Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 23

Die Mutter*
XXIV

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Schlimm war, dass sie nicht wusste, wo der Mensch aufhörte. Sie ahnte, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, dass es doch dann egal war, wer man war. Dass sie die Grenze nicht bemerken würde. Besser gesagt, wenn sie sie überschritten hätte, wäre es ihr längst egal. Aber genau da lag die Angst, weil man vollkommen wehrlos war – da half kein Schlagen oder Beißen. Oder vielleicht war die Angst doch ein bisschen woanders. Aber wem sollte man sagen, was sich nicht ausdrücken ließ? Wadja hörte ihr zu, verstand sie aber nicht. Verstand nicht, wie es schlimmer werden sollte als ohnehin schon. Und sie wusste es auch nicht.

Sie brauchte das Reden: dass man ihr etwas erzählte, sie nach etwas fragte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Mutter mit ihr geredet. Immerzu. Hatte vorgelesen, gesprochen, erzählt, diskutiert. Hatte sie dazu gebracht, Bücher zu lesen. Nadja fiel das alles schwer. Sie konnte kaum antworten. Die Qual, sich auszudrücken, saß in ihr wie ein sengender, wunder Klumpen. Die Wörter existierten gleichsam getrennt von ihr. Sie behagten ihr nicht, weil sie nie dem ähnelten, was sie eigentlich waren.

Schlimm war, dass sie die Grenze nicht bemerkte. Wadja redete mit ihr. Er redete, hörte aber nicht zu – und wollte auch eigentlich gar nicht, dass sie redete. Er sang auch manchmal. Aber das reichte nicht. Es brauchte das systematische Vorgehen, mit dem die Mutter sie immer wieder aus dem Nichtsein herausgezerrt hatte.

Darin hatte das Leben der Mutter bestanden. Immer nach außen gerichtet: wie sie sprach und sich ausdrückte, wie sie mit der Tochter über alles und jeden redete. Über die Verwandten, übers Essen, über die Prüfungen, dass man schauen muss, wo man bleibt, und was für Menschen es gibt – gute, schlechte, gleichgültige. Sie wusste noch, was die Mutter ihr einmal gesagt hatte – sonst wusste sie fast nichts mehr:

»Mach einen Bogen um dünne Menschen[42]. Sie sind so dünn, weil sie wegen etwas traurig sind. Und das kann sich auf ihr Verhältnis zu dir auswirken.«

Mit viel Büffeln und zweimal Schmiergeld schafften sie und ihre Mutter die Aufnahmeprüfung am Technikum. Dort wurde sie ausgelacht, aber sie war gar nicht so schlecht. Die Lehrer zuckten die Achseln. Die Schüler, die zum Teil nicht einmal gut Russisch konnten, lachten trotzdem weiter, neckten sich nun aber gegenseitig: Die sei zwar bekloppt, habe aber bessere Noten als manch anderer.

Niemand wusste, dass sie alles, was sie lernte, am nächsten Tag vergessen hatte. Und dass sie für die Prüfungen noch einmal von vorne anfangen musste.

Ihr ganzes Leben bestand aus Lernen, aus der Jagd nach der Norm, nach dem Leben. Und sie nahm ihr Los an, ergeben und mit mechanischer Arglosigkeit.

42

einen Bogen um j-n machen – обходить, избегать кого-либо

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

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