Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 19

Die Straße

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XVIII

Von da an hatten sie die Presnja in ihr Herz geschlossen. Dieses Moskauer Stadtviertel erwies sich als segensreicher Ort. Die Straßen wandelten sich zwar immer mehr zum Oberdeck eines Luxusliners (überall eröffneten teure Geschäfte und Restaurants, entlang der Uferstraße schossen Casinos, Bars, Lasterhöhlen aus dem Boden – da zeigte sich der von den staatlichen Behörden in dieses Viertel gelockte fette Prunk), dennoch gab es, tief drinnen, ein geräumiges Unterdeck für die dritte Klasse, eine Ladefläche, einen Kesselraum.

Schlafplätze fanden sich fast überall.

Sie schliefen im Planetarium, das wegen Umbau geschlossenen war. In der Kuppel klafften Löcher, durch die funkelnder Schnee herabrieselte. Im kelchförmigen Auditorium türmten sich die herausgerissenen Stuhlreihen. Über dem Podium schwebte der stromlose, lädierte Sternenhimmel, der einem gigantischen Tannenzapfen ähnelte. Mäuse raschelten in den schneeverwehten Ecken zwischen vergessenen Nebelfleckkarten.

Oder sie schliefen in ausrangierten Postzügen, die am Weißrussischen Bahnhof auf den Entladegleisen herumstanden. Ein wunderbarer Ort. Sie übernahmen das Heizen der Samoware in den Personenzügen, sammelten vor der Lagerhalle Kohlestückchen auf und brachten diese dann auf einem klapprigen Wägelchen zu den Schaffnern in die Waggons – für einen Laib Brot, für bahneigenen Weißzucker, für ein Kilo Kartoffeln.

Oder sie schliefen im Heizraum des Museums der Revolution von 1905*. Einer der Museumswächter, der nach einem komplizierten Dienstplan zur Schicht antrat[34], dessen Berechnung Koljanytsch selbstlos übernahm, war ihnen zugetan wie ehrbaren Museumsbesuchern.

Diese Nächte waren interessant und gut für Nadja. Wenn der Alte wieder Dienst hatte, kam Koljanytsch sie suchen, denn er wusste, dass der ein anständiges Publikum brauchte.

Fiks, so hieß der Wachmann, sah aus wie ein Tragejoch und verfügte über schauspielerisches Talent. Nachdem er seine Ration runtergekippt hatte, wartete er ungeduldig, bis auch seine Gäste in Fahrt kamen[35], dann ließ er sie die Schuhe ausziehen und scheuchte sie zur Führung.

Zahnlos vor sich hin nuschelnd führte er sie durch die Museumsräume, immer wieder erfasst von brummelnder Verzückung. Wie ein Kind, das versucht, die Redeweise der Erwachsenen nachzuahmen, entbrannte er selbstvergessen im revolutionären Eifer einer Museumsführerin, die sie nicht kannten.

Schlapp von Hitze und Alkohol standen sie da und hörten dem schmuddeligen Alten in seinen karierten Pantoffeln ergeben zu. Der schwache Koljanytsch döste oft ein. Wadja versetzte ihm eine Kopfnuss[36], woraufhin er einen Schritt vorwärts stolperte, aber danach hielt er sich wieder rund fünf Minuten lang aufrecht.

Dass sie hier bei dem verrückten Alten standen, war ihr Tribut für den warmen, sauberen Schlafplatz vor der Geräuschkulisse aus Hurrarufen, Schüssen, Salven und den klappernden Hufen der Kosakenhundertschaft, die vom Diorama der brennenden Presnja* kamen und dem Alten wie Engelsstimmen in den Ohren klangen.

»Fix, fix!«, sagte der Wachmann und winkte sie weiter, wenn er zum nächsten Teil der Ausstellung übergehen wollte.

XIX

Im Georgischen Viertel* standen zu dieser Zeit noch kleine, hundert Jahre alte Villen, Bürgerhäuser aus Holz mit steilen Außentreppchen. Einige von ihnen wurden als Aktenarchive oder Ersatzteillager der Wohnungsverwaltung genutzt, die restlichen standen leer. Eines dieser leeren Häuser befand sich in der Malaja Grusinskaja und war nur deshalb verschont geblieben, weil es von einem Hund bewacht wurde.

Irgendein Beamtenmensch von der Bezirksverwaltung hatte dieses Haus fürs Erste für sich beansprucht und im Hof eine gigantische Hundehütte aufgestellt, aus der, wie man bei ihrem Anblick meinen sollte, jeden Moment ein Bär mit glühenden Pflastersteinen in den Pranken herausspringen konnte.

