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Windschatten gesucht

Von Bordeaux an die Atlantikküste

Sechs Uhr morgens – ich kann gar nichts dafür – hat die Nacht bereits wieder ein Ende. Draußen liegt der neue Tag in den Wehen, wir sind längst hellwach.

Heute Morgen hat sich zwischen Bauch und Magen eine unruhige Spannung festgesetzt. So extrem haben wir das schon lange nicht mehr gespürt. Früher, als der Herr noch eine Bar und ein Restaurant betrieben hatte, kannte er das vor großen, aufwendig geplanten Veranstaltungen. Hier und heute handelt es sich aber lediglich um stinknormale Aufregung!

Sollen diese Beine doch gleich mit viel Kraft und noch mehr Ausdauer in die Pedale treten, um ihn und bitteschön auch mich aus der Stadt und bis an den Ozean zu bringen. Nur ist unmöglich einzuschätzen, ob das Sitzfleisch bis dorthin überhaupt durchhält oder irgendwo vorher gepeinigt aufgibt. Erfahrungswerte fehlen uns leider fast gänzlich. Das mit der sportlichen Vorbereitung wollen wir an dieser Stelle nicht nochmal vertiefen.

Das Hotel hier am Bahnhof von Bordeaux haben wir online gebucht, die Beurteilungen im Netz waren dem Herrn Überzeugung genug. Allerdings ist jetzt am Morgen der Aufzug nicht gewillt, auch die oberste Etage anzufahren. Bleibt dem Herrn somit nichts anderes übrig, als beladen wie ein Lasttier die Stufen zu nehmen, mit den beiden Packtaschen und dem gesamten Kleinzeug unterm Arm.

Da bekommt er doch gleich einen realistischen Eindruck, wie viel Gewicht wir die nächsten Wochen durch die Gegend kutschieren dürfen. Ich bin ja dafür, noch einiges auszusortieren! Zum Glück war es nicht schwer, den Herrn zu überzeugen, keine Wanderschuhe zu kaufen und das Geld lieber in einen neuen Fahrradsattel zu investieren.

Sofern wir irgendwann tatsächlich in Santiago vor der Kathedrale ankommen, werden wir ein realistischeres Bild davon haben, was Pilgern wirklich bedeutet. Natürlich ist auch nicht auszuschließen, dass der Herr schon früher heim will oder muss, dann …

Daran soll ich jetzt nicht denken, sagt mein Herr! Butter und Honig auf frischen Croissants, etwas Käse auf Baguette und ein hoffentlich frischer Obstsalat – danach steht ihm jetzt eher der Sinn. Schinken und Eier stehen heute nicht auf dem Speiseplan.

Wie bitte soll der Körper da Leistung bringen? Wir werden uns doch nicht auch noch mit einer Nahrungsumstellung beschäftigen müssen? Was will er uns denn noch alles aufhalsen? Der Vorsatz, auf dieser Tour seine Nikotinsucht zu besiegen, wird schwer genug. Jetzt auch noch beim Essen aufpassen? Wenn wir schon einmal dabei sind, kann man ja auch gleich noch den Kaffeekonsum einschränken. Okay, okay, malen wir den Teufel nicht an die Wand.

Dann lieber fünf Jahre nichts zu Weihnachten.

Die Zeiger der großen mechanischen Uhr am alten Jugendstilbahnhof zeigen kurz vor sieben. Der angehende Radpilger startet eingepackt in eine gefütterte, warme Regenjacke. Ein charmantes Bild. Jetzt geht es tatsächlich los.

Die Beine treten die ersten Umdrehungen in die Pedale. Was hat er sich nur dabei gedacht, der Herr? Hat er überhaupt gedacht? Auf den nächsten 1500 Kilometern zum Grab des Jesusjüngers wird er genügend Zeit haben, auch zum Nachdenken.

Schnell sind wir aus der Stadt heraus und nach Überquerung der Garonne lassen wir endlich die Kreisverkehre und gefährlichen, verkehrsreichen Hauptstraßen hinter uns. Der Fluss kommt aus den katalanischen Pyrenäen und mündet nach seiner 647 Kilometer langen Reise in den Atlantik. Und dorthin wollen wir auch. Schon hier, auf fein geteertem Radweg der sogenannten Route de Bicyclette, begegnen aufmerksamen Pilgern die bekannten Muschel-Symbole des Jakobsweges.

Hier bläst uns ein leichter, aber permanenter Wind direkt ins Gesicht. Das ist zwar nicht unbedingt unangenehm, führt aber doch zu einem erhöhten Widerstand beim Treten.

Vor dem kleinen Ort Salaunes überholen wir ein älteres Mutterl auf einem antiquarisch anmutenden schwarzen Fahrrad der Vorkriegszeit. Das Gefährt wirkt mehr als nur eine Nummer zu groß für sie. Im Sattel sitzend, erreicht sie die Pedale gerade noch mit den Zehenspitzen.

Dieses Teilstück der Atlantic Coast Route, die von den Fjorden Norwegens an Europas Westküste entlang bis nach Portugal führt, ist genau unser Ding. Durch den Gegenwind zwar nicht übermäßig schnell, aber sehr angenehm.

Störend wirkt da nur das permanente Quietschen hinter uns. Als würde fortwährend die Kurbel einer alten Brotschneidemaschine gedreht. Madame auf ihrem geräuschvoll-archaischen vélo fährt nun schon seit geraumer Zeit knapp hinter uns her. Praktisch direkt am Hinterreifen. Ganz schön schlapp, der Herr Pilgerdebütant. Bei unserem Bummeltempo halten sogar ältere Damen mit! Ist ja fast peinlich, wie mein Herr plötzlich versucht, Tempo zu machen. So dermaßen langsam fühlt es sich eigentlich nicht an, doch wirklich Abstand bringt das nicht. Madame benutzt uns erfolgreich als Windschutz. Nicht, dass es uns stören würde, wundern wird dennoch erlaubt sein.


