Читать книгу Lacroix und das Sommerhaus in Giverny - Alex Lépic - Страница 5
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ОглавлениеLacroix liebte diese Stunde am Mittag, wenn sich die Symphonie der Rue de Buci zu einem Höhepunkt steigerte:
»Salut, Madame Abeille«, riefen da etwa die Müllmänner, die ihren grünen Lastwagen so sperrig an den Straßenrand gestellt hatten, dass nur noch Motorroller und diese schrecklich modernen zweisitzigen Autos daran vorbeikamen – doch die Männer standen schon an der Bar, denn nun war pause de déjeuner.
Im Saal schwatzten Männer mit Anzügen und Frauen in schicken Kostümen miteinander, an der Bar versammelten sich die Literaturagenten und Verlagslektoren, daneben stand ein Polizist in Uniform und ebenjene Angestellten der Propreté de Paris: Es war die Demokratie des Mittagessens. Währenddessen herrschte draußen vor dem Fenster der normale Betrieb: Beim tabac stand man Schlange, um Lotto zu spielen oder Zigaretten zu erstehen, daneben beim poissonnier wählten die Hausfrauen Doraden und Wolfsbarsche für das dîner aus.
Lacroix stand wie üblich ganz links an der Bar, dort, wo die Ecke für die Stammgäste war. Sein Bruder war eben entschwunden, denn er musste die Mittagsmesse halten, und Alain verkaufte wieder in seinem Laden Obst und Gemüse.
Lacroix wähnte sich also in Sicherheit und in trauter Ruhe. Deshalb zuckte er merklich zusammen, als neben ihm eine Stimme laut wurde, der man anhörte, dass sie es gewohnt war, Anweisungen zu geben.
»Monsieur Lacroix.«
Er wandte sich schnell um und musste erst mal den Blick senken, denn vor ihm stand klein und dennoch höchst gebieterisch Madame de Touquet.
»Madame«, sagte er. Sie passte in diese Umgebung wie ein Löwe in den Streichelzoo.
»Ich habe gehört, dass das der Ort ist, den Sie dem Büro vorziehen.«
»Zur Mittagsstunde«, sagte Lacroix leicht indigniert, doch dann fing er sich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir wurden gestern unterbrochen. Aber ich bin wirklich in großer Sorge – und das Wochenende ist mir noch deutlich zu lange hin. Deshalb bin ich hergekommen. Ich möchte, dass Sie mir helfen, dass Sie mich untersuchen lassen, damit wir herausfinden, was vor sich geht.«
»Jetzt?«
Um es ganz ehrlich zu sagen: Lacroix hatte nach dem dîner befürchtet, eine schlaflose Nacht vor sich zu haben. Solche Geschichten beschäftigten ihn im Allgemeinen lange und schlugen ihm derart aufs Gemüt, dass er nicht zur Ruhe kam. Doch in diesem Fall hatte er nur die erste Stunde der Nacht mit Grübeln verbracht: Er hatte das Für und Wider abgewägt, sich die Fotos der Familie in Erinnerung gerufen, über die Gifttheorie von Madame de Touquet nachgedacht. Irgendwann um Mitternacht war er zu dem Schluss gekommen, dass an der Geschichte nichts dran war. Es war ein Fazit gewesen, das sein Gehirn sofort hatte verstummen lassen, und dann war der Schlaf über ihn gekommen. Am Morgen hatte er sich gefragt, ob es das richtige Urteil gewesen war. Und hatte es erneut bejaht. Madame de Touquet drehte sich gern um sich selbst, hatte Lacroix gedacht – und nun, als sich bislang ungekannte Gebrechen zeigten, war sie sich sicher, dass ihr jemand ans Leder wollte. Der Commissaire hatte entschieden, dass er sie dennoch würde untersuchen lassen, in aller Ruhe.
Doch nun, im Chai de l’Abbaye spürte er, dass es ihr Ernst war, dass sie im Gegensatz zu ihm wohl wirklich eine schlaflose Nacht verbracht hatte – und dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bis er sich der Sache annahm.
Er seufzte schwer.
»Yvonne, stornierst du bitte meine chou farci?« Die Wirsingroulade mit Tomaten-Karottensauce war sein Lieblingsgericht im Chai, und er ließ sie sich nur schweren Herzens entgehen.
