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Einleitende Bemerkungen

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Im folgenden werden buddhistische Belehrungen über Sterben, Tod und Wiedergeburt präsentiert; zwar handelt es sich hier um die Lehren des historischen Buddha – dennoch sind sie nicht ausschliesslich praktizierenden Buddhisten aus aller Welt oder solchen Individuen, die sich zumindestens von ihrer Überzeugung her als Buddhisten ansehen, vorbehalten, denn sterben müssen alle – Buddhisten und Nicht-Buddhisten, und ohne jede Vorbereitung auf das eigene Sterben, die die tatsächlichen Vorkommnisse in Sterben und Tod angemessen berücksichtigt, wäre jeder unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit den Ereignissen, die ihm dann wiederfahren, blind – d.h. ohne jede Beeinflussung zum Besten hin – ausgeliefert. Da die Lehren des historischen Buddha authentisch sind (23), und da es der einzige Beweggrund des Buddha war, mit seinen Lehren die Leiden der fühlenden Wesen zu mildern, hat er auch Belehrungen präsentiert, die Nicht-Buddhisten zur Verfügung stehen, vorausgesetzt, sie stehen seiner Lehre vorurteilsfrei und offen gegenüber; zu diesen Lehren gehören diejenigen Belehrungen, wie man sich im Sterben und im Tod verhalten sollte, und wie man sich auf diese Übergänge (tib: bar do) vorbereiten sollte. Da diese Belehrungen in sich zutiefst schlüssig und wahr sind, wird jede intelligente Person gründlich über sie nachdenken; je mehr sie dies tut, umso mehr Vertrauen wird sie zwangsläufig in die Lehren des Buddha gewinnen, und sie wird wahrscheinlich auch den Wunsch entwickeln, sie zu praktizieren. Dieses Ansinnen kann jedoch nur dann in die Tat umgesetzt werden, wenn sie mit einem authentischen spirituellen Lehrer zusammentreffen, der in der Übertragungslinie steht und womöglich die buddhistischen Lehren im eigenen Bewusstseinsstrom umgesetzt und realisiert hat (24) – auch wenn hier in eindeutiger Weise solche Gebiete berührt werden, die ansonsten streng geheim gehalten werden, indem sie ausschliesslich mündlich vom spirituellen Lehrer auf einen einzelnen oder einige wenige spirituelle Schüler übertragen werden, die ihrerseits zu strengster Geheimhaltung verpflichtet sind (25).

Vergänglichkeit bzw. Sterblichkeit bedeutet, dass kein Individuum die Macht hat, für immer auf dieser Welt bleiben zu können. Weil der Tod unaufhörlich näherrückt, und weil zur Todesstunde nur der Dharma von Nutzen ist, werden Kontemplationen über das Sterben allgemein, darüber, was Sterben eigentlich ist, über das unvermeidliche Näherrücken des Todes sowie über die eigentliche Trennung vom Leben empfohlen.

Die Kontemplation über das Sterben besteht darin, immer und immer wieder darüber nachzudenken, dass das eigene Leben in nicht allzu ferner Zeit vorbei sein wird und man dann diese Welt verlassen muss. Die Kontemplation darüber, was Sterben eigentlich ist, besteht darin, immer wieder darüber nachzudenken, dass sich das Leben mit jedem Moment erschöpft, und dass es nicht mehr lange dauert, bis der eigene Atem versiegt und der eigene Körper sich in eine Leiche verwandeln wird; der eigene Geist, der sich dann vom Körper getrennt hat, wird zu dieser Zeit ziellos umherirren. Die Kontemplation über das unvermeidliche Näherrücken des Todes besteht darin, immer wieder darüber nachzudenken, dass vom letzten Jahr bis jetzt schon wieder ein Jahr vergangen ist; dass von gestern bis heute schon wieder ein Tag vergangen ist; dass von eben bis jetzt schon wieder ein Moment vergangen ist usw. und dass währenddessen das Leben mit jeder Sekunde verronnen ist. Die Kontemplation über die endgültige Trennung vom Leben besteht darin, immer wieder darüber nachzudenken, dass man sich in nicht allzu ferner Zukunft von seinen Freunden, von sämtlichen Besitztümern und selbst vom eigenen Körper wird trennen müssen.

