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Erster Band
I
Wo der Leser mit den Leiden Hauptpersonen des Buches Bekanntschaft macht
ОглавлениеDer Chevalier de la Graverie machte zum zweiten Male die Runde um die Stadt.
Vielleicht wäre es logischer, dem Leser zuvörderst zu sagen, wer der Chevalier de la Graverie war und in welchem der sechsundachtzig Departements von Frankreich die Stadt lag, um welche er die Runde machte. Aber wir haben in einer Anwandlung von Humor, der wahrscheinlich eine Folge des unlängst eingeatmeten englischen Nebels ist, den Entschluss gefasst, einen neuen, noch nie dagewesenen Roman zu machen.
Wie man s anfängt, einen neuen, noch nie dagewesenen Roman zu machen? Man kehrt die Ordnung der andern Romane um.
Deshalb fangen wir nicht, wie es bisher Sitte war, beim Anfange, sondern beim Ende an. Dieses Beispiel wird gewiss Nachahmung finden, und in einiger Zeit wird man die Romane nur noch beim Ende anfangen.
Überdies haben wir noch einen andern Grund, die gewöhnliche Ordnung umzukehren: wir fürchten, dass die trockenen biographischen Notizen den Leser abschrecken und ihn bewegen würden, schon am Ende der zweiten Seite das Buch zuzuschlagen.
Vor der Hand wollen wir also nur sagen was wir ohne dies nicht verschweigen können, dass die Szene um das Jahr 1842 zu Chartres in der Landschaft Beauce, auf der um die alten Festungswerke der vormaligen Hauptstadt der Carnutes von Ulmen beschatteten Promenade eröffnet wird.
Mit diesem Vorbehalt hinsichtlich der Jugendzeit unseres Helden, oder vielmehr des einen unserer Helden, verwahren wir uns gegen die Beschuldigung, als ob wir den Leser hinterrücks mit einer langweiligen Jugendbiographie zu überfallen beabsichtigten. Wir fahren fort.
Der Chevalier de la Graverie war auf seiner zweiten Runde um die Stadt. Er kam eben an den Teil der Wallpromenade, wo man die großen Höfe der Reiterkaserne übersehen kann.
Der Chevalier stand still. Es war sein Lieblingsplatz.
Der Chevalier de la Graverie ging jeden Mittag Schlag zwölf Uhr aus, nachdem er seinen Kaffee ungezuckert genommen und drei bis vier Stücke Zucker in die Rocktasche gesteckt hatte, um dieselben unterwegs zu essen. Er wusste es immer so einzurichten, dass er in dem Augenblicke, wo zum Pferde putzen geblasen wurde, bei der Reiterkaserne ankam.
In der Persönlichkeit oder Haltung des Chevalier lag freilich durchaus nichts Militärisches; im Gegenteil, er war der einfachste, gutmütigste Mensch von der Welt. Aber er sah gern das pittoreske, lebensvolle Bild, das ihn an die Zeit erinnerte, wo er selbst – unter welchen Umständen, werden wir später sagen – Musketier zu Pferde gewesen war. Er war sehr stolz darauf – seitdem er nicht mehr Musketier war.
Denn ohne sich das Ansehen zu geben, als ob er in den Erinnerungen an eine frühere Zeit Trost für die Vergangenheit suchte, trug er sein vormals semmelfarbenes und mit der Zeit perlgrau gewordenes Haar mit philosophischem Gleichmut und schien überhaupt mit den Gaben, welche ihm die Natur in nicht sehr reichem Maße beschieden, vollkommen zufrieden,’ aber er zeigte sich den gemütlichen Spießbürgern, die gleich ihm bei der Reiterkaserne ihre tägliche Zerstreuung suchten, gern als Kenner der Pferde und des Kavalleriedienstes, und es machte ihm Freude, wenn seine Nachbarn zu ihm sagten:
»Chevalier, Sie müssen in Ihrer Zeit ein hübscher Offizier gewesen sein.«
Diese Vermutung war dem Chevalier um so angenehmer, da sie völlig unbegründet war.