»Kein Hunger, mon cher?«
»Eine Angelegenheit, die nicht warten kann. Nun denn, Madame, gehen wir.«
Sie verließ das Bistro mit trippelnden Schritten, und er folgte ihr.
»Ich habe gedacht, wir könnten zusammen fahren, Monsieur«, sagte sie.
Vor dem Bistro wartete auf dem Behindertenparkplatz eine schwarze Limousine mit laufendem Motor. Die Fahrertür öffnete sich, und ein Mann in Uniform stieg aus, um ihnen den Schlag aufzuhalten.
Sie stieg zuerst ein, und er nahm auf der anderen Seite auf dem Rücksitz Platz – es war ein riesiges Auto, die Sitze waren aus Leder, ein deutsches Modell.
Als er nichts sagte, wurde ihre Stimme schroff:
»Sie müssen meinem Fahrer schon Anweisung geben, wohin er steuern soll.«
Lacroix riss die Augen auf.
»Ach so, natürlich, äh, Monsieur, bitte zum Institut médico-légal, am besten, Sie fahren über den Quai de la Rapée heran.«
Sofort setzte sich der Wagen in Bewegung, im Inneren waren kaum Geräusche zu hören.
»Ich war mir nicht sicher, ob Sie mich rasch aufsuchen würden«, sagte sie, »und weil ich morgen schon nach Giverny abreise, dachte ich mir, dass es so schneller ginge. Ich bin ganz außer mir, wegen all dem.«
»Verzeihen Sie, Madame, es war einfach wahnsinnig viel zu tun«, sagte Lacroix so wenig überzeugend, dass er sicher war, sie würde ihm gleich widersprechen. Aber natürlich blieb sie stumm. Die alte Dame ließ ihn sich allein unwohl in seiner Haut fühlen.
Die Stadt flog vorbei, der Boulevard Saint-Germain, der Fahrer brauste über die Île Saint-Louis an der Rückseite der Kathedrale Notre-Dame entlang und dann auf der rechten Seine-Seite über den Quai Henry-IV.
Der Rest der Fahrt verstrich wortlos, bis sie vor dem niedrigen Gebäude am Ufer des Flusses hielten, das die Gerichtsmedizin der Stadt Paris beherbergte.
Der Fahrer hielt am schmiedeeisernen Tor, hinter dem sich ein kleiner Park und das Backsteingebäude mit seinem säulenbestandenen Portal erstreckte. Auf der anderen Seite der Rechtsmedizin rauschte der Verkehr der Quais vorbei – und hoch oben auf dem Viadukt die Metro der Linie 5.
Lacroix hätte sich gerne eine Pfeife angesteckt, aber er scheute den Blick von Madame de Touquet – und er wollte die Sache schnell hinter sich bringen.
Sie betraten das Gebäude, dann ging es eine kleine Treppe hinunter in den Keller. Metalltische standen nebeneinander, weiter hinten befanden sich der Kühlraum und die Sektionshalle.
Doch die bekannte Gestalt von Docteur Obert trat schon aus einer Tür, und der alte Mediziner wandte sich überrascht um.
»Ich sehe einen seltenen Gast: Commissaire, was machen Sie denn hier, in diesen heißen Tagen? Gar nicht in der Sommerfrische?«
»Stets im Dienst, mein lieber Docteur«, antwortete Lacroix fröhlich. Er mochte den verschrobenen Rechtsmediziner, der schon so lange Jahre Dienst tat wie der Commissaire – und der seine endlosen Tage mit den Toten stets mit einer Prise klugen Humors würzte.
»Was haben Sie für mich?«, fragte er, als er nähertrat. Er erschrak kurz, weil er erst jetzt Madame de Touquet entdeckte, die in Lacroix’ Rücken gestanden hatte.
»Oh, Madame, excusez-moi, bonjour.«
Lacroix fand es bemerkenswert, wie die Menschen auf Madame de Touquet reagierten. Er hatte es zuerst an sich festgestellt: Er war beinahe unterwürfig gewesen, und das Gleiche stellte er nun bei Docteur Obert fest, der sonst nie um einen lockeren Spruch verlegen war. Der alte Adel und das selbstsichere Auftreten der Madame schüchterten ein.
»Bonjour, Monsieur«, sagte sie.