Auch wenn die meisten Wesen nicht sterben wollen und sehr viele Menschen sich aus Angst vor dem Sterben nicht einmal gestatten, auch nur einen Gedanken darüber zu verlieren, steht der Prozess des Sterbens jedem Wesen bevor! Der Tod ist schon deshalb unvermeidlich, weil der Körper zusammengesetzt ist und somit wie alles Zusammengesetzte Gegenstand von Verfall und Desintegration ist. Jedem Wesen, das aus einer mütterlichen Gebärmutter geboren worden ist, steht gemäss seinem von ihm selbst in unendlichen Lebenszeiten angesammelten Karma ein kürzeres oder längeres Leben bevor – an dessen Ende steht unausweichlich der Tod. In diesem Sinne ist der Tod das charakterisierende Merkmal von allem Zusammengesetzten; er ist das Zeichen für Vergänglichkeit! Der historische Buddha hat gelehrt, dass alles Zusammengesetzte vergänglich ist (26). ‚Zusammengesetzt‘ bedeutet, dass ein Phänomen wie beispielsweise der menschliche Körper aus vielen kleineren Teilen (27) zusammengesetzt ist, die irgendwann einmal wieder auseinanderfallen werden. So unterliegt alles Zusammengesetzte der Vergänglichkeit (28).

Natürlich handelt es sich auch beim eigenen Körper um etwas ‚Zusammengesetztes‘, da dieser folgendermassen aus den fünf Elementen zusammengesetzt ist: Das sog. innere Erdelement von Haut, Fleisch und Knochen usw. – also alle festen körperlichen Bestandteile – entspricht dem äusseren Erdelement; die Körpertemperatur – also sämtliche Stoffwechselprozesse, bei denen Wärme frei wird – entspricht dem äusseren Feuerelement; Blut, Lymphe, Urin und andere Körperflüssigkeiten entsprechen dem äusseren Wasserelement; und der Atem entspricht dem äusseren Windelement (29).

Auch die einzelnen anatomisch/physiologischen Strukturen des Körpers wie sein Fleisch, das Blut usw. sind – obwohl die Worte und wissenschaftlichen Bezeichnungen, die ihnen zugeschrieben werden, diesen Eindruck vermitteln – keine ‚einzelnen Entitäten‘ (30), sondern sie bestehen aus einer Unzahl einzelner Muskelstränge und immer feineren Muskelfasern bzw. aus den einzelnen Bestandteilen des Blutes usw., die ihrerseits wiederum aus Molekülen, dann aus den Atomen und deren Bestandteilen bestehen, die sich selbst ad infinitum aus immer kleineren Partikeln zusammensetzen; deshalb existieren die verschiedenen Bausteine des Körpers, die die fünf Elemente repräsentieren, ‚lediglich‘ relativ bzw. in Abhängigkeit von den sie konstituierenden Bestandteilen und stellen also keine ‚singulären‘ Entitäten dar. Da die einzelnen Bestandteile des Körpers nur in Abhängigkeit von den sie konstituierenden Elementen existieren, unterliegt deren reibungsloses Zusammenspiel ebenfalls der Veränderung in der Zeit. Alles ‚Zusammengesetzte‘ – insbesondere lebende Organismen – fallen demzufolge nach einer gewissen Zeit wieder der Vergänglichkeit anheim. Wenn der Körper sämtlicher körperlicher Wesen, der als ‚Zusammengesetztes‘ aus den fünf Elementen besteht, zu irgendeinem Zeitpunkt unvermeidlich wieder der Desintegration anheimfallen wird, sterben die Wesen.

Im Sterben trennen sich Körper und Geist, und der aus Materie bestehende Körper zerfällt vollends. Der Geist, die Persönlichkeit bzw. die Entität, die den Erlebniskern oder die Psyche des Menschen ausmacht, wird im Buddhismus nicht als Entäusserung körperlicher Prozesse (31) aufgefasst, sondern beschreibt eine eigenständige geistige Dimension. Dementsprechend ist der Geist gemäss einer buddhistischen Auffassung in einem aktiven Sinne als aus einer endlosen Folge von Momenten der Bewusstheit bzw. des Gewahrseins zusammengesetzt ... und stellt ein Kontinuum einzelner Bewusstseinsmomente dar, die die aktiven Agenten sämtlicher bewusst erfahrener Eindrücke ausmachen. Unter geistigen Eindrücken ist in diesem Zusammenhang die Totalität der einem Individuum bewusst werdenden geistigen Inhalte zu verstehen. Geist stellt demzufolge die geistige bzw. bewusstseinsmässige Komponente einer jeden bewusst werdenden Erfahrung dar. ... Geist ist in diesem Sinne als die unsubstantielle, weder materielle noch in irgendeinem körperlichen Organ materiell verankerte, leuchtende, klare und deutliche Fähigkeit des Individuums definiert, wahrnehmen und verstehen zu können (32).

