Читать книгу Die Melodie in dir - Alessandra Grimm - Страница 7
ОглавлениеKapitel 5
Bereits eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt saß Ben vor seinem Monitor. Er hatte sich einige Notizen gemacht und überlegte, wie genau er das Gespräch mit Simon anfangen konnte. Den Rat seines Freundes hatte er ernst genommen, dachte aber zugleich, dass er wohl keinen guten Start mit dem Kollegen haben würde, wenn Mia Stein ihn tatsächlich nicht leiden konnte. Andererseits hätte Simon ihn womöglich nicht in ICQ angenommen, wenn das Urteil über ihn schon ausgesprochen gewesen wäre. Nebenbei werkelte er an einem seiner neuer Songtexte herum. „Dieses Feeling ist der Sinn meines Herzens schlagen“, notierte er auf ein Blatt Papier. Manchmal fielen ihm einzelne Sätze oder Wörter ein, die er gerne zu einem Liedtext verbauen wollte. Um sie nicht zu vergessen, notierte er alles kreuz und quer auf kleinen Zetteln oder in seinen Schulheften. Wenn die kreative Phase ihren Hochpunkt fand, konnte er die einzelnen Teile zu einem Puzzle zusammensetzen. So war auch „Niemals darfst du gehen“ entstanden.
Das wohl bekannte Geräusch einer eingehenden Nachricht im ICQ ertönte.
„Hi Ben, Sven sagte mir, dass du mich sprechen wolltest.“, las er.
„Hi Simon, danke dir erstmal für die Annahme und für deine Zeit.“
„Kein Problem. Womit kann ich dir helfen?“
„Es ist mir etwas unangenehm, aber ich hatte gehofft, dass du mir in Bezug auf Mia helfen könntest.“
„Mia?“, Ben bereute seine Wortwahl, hätte man die Anfrage auch in einen romantischen Kontext setzen können und das, wollte er definitiv nicht. Immer wieder tippte er ins Chatfenster und löschte die Worte wieder. Schließlich antwortete er:
„Sven hat mir ihre Kritik gestern gezeigt und ich würde mich gerne mit ihr dazu austauschen, damit ich sie besser nachvollziehen kann. Er meinte nur, es sei klüger erst mit dir zu sprechen, wie ich das am besten angehen könnte. Er nannte sie etwas Eigen, wenn es um fremde Personen geht.“
„Ach so. Ich hatte heute auch schon mit ihr darüber gesprochen.“ Ben zog eine Augenbraue hoch und antwortete: „Wirklich?“
„Ja.“
Simon fuhr nicht weiter fort. Ungeduldig wippte Ben mit seinem rechten Bein und überlegte, wie er die Information aus Simon herauslocken konnte, die ihn so sehr interessierte.
„Über die Kritik zu euch oder über Interrobang?“, schrieb er schließlich.
„Interrobang.“, antwortete Simon.
„Oh, wie kommt’s?“
„Sagen wir so, es war eine für sie untypische Kritik. Was genau möchtest du denn mit einem Gespräch mit ihr erreichen?“
„Ich möchte sie einfach besser verstehen können. Besonders der Punkt mit der fehlenden Melodie in mir ist für mich nicht nachvollziehbar.“
„Willst du sie besser verstehen oder einfach nur umstimmen?“
Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Tatsächlich war sich Ben nicht sicher, was er hier drauf antworten sollte. Er wusste selbst nicht so recht, was er mit einem Gespräch mit ihr bezwecken wollte. Womöglich würde er sie irgendwie auch umstimmen wollen, aber das konnte er schlecht vor Simon zugeben. Mit Sicherheit würde er ihm dann nicht helfen und ihm raten, den Artikel in den Müll zu schmeißen und einfach zu vergessen. Bedacht über Simons Reaktion antwortete er: „Ich möchte sie besser verstehen. Sie scheint einen guten Geschmack zu haben und ich nehme Kritik ernst. Ich würde mich und die Band gerne weiterentwickeln und ich denke, der Input könnte mir dabei helfen.“ Jedes Wort war durch und durch gelogen. Ben kannte sein Talent und wusste, dass seine Songs gut waren und die Band, trotz ihres jungen Alters, ein hohes musikalisches Niveau innehielt. Das wollte er Mia beweisen, damit sein gekränktes Ego wieder mit Stolz strahlen konnte.
„Okay, wenn du wirklich deswegen mit ihr Kontakt möchtest, dann helfe ich dir. Ich melde mich.“
„Danke!“, antwortete er und legte die Hände schmunzelnd hinter seinen Kopf.
