Читать книгу Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке - Александр Иличевский - Страница 20

Die Mutter*
XXI

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Vor ihrem Tod war die Mutter aufgelebt. Früher hatte sie immer nur geschimpft. Jetzt gab sie Ratschläge. Seit der Lähmung konnte sie schlecht sprechen, sie nuschelte mit tauber Zunge, und Nadja, die sie nicht immer gleich verstand, lachte manchmal und erklärte dann der Mutter, was falsch war und warum.

»Es ist Oktober, lauf nicht mit offener Jacke herum. Sei nicht so eitel! Bind dir was um den Kopf!«

»Benutz deinen Grips. Lass dir nichts einreden.«

Die Mutter gab eine knappe Anweisung, dann verstummte sie und dachte sich die nächste aus.

»Vergiss nicht: Gute Männer gibt es nicht. Halte dich an die, die nicht böse sind.«

Die Mutter war krank geworden, kaum dass sie ihr neues Zimmer bezogen hatten. Sie waren nach Pskow gezogen, weil dort ihre einzige Verwandte lebte, Mutters Cousine zweiten Grades. Wie sich herausstellte, war die Tante aber selbst in Not: Bei ihrer Scheidung war der Besitz geteilt worden, und so konnte sie ihnen keine Hilfe sein.

Nadja und ihre Mutter waren mit leeren Taschen aus Aserbaidschan gekommen: Ihre Wohnung in einem Vorort von Baku war nichts wert gewesen. Die Gesundheit der Mutter hatte in dieser schweren Zeit sehr gelitten – anfangs hatten sie die Nächte mal im Arbeiterwohnheim verbracht, mal am Bahnhof oder im Kloster, das gerade renoviert wurde. Die Tante kam und weinte sich bei ihnen aus: Sie hatte keine Kinder bekommen, und nach acht Jahren des Wartens war ihr Mann nun unerbittlich.

Die Mutter klapperte die Schulen und Kindergärten ab, aber ohne polizeiliche Anmeldung[39] bekam sie nirgendwo eine Arbeit. Sie wollte schon zurück nach Aserbaidschan. Da herrschte zwar auch Finsternis, aber die eigene, vertraute, man könnte sogar sagen: sonnige. Und da war das Meer. Am Meer ist alles leichter.

Dann startete das Sozialamt endlich ein Programm für Flüchtlinge, und sie zogen in eine Kommunalwohnung.

Obwohl Nadja eine Ausbildung am Technikum gemacht hatte, wollte sie niemand. Ihr Gesicht, das noch die Spuren der Schwachsinnigkeit trug, die die Mutter mit unmenschlicher Kraftanstrengung besiegt hatte, sicherte ihr bereits an der Türschwelle den Ruf der Bekloppten.

In der Wohnung lebten noch zwei weitere Parteien. Direkt neben ihnen hauste eine leise, pingelige Oma mit Papageien, die oft durch die ganze Wohnung flatterten, und einem Raben, der aus ihrem Zimmer stolziert kam, Jaschka hieß und so groß war wie ein Huhn. Die Alte erschien regelmäßig bei ihnen zu Kontrollbesuchen:

»Pardon, sind meine Vögel vielleicht bei Ihnen?«

Der Rabe konnte sprechen. Er hüpfte in der Küche aufs Fensterbrett, pickte auf die Geranie ein und krächzte: »Seid bereit! Immer bereit!«

Das andere Zimmer bewohnten zwei Alte, die täglich laut darüber stritten, ob ihr Sohn sie heute besuchen würde oder nicht. Manchmal hatten ihre Dispute wahre Sprengkraft. War in ihrem Zimmer wieder Ruhe eingekehrt, rollten polternd leere Flaschen über den Fußboden.

Die Mutter erlitt einen Schlaganfall[40], sie war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und verschied.

Vor ihrem Tod wurde sie unruhig. Sie rief ihre Cousine zu sich (Nadja war heulend, mit offener Jacke durch den Schnee gerannt, um sie zu holen), küsste ihr langsam die Hände und bat sie, sich um ihre Tochter zu kümmern.

Die Cousine jammerte, weinte und ging schnell wieder. Die Mutter trocknete sich die Tränen und gab ihrer Tochter zwei Tage lang Anweisungen:

»Lass dich nicht gehen! Dann gehts nur bergab.«

»Rechne! Rechnen ist wichtig. Weißt du noch, was ich dir mal über Pythagoras vorgelesen habe? Er hat auch die ganze Zeit gerechnet.«

»Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«

Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.

Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.

Aus den starren Augen flossen Tränen.

Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

39

die polizeiliche Anmeldung (юр.) – прописка, ргистрация в полиции по месту жительства

40

einen Schlaganfall erleiden (мед.) – перенести (апоплексический) удар

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

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