Darüber hinaus wird empfohlen, immer wieder über die Ungewissheit des Zeitpunktes des Todes nachzudenken. Der Todeszeitpunkt ist ungewiss, weil die Lebensspanne von Individuum zu Individuum schwankt, weil dem Körper keine ihn konstituierende solide Essenz innewohnt und weil es eine Vielzahl von Ursachen für den Tod gibt. Deshalb wird der Körper der Lebewesen mit einer Blase auf einem Wildwasser, die vom Wind hervorgerufen wurde, oder mit einer Kerzenflamme im Luftzug verglichen. Das Leben ist derart unbeständig, dass es ein unfassbares Wunder ist, dass man wieder einatmet, nachdem man ausgeatmet hat, und dass man wieder erfrischt vom Schlaf erwacht.

Der Körper, der nur unter grossen Schwierigkeiten vervollkommnet und anschliessend durch Nahrung und Kleidung am Leben erhalten werden konnte, der weder Krankheiten noch Hitze, weder Kälte, Hunger oder Durst ertragen kann, wird nach dem Tod von Vögeln und Hunden gefressen (33) oder den Flammen eines Feuers überantwortet (34), vom Wasser davongetragen (35) oder in einem tiefen Loch in der Erde vergraben (36).

Wann immer man dem Sterben anderer beiwohnt, vom Sterben anderer hört oder sich an das Sterben anderer erinnert, sollte man dies auf sich selbst anwenden und darüber kontemplieren, wie unbeständig und anfällig das eigene Leben ist. Da man von derselben Natur ist wie irgendein anderer Sterbender, der bislang voller Kraft und von guter körperlicher Verfassung war, sollte man sich klar machen, dass der Tod schon bald unvermittelt und ohne jede Ankündigung auch zu einem selbst kommen kann. Da man folglich nie sicher sein kann, ob man den nächsten Morgen noch erleben wird, sollte man sich nicht ausschliesslich um das ‚Morgen‘ sorgen, sondern den Belangen der nächsten Existenz mindestens die gleiche Bedeutung einräumen! Der Nutzen solcher Betrachtungen über die Vergänglichkeit und Sterblichkeit besteht darin, dass – indem man alles Zusammengesetzte als vergänglich erkennt – die Anhaftung an dieses Leben nachlässt; dies ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass man seine spirituellen Praktiken mit Hingabe und Ausdauer betreibt und so das Gewahrsein des eigenen Geistes von allen Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich des zukünftigen Lebensunterhalts, des zukünftigen Wohlbefindens, zukünftigen Glücks und sozialen Status‘ abwendet, bis man schliesslich alle Erscheinungen als gleichwertig erkennt (37).

Die Belehrungen des sog. ‚Vajrayana‘ bzw. Diamantfahrzeugs werden deshalb als der geheime Pfad bezeichnet, weil sie ausserordentlich spezielle Methoden (38) beinhalten, die eine unmittelbar eintretende Erleuchtung ermöglichen. Diese Methoden sind so einfach, dass viele Menschen sie nicht glauben werden, und so tiefgründig, dass die meisten Menschen sie nicht erfassen können. Wenn einem zum Zeitpunkt des Sterbens die Gottheiten erscheinen, besteht die Möglichkeit, spontan und unmittelbar die Erleuchtung zu erlangen – wenn es einem gelingen sollte, das, was geschieht, direkt zu erkennen. Wer zu Lebzeiten sehr viel negatives Karma angesammelt hat, wird zum Zeitpunkt seines Sterbens kein Vertrauen in die Möglichkeit der Erleuchtung verspüren, und er wird durch das Gewicht seines schlechten Karma davon abgehalten werden, die Gottheiten als solche zu erkennen. Es ist ein grosser Fehler anzunehmen, dass man die Gottheiten des Bardo erkennen kann, ohne in diesem Leben grosse Anstrengungen unternommen zu haben; vielmehr ist es von grösster Bedeutung, jetzt – zu Lebzeiten – Verdienst anzusammeln und Hingabe gegenüber dem Buddha und seiner Lehre zu erzeugen; zusätzlich ist es unerlässlich, seine Meditation gut zu entwickeln und die Gottheiten so klar wie möglich zu visualisieren. Wer in dieser Lebenszeit solcherart positive Gewohnheitstendenzen in seinem Bewusstsein verankert, der kann im Bardo des Sterbens die Erleuchtung verwirklichen (39).