Es dürfte hier der Ort sein, ihn dem Leser in seiner äußern Erscheinung vorzuführen; seine geistigen Eigenschaften werden sich später von selbst entwickeln.
Der Chevalier de la Graverie war ein kleines korpulentes Männchen von sieben- bis achtundvierzig Jahren, weichlich und schlaff, nach Art der Weiber und Eunuchen. Sein in den politischen und militärischen Personenbeschreibungen gewöhnlich als »blond« bezeichnetes Haar war, wie schon erwähnt, gelblich und ging ins Perlgraue über. Seine großen, ultramarinblauen Augen hatten gemeiniglich den Ausdruck der Unruhe, zuweilen waren sie jedoch starr und träumerisch. Seine Ohren waren groß und schlaff, seine Lippen dick, die Unterlippe war etwas herabhängend, die Gesichtsfarbe stellenweise rötlich, und fast aschgrau wo sie nicht rot war.
Der Kopf wurde von einem kurzen dicken Halse getragen; der Rumpf war ganz Bauch, und an beiden Seiten des» selben hingen ein Paar dünne, kurze, kraftlose Arme, die mit Scharnieren an den Schultern befestigt zu sein schienen.
Der Bauch endlich bewegte sich mit Hilft kleiner Beinchen, rund wie Würste und etwas säbelförmig gekrümmt.
In dem Augenblicke, wo wir das Männlein dem Leser vorstellen, bestand seine Kleidung aus einem niedrigen schwarzen Castorhut mit breitem Rande, aus einem feinen gestickten weißen Halstuch, aus einer weißen Piquéweste, blauem Frack mit vergoldeten Knöpfen, etwas kurzen und engen Nankinhosen, bunten baumwollenen Strümpfen, und Schuhen mit großen Bandschleifen.
Das Pferde putzen der Cavallerie war der Glanzpunkt, die vorzügliche Augenweide seines täglichen Spazierganges, der ihm zur Gewohnheit, zur diätetischen Notwendigkeit geworden war. In der Nähe der Reiterkaserne begann er immer rascher zu gehen als sonst; ersehnte sich nach dem Pferdeputzen wie ein Feinschmecker nach einem guten Bissen.
Vor der Bank am Rande der zu den Stallungen hin» abführenden Böschung stand der Chevalier de la Graverie still und schaute in den Kasernenhof hinunter, ob seine Augenweide bald beginnen werde; dann setzte er sich methodisch, wie ein alter Habitué im Parterre des Theatre-Francais Platz nimmt, legte beide Hände auf den goldenen Stockknopf und das Kinn auf die Hände und erwartete das Trompetensignal.
Gerade an diesem Tage würde das interessante Schauspiel des Pferdeputzens manchen blasierten und minder neugierigen Bummler, als unser Chevalier war, gefesselt haben’ nicht als ob das tägliche Geschäft an sich etwas Ungewohntes gehabt hätte: es waren dieselben Braunen. Füchse, Schimmel, Rappen Schecken, die unter Striegel und Kartätsche wieherten und stampften: man sah dieselben Dragoner in Holzschuhen und Zwilchhosen, dieselben sich langweilenden Unterlieutenants, denselben ernsten, strengen Kommandanten, der auf einen Verstoß gegen die Vorschriften lauerte, wie die Katze auf die Maus. Aber an dem Tage, wo wir dem Chevalier de la Graverie begegnen, wurde diese Masse von Zwei- und Vierfüßlern von einer schönen Herbstsonne gar freundlich beleuchtet, welche sowohl den Gesamteindruck des Bildes erhöhte, als auch die Einzelheiten in einem günstigen Lichte erscheinen ließ. Der Chevalier glaubte die Croupen der Pferde noch nie so glänzend, die Helme und Säbel noch nie so funkelnd, die Gesichter noch nie so scharf und deutlich markiert, das ganze Bild noch nie so reizend gesehen zu haben.