»Docteur Obert«, begann Lacroix, »Madame de Touquet ist eine gute Freundin der Familie. Sie hat große Sorgen um ihre Gesundheit.«
»Aber mein lieber Maigret, ich behandle hier doch keine Patienten. Ich habe einige sehr gute Ärzte in meinem Bekanntenkreis, dahin könnte ich sie …«
»Docteur«, unterbrach ihn Lacroix, »sagen wir mal, Madame hegt die Vermutung, dass die gesundheitlichen Probleme von einem nicht ganz legalen Grund herrühren. Und sie wünscht, dass Sie sie untersuchen. Ich meine: Madame fürchtet eine Vergiftung. Und mir ist keiner eingefallen, der das besser und zudem vertraulicher untersuchen könnte als Sie.«
Docteur Oberts Gesicht hellte sich auf. Lacroix hatte sich nicht getäuscht, das war eine Geschichte nach seinem Geschmack.
»Ah, das ist etwas anderes. Was für ein Gift befürchten Sie?«
»Wir haben keine Ahnung.«
»Madame, bitte, kommen Sie.«
Er führte sie in ein kleines Büro mit einem Fenster, das zum Sektionsraum zeigte. Lacroix kannte all diese Räume zur Genüge, doch Madame de Touquet war offenkundig interessiert.
»Sehen Sie, Docteur«, sagte sie, »ich will nämlich nicht schon in naher Zukunft hier auf Ihrem Tisch liegen.«
»Wenn es etwas gibt, was Sie hierherbringen könnte, dann werden wir es finden – und hoffentlich aufhalten«, sagte Docteur Obert. »Sie werden noch viele gute Jahre haben, Madame.«
Sie trippelte unruhig im Raum umher. Geduld war nicht ihre Stärke, schien es. Sicher war sie es auch einfach nicht gewöhnt, warten zu müssen.
»Und wie?«
»Nehmen Sie bitte Platz.«
Als alle drei um seinen Schreibtisch saßen, fragte Docteur Obert:
»Was sind denn die Symptome, Madame?«
Sie legte ihre Hände auf seinem Schreibtisch ab und sagte, ohne zu zögern:
»In meinem Bauch rumort es, morgens habe ich sogar richtige Schmerzen. Ich bin auch müder als sonst. Und …«, sie unterbrach sich, »ach, sicher ist es nichts …«
»Madame, bitte, ich würde Ihnen gern helfen. Und dazu muss ich alles wissen.«
»Es fällt mir sehr schwer, es auszusprechen«, wand sie sich, »aber es ist, als verströmte ich einen unangenehmen Geruch. Ich spüre auf Veranstaltungen und Empfängen, wie sich die Menschen von mir abwenden …«
Docteur Obert wurde immer interessierter. Er nahm sie genau in Augenschein, ließ seinen Blick über ihren Körper und ihre Hände wandern.
»Gut, ich würde Sie gerne ansehen, Madame. Und dann brauchen wir … Verzeihen Sie, aber wir brauchen eine Urinprobe. Ich nehme Ihnen auch noch Blut ab. Aber ich habe schon eine Idee.«
Sie stand auf.
»Haben Sie das schon lange?«
»Was denn?«
»An den Fingernägeln.«
Sie zögerte einen Moment, reichte ihm dann aber doch beide Hände.
»Was meinen Sie?«
»Diese weißen Kerben dort.«
Jetzt sah auch Lacroix die weißen Streifen auf den Nägeln. In den Tiefen seines Gehirns arbeitete es. Es war so lange her, dass er gar nicht auf ihre Nägel geachtet hatte – das war doch gänzlich unmöglich. Und doch waren die Streifen typisch. Sollte sie doch recht haben?
»Lassen Sie uns bitte allein, Commissaire. Ich werde Madame de Touquet untersuchen, dann hole ich Sie wieder herein.«
Der Commissaire trat aus dem Büro und stieg die Treppe empor, schnell hinaus aus der Kälte und dem scharfen Geruch der Desinfektionsmittel. Er öffnete die Tür im Erdgeschoss und stand in der gleißenden Sonne. Rasch nahm er seine Pfeife aus der Tasche, entzündete sie und nahm einen tiefen Zug. Er atmete durch, nahm noch einen Zug und lehnte sich grübelnd an die Wand.
Konnte es sein? Wurde Madame de Touquet vergiftet?