*
Es war ein grauer Morgen. Die Sonne ließ sich nicht blicken, der Wind wehte kühl an ihren rosigen Wangen vorbei und die goldenen Blätter fielen von den Bäumen herab. Abwechselnd trat sie in die Pedale und zupfte ihre Mütze zurecht, die durch den Gegenwind wegzuwehen drohte. In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte sich dazu erbarmt ihre Mutter zu fragen, ob sie sie zu Simon fahren könnte. Andererseits würde ihre Mutter sie dann viel zu früh wieder abholen wollen und der Bus war aktuell keine Option. Einige Haltestellen waren im Umbau, weswegen er noch seltener fuhr als sonst. Die Baustellen sorgten dafür, dass er zudem entweder viel zu früh oder viel zu spät eintraf, sodass man von Glück sprechen konnte, wenn man ihn ergatterte. Darauf folgte dann allerdings ein Platzkampf, denn durch die Ausfälle war die Fluktuation pro Fahrt höher als gewöhnlich.
Sie bog um die Ecke und hielt vor einer Garage an. Als sie vom Rad abstieg hörte sie ein lautes Bellen. Samson, der große Bernhardiner der Familie Engel stand bereits an der Haustür und gab seinem Rudel das Signal für Besuch. Das Klicken des Radschlosses ertönte und bevor sie auch nur die Türschwelle erreicht hatte, öffnete Simon ihr die Tür. Er hatte sie bereits erwartet. „Samson, nein!“, brüllte er, während er mit seinen Beinen versuchte den Hund daran zu hindern, auf Mia zuzulaufen, um sie umzuwerfen. Denn obwohl Samson riesig war dachte er anscheinend oftmals, er sei so groß wie ein West Highland Terrier. „Sitz!“, befahl er und Samson gehorchte. Freudestrahlend streichelte Mia ihn auf seinem Kopf und tatsächlich hielt er sich weiterhin an der Aufforderung Simons. Nachdem sie den großen Beschützer begrüßt hatte, umarmte sie ihren Freund innig. „Nehmt euch ein Zimmer!“, entgegnete seine kleine Schwester Theresa, die einen Teller mit zwei Marmeladebroten hielt und die Treppe hinauf in ihr Zimmer verschwand.
„Sie wird mich niemals mögen.“, entgegnete Mia. „Sie ist nur eifersüchtig und einfach ein zu jung. Wenn du wüsstest, wie sie manchmal mit unseren Eltern spricht.“
„Ich weiß, wie sie mit ihnen spricht. Irgendwann wird sie Terroristin, weil sie alle Menschen hasst.“
„Das könnte passieren.“, lachte er und sie gingen in sein Zimmer. Mia legte ihren grauen Wollmantel auf seinem Bett ab und setzte sich auf ihren Stuhl. Mittlerweile hatte sie einen festen Platz, da sie sich mindestens einmal in der Woche zum Computerspielen verabredeten. Aktuell war Vampire The Masquerade Bloodlines angesagt und sie versuchten sich gemeinsam durch die Geschichte zu spielen. Allerdings waren sie nicht immer einer Meinung bezüglich der Entscheidungen. Allein zu Beginn wollte Simon unbedingt zu den Nosferatu gehören, aber Mia wollte nicht das ganze Spiel über in der Kanalisation verbringen und bei jedem Aufkommen von einem Menschen entdeckt und ermordet werden. Nach etlichen Diskussionen und sogar einem Persönlichkeitstest entschieden sie sich für den Clan Malkavian. Dafür durfte der Charakter ein Mann sein, so war der Kompromiss. Ein Weiterspielen ohne den anderen war darüber hinaus verboten und wurde mit den Kosten einer Riesenpizza, inklusive Getränk getadelt.
Simon ließ sich auf seinen schwarzen, ledernen Schreibtischstuhl fallen und faltete die Hände ineinander. „Sag mal, wie fändest Du es, wenn ich deine ICQ-Nummer ungefragt weitergebe an jemanden, den du aber kennst?“
„Wie ich das finde? Vollkommen unangemessen! Wem hast du meine Nummer gegeben?“, Mia war sichtlich erbost.
„Ben.“
„Ben? Ben wer?“
„Ben Richter.“
In Mias Kopf ratterte es, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. „Wieso gibst du dem Sänger von dieser bescheuerten Band meine ICQ-Nummer?“, ungläubig sah Mia ihren besten Freund an. Das Konzert war zwei Wochen her gewesen, es kam ihr allerdings deutlich länger vor. Nach dem kurzen Geplänkel während des Auftrittes von Good-For-Nothing hatten sie nicht weiter miteinander gesprochen, sich nicht einmal voneinander verabschiedet. Nachdem sie die Kritik verfasst hatte, hatte sie die Band schon in ihrem Kopf archiviert, denn sie ging nicht davon aus, sie irgendwo noch einmal wieder zu sehen. Die Mitglieder lebten in der Nachbarstadt und jede Band hatte quasi ihr Revier. Ihre Stadt gehörte nicht dazu und sie hatte des Weiteren auch nicht das große Bedürfnis, ihn näher kennenzulernen. Allein dieser Moment, als er sie nicht mal beim Namen nennen wollte, hatte ihm einige Minuspunkte aufs Konto gebracht. Mit so einer Person wollte sie nichts zu tun haben.
