Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 31

Der König
XXXII

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Koroljows andere Klasse war trotz aller heißen Freundschaftlichkeit mit der Zeit auseinandergefallen, als hätte es sie nie gegeben. Viele lebten übers Land oder die Welt verstreut, die übrigen hatte das Leben sonstwohin verschleppt. Genau das Gleiche war mit seinen Kommilitonen passiert. Sie hatte das Meer des Lebens noch gewaltiger auseinandergetrieben. Die einen vegetierten wie er dahin, andere waren reich geworden, nur wenige hatten in der Wissenschaft bleiben können, ja, und auch das nur um den Preis der Emigration.

Die Erinnerungen an Schule und Unizeiten hatten Koroljow lange genährt. Mit der Zeit ließ die farbliche Intensität der Schulzeit nach, dafür entstand eine distanzierte Faszination, die ihm erlaubte, in kleine Kavernen abzutauchen und geheimnisvolle Kratzer aufzuspüren auf diesem von der Welt gegossenen Gipsabdruck des eigenen Lebens. Genau so ist man nach dem Abschied von einem geliebten Gesicht nicht mehr imstande, sich daran zu erinnern, und dann sind es einzelne Striche, Details und Momentaufnahmen, das feine Profil, das Zittern des Kinns, die Spitzenrüsche, das Taschentuch, das aus dem Ärmel schaut – viele Krümel aus kleinen, unbedeutenden Zügen sind es, die die Großzügigkeit der ganzheitlichen Erscheinung ersetzen.

Wie ein Fährtensucher sich in das Verhaltensrelief der Spuren eines erlegten Tieres vertieft, wie ein Segelflieger seinen Blick auf die glühende, ihn zusammen mit heißen Luftströmungen emporhebende Vulkanlandschaft heftet, so erinnerte sich Koroljow beim Zurückdenken an die Schule weder an seine Kindheit noch an den Alltag noch an den Wunsch, Eltern zu haben, der seine Freunde so gequält und verzehrt hatte. Er versank kontemplativ in die Wanderungen und die Wissenschaft, es hatte ihn zur Erkenntnis gezogen wie andere Kinder zu den Schatten ihrer Eltern, demütig folgte er dem Streben hin zu den Geheimnissen des Verstandes und der Welt.

Aus dem Alltag waren ihm nur einige zufällige Dinge in Erinnerung. Ein abgebrochener Heizkörper, der wie durch ein Wunder die, die auf ihm saßen, nicht verbrüht hatte. Aluminiumlöffel, die gewunden waren wie Archimedische Schrauben, heiß, gerade aus der Spüle – man musste sie an der Essensausgabe sofort ins Glas stecken, die Milchhaut vom Kakao durchstoßen, so blieben sie warm. Mäuseschwänze zwischen Knochen und Adern in der kaliumpermanganatfarbenen Wurstration (ein ornamental-tektonisches Geflecht, wie man es im Papier mit Fasern und eingetrockneten Säften aus Holzadern findet). Polternde Spatzenhochzeiten, die vor dem Fenster das Morgengrauen ankündigten. Und der ekelhafte Geruch von angebrannter Milch im Speisesaal, der ihm das Frühstück vergällte.

Im letzten Schuljahr war Koroljow gezwungen einer Mode zu folgen, zu der Überlegungen zum Thema Spiritualität gehörten, und so machte er sich mit der Bibel vertraut. Schon bald löste er die Fragen um Religion mithilfe folgender Überlegung, die er während eines romantischen Flirts zum Einsatz brachte[49] (Mondnacht, Kunzewo, die Gegend bei Stalins Datscha, kleine Pfade, der erste, riesenhohe Zaun, weit weg hinter den Bäumen blitzt die Landstraße als Strichellinie aus Scheinwerfern auf, weiße Ruhebänke, auf denen die flammende Wissenschaft der Liebe betrieben wird, trockene Finger streifen am Gürtel entlang, rutschen nach oben, treffen auf zarte Geschmeidigkeit):

»Vielleicht erfinde ich das Fahrrad – aber der theoretischen Physik zufolge ist klar, dass die Möglichkeit einer die Realität voraussagenden Theorie per se ein Gottesbeweis ist, denn die Frage nach dem Aufbau des Weltgebäudes wird formuliert als Suche nach einer Art Homöomorphismus …«

An dieser Stelle wurde ihm endgültig mit einem wissbegierigen Kuss der Mund gestopft – und danach räsonierte Koroljow nie wieder über Religion. Nie wieder.

49

zum Einsatz bringen – применить, ввести в действие

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

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