb Tage, nachdem es in Bewusstlosigkeit gefallen ist, den Körper verlässt, trifft also ausdrücklich nur auf Praktizierende des Dharma zu, die in ausreichendem Masse praktiziert haben (124).

Der Verstorbene ist sich zu diesem Zeitpunkt (125) nicht im Klaren darüber, ob er gestorben ist oder nicht; er wird seine Verwandten versammelt sehen ebenso wie zuvor (126), und er wird sogar ihre Klagen hören; solange ihm die furchtbaren Erscheinungen der Illusionen des Karma noch nicht erschienen sind und auch das Grauen vor dem Herrn des Todes (skrt: Yama; tib: gshin rje) sich noch nicht eingestellt hat, soll man mit seinen mündlichen Unterweisungen fortfahren. Je nachdem, ob der Verstorbene zu Lebzeiten mit der aufbauenden Phase der Meditation (127) (tib: bskyed rim) oder mit der Vollendungs- bzw. Verschmelzungsphase der Meditation (128) (tib: dzogs rim) befasst war, rufe man – falls der Verstorbene zu Lebzeiten die Vollendungsphase der Meditation praktizierte – seinen Namen drei Mal aus und rezitiere immer wieder die oben dargestellte Anweisung zum Klaren Licht; falls er zu Lebzeiten die aufbauende Phase der Meditation praktizierte, soll man ihm die äussere und innere Sadhana seiner Praxis – um welchen Yidam auch immer es sich dabei handelt – vorlesen, indem man ihm die Worte in Erinnerung ruft:

Oh Edler ... , meditiere auf Deinen Yidam und lasse Dich dabei nicht ablenken! Du solltest den ernstlichen Wunsch entwickeln, Dich auf Deinen Yidam zu konzentrieren. Meditiere auf Deinen Yidam, der – wie die Reflektion des Mondes auf dem Wasser – Erscheinung ohne substantielle Existenz ist. Meditiere auf Deinen Yidam, der keine Wirklichkeit in sich selbst besitzt.“

Und falls der Verstorbene ein gewöhnlicher (129) Mensch gewesen ist, gib ihm die Anweisung:

Du solltest jetzt auf den Yidam Chenrezig (130) meditieren!“

Indem sie solcherart angeleitet werden, wird sich für diejenigen, für die sich der Bardo noch nicht erschöpft hat, der Bardo zweifelsohne auch erschöpfen. Jene Individuen aber, die zu Lebzeiten Anweisungen zur Yidampraxis von einem Lama erhalten haben, sich aber nur wenig mit dieser Meditation vertraut gemacht haben, werden von sich aus keine Klarheit über den Bardo gewinnen; ein Lama oder ein Dharmabruder bzw. eine Dharmaschwester muss sie daran erinnern. Auch wenn der Verstorbene zwar mit der Yidam-Meditation vertraut war, jedoch aufgrund vorangegangener schwerer Krankheit im Tod irgendwelchen Täuschungen erliegt, so dass es ihm unmöglich ist, sich an seine Yidampraxis zu erinnern, ist es ausserordentlich wichtig, ihm jene Anleitungen zu präsentieren. Auch wenn der Verstorbene mit der Yidam-Meditation zuvor (131) vertraut war, aber seine Praxisgelübde gebrochen oder seine Wurzelgelübde (132) verletzt hat, besteht die Möglichkeit, in niedere Daseinsbereiche (133) zu geraten; deshalb sind für jene Individuen diese Anleitungen unerlässlich.

Am besten ist es, wenn der Verstorbene das erste Bardo des Sterbens nutzbar machen kann; gelingt ihm dies nicht, wird er im zweiten Bardo des Erwachens aus der Bewusstlosigkeit klare Anleitungen erhalten, wodurch die Möglichkeit geboten wird, dass er dadurch die Befreiung erlangen kann. Darüberhinaus verfügen Verstorbene im zweiten Bardo des Erwachens aus der Bewusstlosigkeit über einen unreinen Illusionskörper (134). Ihr Nicht-Wissen, ob sie tot sind oder nicht, weicht plötzlich einem Zustand geistiger Klarheit; wenn ihnen zu jenem Zeitpunkt erfolgreich Unterweisungen übermittelt werden, stehen sie nicht länger unter der Herrschaft des Karma, wenn das ‚Mutter-Klare Licht‘ (135)und das ‚Sohn-Klare Licht‘ (136) zusammentreffen. So wie beispielsweise das Sonnenlicht die Dunkelheit überwindet, wird durch das Klare Licht des Pfades der Bardo-Anweisungen die Macht des Karma überwunden und die Befreiung erlangt.

Anschliessend (137) dämmert dem Geistkörper dasjenige auf, was man den zweiten Bardo des Erwachens aus der Bewusstlosigkeit nennt, während sein Bewusstsein wie zuvor in Hörweite um seine Leiche kreist; mündliche Unterweisungen, die zu diesem Zeitpunkt in unmittelbarer Nähe der Leiche bzw. am bevorzugten Aufenthaltsort des Verstorbenen gegeben werden, erbringen den angestrebten Nutzen tatsächlich, und weil die illusionären Projektionen des Karma nun noch nicht in Erscheinung getreten sind, ist der Geistkörper fähig, beliebige Veränderungen durchzumachen. Selbst wer auf jene Weise das Klare Licht des Sterbens nicht erkannt hat, das Klare Licht des zweiten Bardo des Erwachens aus der Bewusstlosigkeit jedoch erkennt, erlangt also die Befreiung.

Die Befreiung durch Hören im Zwischenzustand

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