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Wadja

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XXXV

Er liebte sie zwar, behandelte sie aber absichtlich grob. Er war überzeugt, dass es nicht in die Tüte kam, seine Frau zu verpimpeln!

Ob ihrer Wortkargheit nannte er sie liebevoll Stummchen.

Manchmal ging er mit ihr Hand in Hand.

Oder er sagte, scherzhaft seinen Gefühlen Ausdruck gebend:

»Blöd, dass du bekloppt bist, sonst würd ich dich glatt heiraten.«

Zwar war er grob und bisweilen grausam zu ihr (das eine wie das andere in Maßen), konnte aber nicht ohne sie. Wobei ihre Hilflosigkeit sein seelisches Wohlbefinden noch steigerte. Für ihn war es, als gäbe ihm der physische Defekt seines Kindes das Vergnügen eines kleinen Zubrots.

Aber er hatte auch keine Angst, sie zu verlieren. Er war nämlich zu dem Schluss gekommen: Weib oder kein Weib, das ist Glückssache. Glück wiederum ist Schicksal – und das Schicksal ist ’ne Sau, die als Kotelett in der Pfanne landet, wie Skorytsch zu sagen pflegte.

Im Großen und Ganzen[51] hatte Wadja vor gar nichts Angst. Seine Furchtlosigkeit war nicht Folge von Schlamperei, sondern von Erfahrung: Er wusste genau, dass man Verstümmelung fürchten musste, aber nicht den Tod. Das Einzige, wovor er Angst hatte, war ausgedachtes Zeug. Wadja hatte Angst vor den Träumen von einem Vater, den er gar nicht hatte.

In diesen Träumen passierte beinahe nichts, ja, es gab auch keinen Vater. Der trat dort weder als Figur noch als Handlung in Erscheinung. Die Relevanz des Vaters war größer als seine physische Anwesenheit: Er war die Quelle.

Die Träume handelten alle vom Unterwegssein und begannen am Straßenrand. Wadja sah den Vater nicht, bekam aber von ihm irgendwie, wie einen Brotkanten, einen Klumpen Schwermut gereicht und die Aufforderung, diesen Ort zu verlassen und sich aufzumachen. An diesem Platz am Wegesrand, eine mit Ziegelsteinen eingefasste, tiefe Feuerstelle mit Holzgestänge und eine Bank aus einem Brett und zwei Holzblöcken, die hinter den Büschen nicht zu sehen und von der windigen Weite des Feldes durch ein kleines Waldstück abgetrennt waren, hatte der Vater einst gelagert. Bevor Wadja sich auf den Weg machte, besah er sich den Platz und packte Gegenstände ein, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Die Suche nach wertvollen Gegenständen war noch das Erträglichste an dem Traum. Wadja lief umher, begutachtete den Müll am Straßenrand, hob hin und wieder etwas auf und betrachtete es. Mal war es ein Fächer aus vier verrosteten Belka-Taschenmessern, an denen sprechende Fischköpfe festgetrocknet waren, sie waren unglücklich, hatten perlmutterne Wangen und flüsterten: »Wind, Wind, Wind …« Mal kramte er aus dem Wust von Laub plötzlich ein gleichzeitig heiles und zerbrochenes, doch irgendwie nicht auseinanderfallendes Porzellanmädchen hervor. In ihrer hohlen Ferse rollte klirrend eine Schrotkugel, mit der er aus einem Luftdruckgewehr das Figürchen zerschossen hatte. Mal war es ein Plüschbär mit abgerissener Nase, der ein hicksendes Gejaul von sich gab. Bei diesem jämmerlichen Gejaul begann die vom Vater überreichte Schwermut zu würgen, in die Augen traten Tränen. Mal kam aus einer alten Waschmaschine (so eine mit einem sternförmigen Schaufel-Agitator aus Hartgummi und knarzenden Schleuderwalzen) ein altes japanisches Radio zum Vorschein. Säurepulver ausgelaufener Batterien rieselte heraus, den Sender stellte man mit einem Drehknopf ein, der sich sanft unter der Daumenkuppe dahinbewegte. Foxtrott und Dixieland spritzten heraus, sprangen ins Ohr, und er legte das Gerät vorsichtig auf den Boden des Rucksacks. Das letzte Fundstück war immer eine zerlegbare Holzflöte. Er nahm sie aus einem kaputten Kasten, die Teile ließen sich mit einem Schnappverschluss zusammensetzen – Wadja blies versuchsweise hinein und ging dann im Kombinieren der Töne vollkommen auf. Seine Improvisation dauerte lange, er spielte voller Hingabe, der Klang flog auf wie ein beseelter Gedanke und wurde zur Fortsetzung seines Fleischs, bis er plötzlich stutzte, wie flüssig die Musik aus ihm herauskam, obwohl er doch im Wachen gar nicht spielen konnte. Sogleich verlor er die Zauberkraft und überblies fies: Ein enormes Dröhnen schlug aus dem Schalltrichter, ohrenbetäubend, beängstigend, es durchdrang und erschütterte das Innere, verlegte die Ohren. Und nun folgte Wadja völlig ertaubt der Aufforderung, sich auf den Weg zu machen.

