Читать книгу Lacroix und das Sommerhaus in Giverny - Alex Lépic - Страница 6
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ОглавлениеEr hätte es nicht für möglich gehalten, aber tatsächlich: Nur einen Abend nach dem dîner klingelte er wieder an der Tür am Pont d’Alma. Er stieg die drei Etagen nach oben, dann öffnete die ihm schon bekannte junge Frau mit einem Lächeln die Tür.
»Oh, Commissaire, kommen Sie, sie erwartet Sie bereits.«
Es war dasselbe Zimmer wie gestern Abend, doch diesmal stand Madame de Touquet schon im Raum, das Fenster hinter ihr war weit geöffnet, sie schien auf den Eiffelturm zu blicken, die warme Abendluft wehte herein.
»Monsieur?«
Sie wandte sich sofort zu ihm um.
»Guten Abend, Madame de Touquet.« Er spürte, wie belegt seine Stimme war. Die Aufregung hatte seit einer guten Stunde Besitz von ihm ergriffen.
»Sie bringen schlechte Nachrichten, nehme ich an, deshalb weiß ich nicht, ob es ein guter Abend ist.«
Sie nahmen Platz, er auf der alten Couch, sie im modernen Sessel. Diesmal bot sie ihm nichts an.
»Docteur Obert hat die ersten Ergebnisse der Untersuchung, das Blut steht noch aus. Doch schon jetzt gibt es keinen Zweifel. Sie hatten recht, Madame, jemand will Sie vergiften.«
Lacroix war fast der Hörer aus der Hand gefallen, als der Rechtsmediziner ihn vor anderthalb Stunden im Kommissariat angerufen hatte. Sicher, er hatte die Indizien zusammengenommen, und doch war es eine Überraschung gewesen, dass es tatsächlich stimmte. Auch Obert hatte sehr aufgeregt geklungen. Die weißen Nägel, die fahle Haut. Wirklich daran geglaubt hatte wohl auch er nicht.
»Ich hatte das seit Jahrzehnten nicht mehr«, hatte der Docteur am Telefon gesagt. »Ich dachte, das gäbe es gar nicht mehr. Natürlich, wir haben manchmal niedrige Konzentrationen, wenn jemand über Monate hinweg den Reis nicht wäscht. Aber in dieser Menge? Commissaire, mon cher, halten Sie sich fest: Madame de Touquet hat eine Arsenvergiftung.«
»Sie sind sich sicher, nehme ich an …«, hatte Lacroix nach einer Pause gefragt.
»Ohne Zweifel«, hatte Docteur Obert geantwortet. »Ohne jeden Zweifel. Schon die äußeren Anzeichen wiesen darauf hin. Sie haben ja nur die Hände gesehen. Aber unter ihren Fußsohlen, da hatte sie die ganz typischen Arsen-Zeichen: Risse in der Haut, dazu diese kleinen Flecken. Und die Nägel, Lacroix, die Fingernägel, die Fußnägel, ich hab es sofort gewusst, auch wenn ich es nicht glauben wollte.«
»Madame, Sie hatten recht: Wir haben deutliche Spuren von Gift in Ihrem Körper gefunden. Es scheint, dass Sie seit mindestens zwei Monaten mit Arsen vergiftet wurden.«
Er beobachtete sie genau. Ja, vielleicht wurde sie eine winzige Spur blasser, ansonsten aber verzog sie keine Miene. Sie saß ganz aufrecht da und wiederholte: »Arsen.« Dann ließ sie das Wort durch die Luft schweben. »Arsen«, sagte sie eine Spur weicher. »Wirklich? Arsen? Das ist ja …«
Lacroix nickte. »Sie haben Glück, dass Sie uns Überbleibsel einer alten Zeit damit betraut haben. Junge Polizisten kennen keine Arsenspuren mehr, und auch ich habe so etwas lange nicht mehr gesehen, wenn ich ehrlich bin. Es ist wirklich eine Vergiftung wie vor zweihundert Jahren.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber ich frage Sie, warum lebe ich noch?«
»Docteur Obert meint, es ist eine perfide Methode: Ihnen wurden über einen längeren Zeitraum niedrige Dosen verabreicht. Deshalb zeigen sich nach und nach Anzeichen einer chronischen Vergiftung. Die fallen aber bei Weitem nicht so schnell auf wie eine akute Vergiftung, bei der Sie sofort ins Delir fallen. Ihre Symptome sind Unwohlsein und die Auffälligkeiten an den Nägeln und auf der Haut, die aber die meisten Menschen heute gar nicht mehr lesen können – ganz einfach, weil Arsen so aus der Mode gekommen ist. Sie werden also immer kränker und kränker, und wenn Sie ganz schwach sind, dann …«
»Dann wäre ich gestorben.«
Lacroix nickte.
»So wäre es geschehen. Und da Sie vorher ja schon klagten, hätte man es auf eine Krankheit geschoben, nehme ich an.«
»Sie haben recht, ein perfider Plan.« Die Stimme der alten Dame klang traurig. »Aber wie gelingt das? Ich bin doch allein in meinem Haus.«
»Sie haben Personal«, sagte Lacroix.
»Ach, die gute Claire, sie gehört zum Inventar. Warum sollte sie so etwas tun?«
»Haben Sie bestimmte Rituale?«
Sie lehnte sich im Sessel zurück, und ein leises Lächeln überspannte ihr Gesicht.
»Mein Leben ist ein einziges großes Ritual. In meinem Alter besteht es aus einer Abfolge des Immergleichen.«
»Wir müssen untersuchen, was Sie essen, was Sie trinken. Weil die Vergiftung nun schon eine Weile andauert, wird das eine schwierige Angelegenheit. Und doch: Irgendwie muss das Arsen in niedrigen Dosen in Ihren Körper kommen.«
Madame de Touquet blickte auf einen Punkt hinter Lacroix, erst nach einer gefühlten Ewigkeit bewegten sich ihre Lippen wieder.
»Dass sie es darauf ankommen lässt, la petite, das hätte ich nicht gedacht.«
Lacroix wartete, aber es kam nichts mehr.
»Was meinen Sie, Madame?«, fragte er. »Wen meinen Sie?«
Doch sie blickte immer noch durch ihn hindurch und sagte, dumpf und wie durch einen Nebel:
»Sie kommen ja zu uns, in wenigen Tagen schon. Ich will Ihr Urteil nicht dadurch trüben, dass ich Ihnen ein Vorurteil einpflanze, wenn Sie verstehen.«