Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 6

Steppe, Berge, Kloster
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Wadjas Lebensgeschichte war so ausgedacht wie wahr. Er hatte sich derart tief in seine Fantasiegespinste hineingelebt, dass ihm schon vor langer Zeit jegliche Grenzen des Faktischen abhandengekommen waren. Wenn ein irritierter Gesprächspartner eine Unstimmigkeit bemerkte, reagierte er mit arglosem Wahrheitsglauben:

»Wer soll das jetzt noch wissen. So ist das eben manchmal.«

Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen. Sie hegen und pflegen die eigene Geschichte, wie Menschen von jeher sakrale Texte bewahrt und nachgeschliffen haben. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist der Zauberrubel, mit dem sie sich gemeinhin einen Platz unter ihresgleichen erkaufen – die Ration Tabak, Alkohol, Essen, Wärme. Je dichter, unerwarteter und reicher diese Flunkerei verwoben ist, je mehr Schnörkel und Komponenten die Hieroglyphe hat, desto mehr bekommt man. Die Stummen, die nicht gut erzählen können, nicht amüsieren, aufwühlen oder Interesse wecken, werden von den anderen »Klotz« genannt.

Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die nie Zeitung gelesen und nie ferngesehen haben, echtes Wissen über die Welt besitzen. Doch der Mythos, den sie mit ihren Verirrungen nähren, ist einzigartig. Folgt man den bald skurril märchenhaften, bald schlicht unglaublichen Peripetien, kann man eine verblüffende Wahrheit über die Welt ans Licht bringen[18]. Zwar wird sie – wie alle anderen Wahrheiten – eine barbarische Projektion der nichtexistenten höchsten Wahrheit sein (sein Schatten entstellt einen Gegenstand oft bis zur Unkenntlichkeit), doch ist es nahezu unmöglich, sie zu ignorieren, anders als die allgemein anerkannte Projektion, die an eine Lüge grenzt, als eine nicht von innen heraus entwickelte, sondern von außen aufgezwungene Kategorie.

Wo zum Beispiel konnte man sonst so was zu hören bekommen, was Wadja ganz beiläufig einem neuen Bekannten erzählte. Dass in Gagra ein alter Mann, so ein gruseliger Typ – seine Hände sahen aus, als wären es nicht seine, schwarz wie Kohlen, gangränös, aber vollkommen biegsam, tödlich konnte er damit zupacken, mit zwei Fingern einem die Gurgel rausreißen – dass dieser Alte also, wohl ein Grieche, wer will das heute noch wissen, erzählt hätte, das Muttermal auf Gorbatschows Stirn wäre so lange gewachsen, bis es wie Russland aussah. Wenn man nämlich mal auf den Globus schauen würde, würden Maße und Form übereinstimmen, eins zu eins. Nur, als der Fleck ausgewachsen war, wäre es mit seiner Macht vorbei gewesen. Und wer ihm jetzt die Haut vom Schädel abziehen würde, der würde Russland in seine Gewalt bringen.

Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:

»Viele wollten diesem Griechen, diesem Alten, die Hand küssen. Hab ich selbst gesehen. Er hat aber nicht alle gelassen, nicht alle waren seiner würdig. Doch wenn du sie ehrerbietig geküsst hast, dann wird nie im Leben etwas an dir verfaulen, als wärst du verzaubert.« Wadja machte den Mund auf und klackte mit dem Fingernagel gegen seinen abgebrochenen Schneidezahn.

»Hast du sie denn geküsst?«

»Nee. Wurde nichts draus. Der Alte hat mich nicht gelassen. Na ja«, seufzte Wadja.

Stumm, wie sie war, wäre Nadja allein auf sich gestellt zum Dahinvegetieren und schnellen Tod verdammt gewesen. Aber Wadjas Redseligkeit reichte locker für zwei.

18

etwas (Akk) ans Licht bringen – вывести что-либо на свет божий, разоблачить, обнаружить, предать гласности что-либо

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

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