„Ich habe sie ihm noch nicht gegeben, aber ich würde das gerne tun.“, antwortete Simon.
„Diesem arroganten Idioten? Dein Ernst? Hat er danach gefragt oder warum?“
„Tatsächlich hat er danach gefragt. Warum auch immer. Auf dich stehen tut er mit Sicherheit nicht.“, er streckte ihr die Zunge raus und zwinkerte ihr zu. „Du kannst ihn natürlich ablehnen, oder auch einfach annehmen. Wenn du mir einen Gefallen tun möchtest, dann nimmst du ihn an und hörst dir an, was er zu sagen hat und von dir möchte. Gib ihm eine Chance. Ich glaube diese Kritik hat ihn doch etwas aus der Bahn geworfen.“, er hörte wie Mia genervt grummelte. „Komm schon. Du kannst ihn immer noch in die Wüste schicken und sagen, dass er lernen muss mit Kritik umzugehen. Ich werde ihm nachher die Nummer geben. Nimm ihn bitte erstmal an. Am Ende steht er noch mit Rosen vor deiner Tür und kniet vor dir Liebe. Mia, die einzig wahre Kritikerin. Bitte höre mich an!“, er fing die Szene theatralisch nachzuspielen. „Nur dein Urteil beweist, dass ich ein guter Musiker bin. Oh, bitte holde Mia, höre dir meine neueste Komposition an. Ich werde solange nicht aufgeben, bis ich eine positive Rezension von dir zu mir lese.“, säuselte er. Es folgte ein Klaps auf seinen Oberarm, gefolgt von einem bösen Funkeln.
„Will ich wissen, warum du dir Kopfszenen zu meinem Liebesleben ausmalst?“, fragte sie.
„Ich bin halt sehr fantasievoll. Genug Theater. Lass uns spielen.“, sagte er und startete seinen Computer.
*
Es war schon dunkel als sie sich auf Fahrrad schwing, um nach Hause zu radeln. Es war nach wie vor bewölkt und weder Mond noch Sterne blickten am Himmelszelt hervor. Die Blätter raschelten im sanften Wind und ließen die kühle Nacht nach einem sanften Regenschauer klingen. Doch der Geruch, der sich den Weg in ihre Nase bahnte, war geplagt von den Abgasen eines älteren Automodells, das gerade an ihr vorbei geschnellt war. Mia rümpfte die Nase und trat schneller in die Pedale. Es war nicht mehr weit und sie genoss die ruhigen Minuten für sich allein, bevor ihre Mutter sie wieder nach ihrem Tag ausquetschen würde. So lieb sie ihre Mutter hatte, so froh war sie, wenn sie für sich allein sein konnte. Der heutige Plan war, später mit einer Tasse Tee sitzend am Computer an ihrer Fanfiction weiterzuschreiben. Ihre Geschichte mit Namen Racheengel, basierte auf dem Vampir-Spiel des heutigen Tages. Es half ihr, über den Alltag hinweg zu kommen und ein Gefühl von Erleichterung machte sich nach jedem Satz in ihr breit. Man könnte es sich so vorstellen, wie einen Sack voller Steine, den man auf dem Rücken hievte. Mit jedem Wort, jedem Satz, jeder Seite wurde ein Stein herausgenommen, sodass die Last immer leichter wurde. Ein sehr befreiender Akt, der sie von den Streitereien mit ihren Eltern und den schlechten schulischen Leistungen ablenkte.
Sie stieg vom Fahrrad ab und hievte es über eine Stufe, um es dann rechts in eine von Mauern geschützte Ecke abzustellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Hollandrad gestohlen werden würde, ging gegen Null. Obwohl am Bahnhof tatsächlich jemand ihren Fahrradständer zertreten hatte. Bislang war sie zu faul gewesen, um beim Fahrradladen eine Erneuerung vorzunehmen, sodass ihr Rad immer irgendwo anlehnte oder auf die Abstellungen angewiesen war.
Die Wohnung war wohlig warm und der Geruch nach verschiedenen Kräutern stieg ihr in die Nase. Ihre Mutter hatte eine Kanne Tee aufgesetzt, eine jener aus Porzellan, die über ein Teelicht weiterhin erhitzt werden.
„Hast du was gegessen?“, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer ihr zu. „Ja, wir haben…“
„Pizza gegessen.“, beendete sie den Satz. „Richtig geraten.“, antwortete Mia. Das war auch eines ihrer Rituale mit Simon. Immer wenn sie sich zum Zocken verabredeten, folgte eine große Pizza Tonno, die sie sich in der Regel teilten. Eine Zeit lang hatten sich die beiden immer montags bei Mia getroffen und ihre Mutter hatte dann, vorausschauend wie sie war, auf dem Rückweg ihrer Arbeit die aus Teig bestehende Köstlichkeit mitgebracht.