Die beiden majestätischen Türme der alten ehrwürdigen Kathedrale prangten im goldenen Sonnenlicht, das von dem italienischen Himmel geborgt zu sein schien; ihre durchbrochenen Verzierungen hoben sich an dem reinen, wolkenlosen Himmel wie spitzenartige feine Auszackungen hervor und das Laub der Bäume hatte jene wunderschönen Schattierungen von Grün, Purpur und Gold, welche einer Herbstlandschaft einen so eigentümlichen Reiz geben.
Der Chevalier gehörte freilich keineswegs der romantischen Schule an, und es war ihm nie in den Sinn gekommen die »Méditations poétiques« von Lamartine, oder die »Feuilles d’autonomne« von Victor Hugo zu lesen; aber er fühlte sich unwillkürlich gefesselt durch das wunder herrliche, majestätische Panorama, das sich vor seinen Blicken ausbreitete. Es ging ihm nie allen geistesträgen Menschen: statt einen Überblick über die Szene zu gewinnen und den Klug der Gedanken von dem eigenen Willen abhängig zu machen, wurde er bald von ihrem Eindruck überwältigt und versank in jene geistige Erschlaffung, wo man vor sich hinstarrt, ohne zu sehen, wo man die an das Ohr dringenden Klänge nicht hört, wo die Traumbilder bunt und rasch auf einander folgen, wie die stets wechselnden Flächen des Kaleidoskops, ohne dass der Träumer die Kraft hat, einen seiner vorüber schwimmenden Träume zu erhaschen und festzuhalten. Ein solcher Zustand hat eine entfernte Ähnlichkeit mit der Trunkenheit des Opiumrauchers oder Hatschi-Essers.
Als der Chevalier einige Minuten in diesem halbwachen Zustande gewesen war, wurde er durch ein ganz materielles Gefühl in die Wirklichkeit zurückversetzt. Es schien ihm als ob sich eine kecke Hand verstohlen in seine linke Rocktasche einzuführen suchte.
Er sah sich rasch um, und zu seinem großen Erstaunen erblickte er nicht das Galgengesicht eines Taschendiebes oder Beutelschneiders, sondern das ehrliche, gutmütige Antlitz eines Hundes, der, ohne die mindeste Verlegenheit zu, verraten, gar freundlich mit dem Schweif wedelte und sich lüstern die Schnauze leckte.
Der Taschendieb, der den Chevalier so ungestraft seinen Träumen entrissen hatte, gehörte zu der großen Race langhaariger Jagdhund, welche zugleich mit den von Jacob I. an seinen Vetter Carl VII. gesandten Hilfstruppen aus Schottland nach Frankreich herübergekommen ist. Er war schwarz, reinlich der Jagdhund, mit einem weißen Streifen auf der Brust; er hatte einen langen fahnenartigen Schweif, weiches, glänzendes Haar, schöne, lang herabhängende Ohren, und kluge, fast menschliche Augen.
Kurz, es war für Jedermann ein herrliches Tier. Das wirklich bewundert zu werden verdiente: aber der Chevalier de la Graverie, der eine große Gleichartigkeit gegen alle Tiere, insbesondere gegen Hunde, zur Schau trug, widmete den äußern Reizen des interessanten Taschendiebes nur sehr geringe Aufmerksamkeit.
Er sah sich enttäuscht. – In dem Augenblicke, als er eine Bewegung an seiner Rocktasche fühlte, hatte seine plötzlich aus dem Schlummer aufgerüttelte Phantasie ein ganzes Drama aufgebaut.