Der Rucksack war voll und ragte hinter seinem Rücken auf. Ein Rucksack voller Leben, all seinen stroboskopischen Momenten, seiner ganzen Dinglichkeit, Scheinbarkeit, Qual, Dummheit, Bosheit, Leere, Wärme – dieser ganze myriadische Kosmos aus Müll türmte sich hinter seinen Schultern, zog sich als Schleppe, schepperte, klapperte, sang und schlurrte dahin. Er lief damit am Straßenrand entlang, voller Bedauern passierte er Haltestellen, weil ihm klar war, dass ihn mit einer solchen Last kein Bus mitnehmen würde. Lkws warfen holpernd zerschlagene Ziegelsteine vom Anhänger ab, jagten höllisch vorbei und lösten Druckwellen aus. Der Rucksack vergrößerte die Segelfläche, und Wadja wurde zur Seite geblasen wie eine Feder.

Gelegentlich tauchten am Straßenrand Berge auf. Der Pfad wurde immer steiler, er wunderte sich schon, wie leicht er mit einer solchen Last auf dem steilen Weg fertigwurde. Da stemmte sich ihm der Abhang plötzlich fast in die Brust, und er schwenkte, auf der Suche nach einem Ausweg, auf die Fahrbahn um, die nicht ganz so jäh anstieg, sondern ein sanftgeneigtes Bett in den Hügel schnitt.

Die Träume endeten alle gleich.

Wadja stieg den Steilhang hinab zur Straße, die jetzt als Fluss weiterlief, sich dann zu einem Meer ausweitete, der hohe Rucksack warf ihn auf einem Hubbel plötzlich nach hinten, er landete im Wasser und schwamm langsam an der Klippe entlang, die immer höher im Himmel entschwand.

Oben auf der Klippe stand der Vater und beobachtete, wie sein Sohn schwimmen lernte. Wadja gab sich große Mühe zu schwimmen, obwohl ertrinken einfacher gewesen wäre. Jeder neue Zug war ihm eine Last – bald jedoch fror das Meer zu, nun schwamm er nicht mehr, sondern brach sich durch das immer dicker werdende Eis, schaffte mit Mühe, sich einen Weg freizustoßen. Er wollte, dass der Vater ihn am Rucksack packte, am Schlafittchen, so gut er konnte, ihn emporschwang, einfing, rettete.

Aber dem Vater gefiel nicht, wie sein Sohn schwamm, und da verließ er Wadja.

Er winkte einfach und trat von der Klippe weg, dann schritt er, riesig und unsichtbar, über das kahle Feld in den silbernen Wald. Es war Spätherbst, der bei jedem Schritt glitzernde Reif bedeckte das vertrocknete Gras, die Stämme und Äste.

Geschickt wie ein Tier erklomm der Vater eine Kiefer, bis zum Wipfel, band ein Seil fest, steckte die Füße durch die Schlinge und stürzte sich hinunter.

Und Wadja blieb unten, eingefroren in das weiße, funkelnde Eis, das sich schon in stacheligen Eisblöcken aufs Ufer zubewegte und den Horizont aufbäumen ließ.

Hinter dem Wald ging die Sonne unter und ließ langsam ihre Strahlenbündel durch die Baumstämme blicken.

Die Leiche des Vaters drehte sich ein wenig hin und her, bog sich, rauschte, schälte mit der Wange durchsichtige Schuppen vom Stamm.

Eine glänzende Krähe kreiste aufmerksam über dem Feld, segelte dicht über dem gefrorenen Acker, besann sich plötzlich, trudelte im Zickzack hinüber zum Wald und setzte sich auf das aufgeklappte Kinn.

Reglos starrte sie auf den dunkelnden Horizont.

Und plötzlich hackte sie, eins ums andere, die Augen aus.

51

im Großen und Ganzen – в общем и целом, в основном

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