Nach dem Verlassen der verkehrsreichen Straßen der Stadt geht es nun entspannt in Richtung Ozean. Wir übertreiben es gleich am ersten Tag.

Egal, wie kraftvoll der Herr tritt, unser Mutterl bleibt im Windschatten konstant wenige Meter dahinter. Sicher ist sie viel jünger, als sie unter ihrem bunt geblümten Kopftuch aussieht?

Immer wieder schaut er sich um. Zugegeben, das verschmitzte Lächeln in ihrem gebräunten Gesicht irritiert ein wenig. Noch mal schaltet er, dann noch mal, bis in den höchsten Gang.

Aha, Monsieur Pilgeranwärter versucht, seine männlichen Muskeln spielen zu lassen! Der Tacho zeigt 34 Stundenkilometer. Der Gegenwind macht es nicht leichter. Gleich geht uns die Luft aus! Hat ihr alter Drahtesel überhaupt eine Gangschaltung? Die Schutzbleche an dem antiken Unikum scheppern bei jedem Steinchen, bei der Fahrt über die Bodenwellen sowieso. Das alte Fahrrad ächzt dabei mehr als seine Fahrerin. Die hängt mit dem kompletten Oberkörper über den Lenker gebeugt, die Ellbogen nach außen gespreizt, wie festgeklebt an unserem Hinterrad und lässt sich nicht abhängen.


Es fallen auch hier schon immer wieder die Zeichen des Pilgerwegs am Straßenrand auf, wenn man aufmerksam ist.

»Kompliment«, will der Herr gerade rufen, »starke Leistung, Madame!« Da biegt sie kichernd in eine Neubausiedlung ab.

Sofort und augenblicklich lassen wir die Beine über die Pedale hängen und verringern die Geschwindigkeit, bevor der Körper Zwangsmaßnahmen ergreift. Ganz langsam sinkt der Puls wieder auf ein gesundes Niveau. Wer behauptet hier, der Herr würde nicht nur zum Trinken anhalten?

Bei unserer sofort eingeleiteten, weitaus gemächlicheren Fahrweise braucht sich der Gegenwind nicht mehr sonderlich anzustrengen. Dieses Duell ist erst mal aufgeschoben, aber sicher werden wir uns dem noch stellen müssen. Dann wäre es schön, wenn ausnahmsweise wir jemanden hätten, bei dem wir uns in den Windschatten hängen können.

Momentan lässt sich die Kraft wieder spüren, an der wir gerade noch gezweifelt haben. Hier auf diesem Streckenteil durch die kleinen Dünen macht Fahrradfahren mächtig Spaß. Wenn wir uns konzentrieren, ist es möglich, wechselweise nur mit den Wadenmuskeln zu treten oder die Kraft auf die Pedale nur aus den Oberschenkeln heraus zu übertragen. Auf diese Weise kann man die Muskelstränge abwechselnd entlasten. Geniale Erfindung! Gehört habe ich davon noch nie, aber es scheint zu funktionieren!

Im Auf und Ab der Hügel hat sich seit einigen Kilometern eine Melodie in unseren Kopf geschlichen. Nur welche? Beim besten Willen ist sie nicht zu identifizieren. Der Herr hasst das genauso wie ich, ein Lied zu hören, es zu kennen, aber einfach nicht auf den Titel zu kommen. Gewissermaßen zählt das immer schon zu unseren Spezialitäten, sofort das Lied und den Interpreten nennen zu können. Zumindest gilt das für Songs aus der zweiten Hälfte des alten Jahrhunderts.

Zu dieser Tonfolge im Ohr ist kein Anhaltspunkt zu finden. Außerdem kommt und geht sie, wird lauter oder leiser, wie es ihr passt. Der Herr ist wie im Rausch, er fährt und fährt, will einfach nur fahren und mir bleibt keine Wahl.

Wir erreichen die Bucht von Arcachon nach weiteren fünf Stunden Fahrt den Küstenradweg entlang, mit einer nicht zu identifizierenden Melodie im Schädel.

Unverständlicherweise geben die empfindlicheren Körperteile keine Schadensmeldungen ab, selbst nach diesen vielen Stunden im Sattel. Auch der verlängerte Rücken lässt uns nicht im Stich, darüber haben wir ins im Vorfeld die meisten Sorgen gemacht. Nur die Ellbogen sind ein wenig zu spüren und die Stirn fühlt sich unterhalb des Kopftuchs und Helms deutlich feurig an. Der Fahrtwind ist schuld, höre ich, der nimmt das Gefühl für die Kraft der Sonne. Schon praktisch, wenn immer ein Schuldiger in der Nähe ist!

Als wir in Arcachon einrollen, machen die Geschäfte gerade wieder auf. Es ist bereits später Nachmittag.

Nach einem neugierig prickelnden Schnelltest mit den Zehen im Wasser schätze ich die Ozeantemperatur auf 17,439 Grad Celsius oder 63,39 Grad Fahrenheit. Wie erwartet ist da niemand, der uns davon abbringen möchte, auf ein Bad zu verzichten. Wir werden uns eine ausgiebige und vor allem warme Dusche im Hotelzimmer gönnen.

LEKTION DES TAGES

Kondition ist keine Frage des Alters!

Der Schweinehund auf dem Jakobsweg

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