Es gab Spitzbuben in Chartres! Eine Bande von »pick-pocket« hatte sich in die Hauptstadt der Landschaft Beauce eingeschlichen, um den reichen Bürgern die Napoleons und Banknoten aus den Taschen zu holen. Und diese Bösewichter, durch die Klugheit und den Scharfsinn eines Spaziergängers entlarvt, ins Gefängnis geschleppt, vor die Assisen gestellt und zum Bagno verurteilt – das war in der That eine prächtige Unterhaltung, die in das einförmige Leben der Provinzstadt eine höchst pikante Abwechslung gebracht hätte! Man kann sich daher denken, wie unangenehm es war, aus diesem unverhofften Gaudium in das langweilige Alltagsleben zurückzusinken!
Der Chevalier machte also in der ersten Aufwallung des Ärgers gegen den Urheber dieser Enttäuschung einen Versuch, den Schmarotzer durch ein olympisches Stirnrunzeln zu verjagen; aber der Hund hielt unerschrocken das Feuer dieses Blickes aus und sah seinen Gegner sogar recht freundlich und zutraulich an, als ob er sagen wollte: Warum zürnen Sie mir? Haben Sie doch Mitleid mit mir!
Das Auge ist bei den Hunden wie bei den Menschen der Spiegel der Seele. Der Blick des Hundes rührte den Chevalier so tief, dass er sofort seine Stirn entrunzelte, in dieselbe Tasche griff, auf welche der Hund einen verstohlenen Angriff versucht hatte, und ein Stück Zucker herausnahm.
Der Hund nahm den Leckerbissen mit der größten Zartheit. Wer ihn sah, wie er so vorsichtig, so freundlich, so zufrieden das süße Almosen hinnahm, würde nie geglaubt haben, dass Diebesgedanken in diesem grundehrlichen Gemüte hätten aufkommen können. Ein scharfer Beobachter, ein Physiognomiker hätte vielleicht einen etwas lebhafteren Ausdruck der Dankbarkeit gewünscht, während die weißen Zähne des Tieres den Zucker zermalmten; aber die Bauchdienerei, bekanntlich eine der sieben Todsünden, gehörte zu den schwachen Seiten des Chevalier, der die Freuden der Tafel als eine Würze des geselligen Lebens betrachtete. Statt daher dem Hunde ob des mehr sinnlichen als dankbaren Ausdrucks seines Gesichts zu zürnen, betrachtete er mit aufrichtiger und fast neidischer Bewunderung die von dem eingebürgerten Schottländer gegebenen Äußerungen des Gaumenkitzels.
Der Hund gehörte offenbar zu der Klasse der unverschämten Bettler. Kaum war der Leckerbissen verschlungen, so wiederholte er seine bereits als erfolgreich erprobten Schmeicheleien, um die Wohltätigkeit des Spaziergängers wieder in Anspruch zu nehmen. Er schien zu wissen, dass er nicht vergebens bat, und wurde zudringlich wie alle Bettler! Der Chevalier ließ sich durch die feuchten bittenden Blicke und das freundliche Wedeln betören und fütterte den interessanten Schmarotzer bis die Tasche ganz leer war.
Der Chevalier konnte sich eines gewissen bitteren Gefühls nicht erwehren; er hatte in den verschiedensten Menschenrassen, vom Höfling bis zum Stallknecht, so viel Undank gesehen, dass er erwartete, ein Mitglied der Hundegenossenschaft werde das von den Adams söhnen seit Jahrtausenden gegebene Beispiel befolgen.
Diese langjährige Erfahrung hätte den Chevalier de la Graverie gleichgültig machen sollen; aber es that ihm weh, noch einmal auf seine Kosten den allgemeinen Undank zu erfahren. Er wünschte daher seinem neuen Bekannten eine peinliche Verlegenheit und sich selbst die daraus entstehenden Demütigungen zu ersparen. Er griff noch einmal in die Rocktasche und nachdem er sich überzeugt hatte, dass kein Zucker mehr darin war, nachdem er, um den Hund von seiner Ehrlichkeit zu überzeugen, die Tasche umgekehrt hatte, streichelte er den Hund, um ihn in Gnaden zu entlassen, stand auf und ging weiter ohne sich umzusehen.