Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 28
Zoologischer Garten
XXIX
ОглавлениеIhr Leben in der Presnja war in vielerlei Hinsicht mit dem Zoo verbunden. Angefangen hatte es damit, dass Nadja eines Sonntags bei Sonnenaufgang vom Dachboden heruntergestiegen und zum Platz des Aufstandes geschlendert war.
Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.
Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war für sie eine Grundfeste im Leben. Den Sonntag sehnte sie herbei, an ihn dachte sie während der leeren und endlosen Woche.
Nur am frühen Sonntagmorgen zeigte Moskau sein wahres Wesen. Bei Sonnenaufgang ging Nadja in den Pawlik- Morosow-Park, schlenderte über die Wiesen, sammelte eifrig Müll, legte ihn neben die überquellenden Mülleimer. Sie trat hinaus auf die Krasnaja Presnja; die weite Straße eröffnete sich vor ihr als riesenhaftes Parallelepiped von rosa Luft; die Häuser – Reihen gerippter Fassaden, wie der raue Rand einer Muschel – stützten die schwebende luftige Weite. Die helle Pyramide des Hochhauses* ließ die Ferne gewaltig nahekommen. Der Asphalt erholte sich von den tagsüber dahinjagenden, drängelnden Autos. Ein Sprengwagen kroch am Straßenrand entlang und wirbelte mit seinem spritzenden Schnurrhaar Staub und kleinen Müll auf.
Nadja nahm die Abkürzung durch die Höfe, überquerte den Wolkow Pereulok und setzte sich auf eine Bank. Ein hoher Betonzaun umgrenzte eine felsige Insel. Gekrönt wurde sie von einem Berg, der mit zapfenförmigen Lehmhütten, Bienenstöcken und schwarz gähnenden Höhlen übersät war, mit Pfählen und dazwischen gespanntem Tauwerk: Stricken, Hängebrücken, Motorradreifen und an Rohrstücken aufgehängten Tarzanseilen.
Langsam erwachten die Makaken. Sie krochen aus den Hütten, setzten sich an den Eingang, putzten und kratzten sich, erstarrten. Das verschlafene, breite Gepräge ihrer Körper empfing dankbar die ersten Sonnenstrahlen.
Unten in den Gehegen erwachten die Orang-Utans. Langgezogene jaulende Uh-uh-uhs erfüllten die Umgebung.
In den oberen Etagen wurden die Lüftungsfenster zugeschlagen.
Der Pfau schrie, Hyänen gackerten, Gänse schnatterten, Schwäne knarzten, Raubvögel kreischten, Singvögel schmetterten.
Der morgendliche Lärm weckte Nadjas Fantasie. Der kakophone Vielklang durchdrang die durchsichtigen Freudenballons. Sie wiegte den Kopf und seufzte …
Als sie eine Weile gesessen hatte, stand sie unentschlossen auf, lief langsam los, durchquerte die Grünanlage, schaute lächelnd mal auf ihre Füße, mal nach oben, auf das Band des schaukelnden Himmels, schaute die Häuser an, die Fenster, in jedem hätte sie gerne mal gewohnt. Nicht lange, nur ein bisschen, mal ehrfürchtig hineingehen, sich das Leben betrachten, eine Parzelle seiner Heiligkeit – oder vielleicht nicht einmal hineingehen, sondern nur kurz vorbeischauen, mit angehaltenem Atem, wieder hinausgehen, ausatmen, weiterziehen … Und sie ging, glitt am schwankenden Strom der Schaufenster entlang, ein vorbeifahrender Bus berührte plötzlich als Druckwelle die wankende, tiefe Spiegelung, brachte die Ordnung der Straßenwerdung durcheinander: Himmel, Äste fielen nieder, die Straße wogte, stülpte sich auf zu einem Asphaltsee, Bordsteine, Parkumzäunungen zerschlugen, Autos kippten – und Nadja schauderte (plötzlich drehte sich ihr der Kopf und entschwand langsam und unmerklich: wen soll man bitten, schneller zu machen, hilf uns, Tod, langsamer Schritt) und lief dann, wieder eingerenkt, zurückgeschreckt, weiter, lief vergnügt, warum auch immer, wie Wadja, wenn er dem Hausmeister antwortete: »Wir sind Straßenmenschen, Mann. Straßenmenschen, klar?«
Und wieder strebte ihr Atem als Rinnsal aufwärts, in das leere, blendende Blau; wie sehr wünschte sie sich, dass dieses ungreifbare Ausströmen aufhören und sie mit einer leichten Umkehrbewegung erfüllen würde. Sie wusste nicht, wohin sie floss und was da spurlos in ihr verschwand, dafür gab es keinen Namen, nur ein kaltes Ästlein durchzog sie – von der Schulter durch die Brust zur offenen Hand. Langsam zog sie den Faden der Stadt durch sich hindurch, durch die Augen, bis nichts mehr übrig war.
Einmal setzte sich lärmend ein großer grauer Vogel auf einen Baum. Einer seiner Flügel hing herunter. Der Vogel saß da und schaukelte, dann streckte er den langen Hals in die Höhe, blähte den Kropf, nickte – sein furchtbarer Schrei ließ Nadja aufspringen. Wieder nickte der Vogel, blähte den Hals, brüllte und heulte. Als er genug geschrien hatte, flog er hinunter und klopfte mit dem Flügel auf die Erde.
Nadja nahm ihn in den Arm und trug ihn zum Eingang des Zoos. Der Milizionär holte einen Mann mit Brille und Regenumhang. Der ähnelte einer schmuddeligen rostigen Maschine. Sein Brillenbügel war mit Draht umwickelt. Er zog dem Vogel vorsichtig am Flügel. Der Vogel riss sich los, verschwand unter dem Umhang, der Mann half ihm raus und schnarrte mit schreckverzerrtem Gesicht:
»Was guckst du so? Bring die Gans zu Matwejew!«