Der Tod ist zwar unausweichlich, aber er wird nicht schmerzlos sein, so wie das irreführende veranschaulichende Beispiel des Verlöschens einer Flamme durch einen Windstoss oder einen Regenguss dies fälschlicherweise nahelegt; den wenigsten – sogar wenn sie die buddhistische Lehre ernsthaft praktiziert haben und dadurch gelernt haben sollten, ihren Geist zu kontrollieren – ist es vergönnt, in grossem Frieden und glücklich zu sterben. Deshalb sollte – wer immer diese Möglichkeit besitzt – sich bereits zu Lebzeiten auf die enormen Schwierigkeiten, die Schmerzen und die Ängste vorbereiten, denen man zu dieser Stunde unausweichlich ausgesetzt sein wird (40).

Da Zeitpunkt und Ursache des eigenen Todes vollkommen im Ungewissen liegen und man nicht einmal mit Sicherheit davon ausgehen kann, den nächsten Tag oder die nächste Woche zu erleben, sollte man überall, wo man sich aufhält, und unter allen Umständen folgendermassen einsgerichtet über den eigenen Tod kontemplieren: Während man irgendeine unbedeutende Handlung ausübt, sollte man sich sagen: ‚Dies ist wohl die letzte Tat in meinem Leben!‘ und sich mit vollkommener Überzeugung darauf konzentrieren. Wohin immer man sich auch wendet, immer sollte man sich sagen: ‚Mag sein, dass ich sterbe, wenn ich dort angekommen bin! Es gibt keine Gewissheit, dass ich von dort zurückkehren werde!‘ Begibt man sich auf eine Reise, sollte man sich fragen: ‚Werde ich an meinem Bestimmungsort sterben?‘ Wo immer man sich aufhält, immer sollte man sich fragen, ob dies der Ort ist, an dem man sterben wird. Geht man zu Bett, sollte man sich fragen, ob man im Verlaufe dieser Nacht sterben wird, oder ob man den Morgen unbeschadet erleben wird. Erhebt man sich morgens vom Schlaf, dann sollte man sich fragen, ob man irgendwann im Verlaufe dieses Tages sterben wird, und so weiter und so fort. Wer auf diese Art die Todesgewissheit in sich verankert und so zur Überzeugung gelangt, dass er – was die Vorbereitung auf den eigenen Tod betrifft – keine Zeit zu verlieren hat, und daraufhin buddhistische Praxis in einer authentischen Weise ausübt, ohne je in Unachtsamkeit zu geraten oder aus einem achtsamen Geisteszustand wieder herauszufallen, der wird – wenn der Tod kommt – nicht unvorbereitet sein (41).

Keinesfalls sollte man sich jedoch darauf verlassen, dass der Ablauf des Sterbens bei jedem Individuum und unter allen Umständen starr nach dem im folgenden präsentierten Muster verlaufen muss: Zuweilen finden die verschiedenen Stadien der Auflösung der Elemente in einer vollkommen anderen Reihenfolge statt, oder ein Aspekt der Auflösung der Elemente steht sehr viel mehr im Vordergrund des subjektiven Erlebens des Sterbens und bzw. oder der äusseren Anzeichen des Sterbens als die anderen; die Stadien der Auflösung geschehen in Abhängigkeit von der körperlichen Konstitution des sterbenden Individuums, von der Beschaffenheit des feinstofflichen Energiesystems seiner Kanäle, Winde und Tropfen (42) sowie von den äusseren Umständen, die das Sterben begleiten oder hervorrufen. Auf jeden Fall ist es ausserordentlich vorteilhaft, die verschiedenen Stadien der Auflösung sowie die äusseren, inneren und geheimen Anzeichen, die mit jenen einhergehen, so gut zu kennen, dass man zu dem Zeitpunkt, an dem man damit konfrontiert sein wird, weiss, was zu tun ist (43).


Chenrezig, der Herr des Mitgefühls

Die Befreiung durch Hören im Zwischenzustand

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