Tatsächlich kam daraus ein Rottweiler hervorgeschossen und warf sich mit seinen ganzen vier Pud gegen den Maschendrahtzaun. Die Lefzen des Hundes besabberten das Zinkgeflecht, die Luft dröhnte, klirrte, bebte.

Nadja hatte vor Viechern keine Angst, und der Hund leckte ihr die Hände, während Wadja sich ängstlich vorbeischlich, die Außentreppe hochstieg und nach dem Klingeldraht tastete; auf das blecherne Klirren hin flog die Tür auf, und ein scheuer Schatten ließ sie mit dem Wind und einem Schwung wirbelnden Schneegestöbers hinein. Sie stapften die kalte Treppe hinauf in ein kaltes Zimmer, wo einige kaputte Stühle oder Kisten, die sie in einen kleinen Bollerofen warfen, eine halbe Stunde später den Luftklotz auftauten, die Fingerzweiglein, das Geäst der Arme, den verschachtelten Käfig aus ungeschickten Umschlingungen.

Aber dann wurde der Hund vergiftet und ihr Platz entdeckt.

Zuerst kämpfte Wadja gegen die Eindringlinge: Sie erwiesen sich jedoch als stärker. Doch bald darauf brannte das Haus sowieso ab. Und Koljanytsch mit ihm, der hatte es nicht mehr rausgeschafft; seine Kumpels kriegten ihn nicht wach, überall Rauch und Dunkel, die Flammen kriechen schon über die Wände, wie sollen sie ihn denn tragen?

Das war Ende November gewesen. Hoch über der Presnja glühte an diesem Morgen ein himbeerfarbener Sonnenaufgang. Und dann begann es zu schneien. Wie eine Ohnmacht.

Das Feuer wurde schon gelöscht, als sie ihr Haus verließen und die Straße zum Weißrussischen Bahnhof hinaufgetrottet kamen. Dort wartete am Blumenmarkt Arbeit auf sie: Abfälle aussortieren, nach draußen schaffen, auf einen Karren laden und zum Müllplatz am Frachtbahnhof bringen.

Der Schnee fiel in den Krater des verkohlten, qualmenden Hauses.


Die Feuerwehrleute rauchten. Nur einer hockte mit dem Schlauch an die Brust gepresst da und führte den Wasserstrahl hin und her, spritzte die Mauern ab. Wadja kramte eine Papirossa hervor und ging zu ihnen hin.

»Ist wer verbrannt?«, fragte er und ließ sich Feuer geben.

»Einen Ver-verkohlten gibt’s. Einen v-v-von euch«, stotterte ein dreckverschmierter Feuerwehrmann.

Wadja nickte und ging weiter. Nadja betrachtete gerade die Schneeflocken, die in ihrer Armbeuge gelandet waren. Sie hob den Arm, drehte ihn hin und her, um den Augen verschiedene Blickwinkel zu bieten, und freute sich an den glitzernden Fünkchen.

Sie hatte heute schlecht geschlafen. Hatte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere geworfen, er hatte ihren Ellbogen an die Schläfe bekommen. Aber daran war er ja gewöhnt. Schon früher hatte es ihn nicht gestört, nur erschreckt. Jetzt aber war es eigentlich gar nicht mehr schlimm, kurz, er hatte sich daran gewöhnt – so dachte Wadja bei sich, und der Gedanke erfüllte ihn mit Zufriedenheit.

Die Menge der Gaffer zerstreute sich allmählich, aber es kamen immer wieder Neue: Ihre Gesichter bebten. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, merkte Wadja, er sah plötzlich schlechter, und dann kippte alles jäh ins Weiße, die Augen fühlten sich seltsam an, schmerzten, und eins nach dem anderen verschwammen die Gesichter der Passanten.

Der Wasserstrahl schlug los, zischte, zerschnitt die Luft, brach verbrannte Scheite aus den Fensteröffnungen und Rahmen. Ringsum glich ein Gesicht dem anderen: Alle, die in die Feuersglut sahen, hatten denselben, gleichsam verkohlten Gesichtsausdruck. Ihre Lippen bewegten sich; sie liefen nicht weiter, sondern rückten zu einem Halbkreis zusammen, drängelten. Irgendwo ertönte Wehklagen, eine Frau schluchzte, die Menschen setzten sich wieder in Bewegung, nickten dabei. Wadja machte einen Schritt; da erschien im Reigen der Gesichter und Augen am Himmel, der als Dreieck wegkippte, über der Fläche der qualmenden Mauer Tante Oljas Gesicht und glitt vorbei. Sie sah ihn bekümmert an, mit einem traurigen, verstörten Lächeln, und löste sich dann in der Menge auf. Da verfiel Wadja in Laufschritt. Nadja kam ihm gerade noch hinterher und hängte sich bei ihm ein.

XX

Sie mieden die Straße so gut es ging, ganz umgehen konnten sie sie aber nicht: Die Straße war ihre Ernährerin. Von den großen Kellergemeinschaften hielten sie sich allerdings fern. Dort musste man sich wohl oder übel anpassen: Ab einer bestimmten Anzahl Menschen (wie viele, das hing von ihren jeweiligen Eigenschaften ab) verfestigte sich immer die Gewalt der Macht. Wadja aber liebte die Freiheit, für sich und für andere. Er liebte sie nicht intuitiv, nicht einfach so, und eben diese erarbeitete Freiheit, die für Nadja unerreichbar war, schätzte sie an Wadja – und er war für sie die letzte Stütze im Leben[37].

In jeder Gemeinschaftsbehausung fanden sich zwangsläufig ein oder mehrere Bosse, die einen Tribut von den Tageseinnahmen forderten. Das geschah am Ende des Tages, wenn sich alle um den gemeinsamen Pott versammelten und jeder darin versenkte, was er am Tag erbeutet hatte.

Wadja und Nadja konnten kaum etwas beisteuern. Sie bettelten nur selten, wenn sie Geld für eine Reise oder für Medikamente brauchten. Oder Wadja für Hochprozentigen, wenns hart auf hart kam (Nadja trank nicht und schimpfte dann mit Wadja, aber sie half ihm trotzdem). Also dachte sich Wadja wieder Märchen aus, für die er immer Zuhörer fand.

In den Gemeinschaftskellern lebte es sich nicht schlecht: Es gab Sofas, Klappbetten, Teppiche, die Wände waren mit Zeitungen und alten Plakaten beklebt. Aber die Bosse und das Ungeziefer vergällten ihnen die Wärme der Gemeinschaft. Für die meisten war das einzige Ziel des Tages, sich am Abend zu betrinken – oft bis zur Bewusstlosigkeit. Einmal wurde Nadja bei einer ihrer Übernachtungen dort von einem klackernden Geräusch direkt neben ihrem Ohr geweckt. Sie öffnete die Augen. Vor ihr saß eine riesenhafte Ratte: glattglänzend, größer als eine Katze, ohne Augen. Die Ratte putzte sich. Dann setzte sie sich in Bewegung, schabte und klackte mit den Krallen über den Betonboden und zog dabei die Hinterbeine nach. Ganz wie Tjorka vom Sawjolowo- Bahnhof, der fette Invalide ohne Beine, der keinen Rollstuhl hatte.

In der Presnja, besonders in den Georgischen Straßen und im Tischinski-Viertel*, gab es genügend ergiebige Müllplätze. Dort ließen sich gute Anziehsachen finden, manche hatten nur kleine Flecken oder aufgeplatzte Nähte, andere waren sogar noch ganz neu. Mit Kleidung waren sie also versorgt. Einmal entdeckte Wadja in der Tasche eines erbeuteten Jacketts ein schweres Zigarettenetui und eine Sonnenbrille.

Nadja hatte ihn nicht gleich erkannt. Sie klopfte ihm auf die Schulter und sagte lachend:

»Du Künstler!«

Unter den Obdachlosen galt es als das große Los[38], wenn man in einer Mülltonne oder an einer Bushaltestelle von Taschendieben weggeworfene Dokumente fand. Dann konnte man auf einen Finderlohn des Besitzers hoffen, falls dieser sich noch keine neuen Papiere besorgt hatte.

Und einmal fand Nadja einen Sonnenschirm. Sie spazierte damit herum, als hielte sie einen Luftballon an einer Schnur: Sie hob den Ellbogen und schaute immer wieder von der Seite auf das luftige Seidenkonstrukt. Und Wadja sah großtuerisch zu ihr hin.

34

zur Schicht antreten – заступить на работу, заступить на смену

35

in Fahrt kommen (разг.) – войти в раж, разойтись

36

j-m eine Kopfnuss versetzen (разг.) – дать кому-либо подзатыльник

37

j-m die letzte Stütze im Leben sein – быть кому-либо последней опорой (поддержкой) в жизни

38

das große Los – джек-пот, главный приз лотереи, главный выигрыш

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