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Оглавление21. September – Samstag
»I hab amal nachgedacht«, meinte Wimmer. Es war ein kühler, sonniger Herbstmorgen, kurz vor halb neun und der zweite Tag, an dem die beiden Detektive den Hof suchten. Wimmer stieg wieder zu Biss in den Wagen.
»Und?«
»Na ja, wenn des wirklich alles is, was mir ham, dann is des ned grad viel.«
»Mehr habe ich leider nicht. Ich hab nur dieses eine Foto.«
»Dann muss man aus dem Wenigen halt das Beste machen«, brummte Wimmer. »So wie i das seh, ham mir drei Ansatzpunkte.«
Wimmer bemühte sich, sich sehr professionell zu geben. Er wollte bei dem Detektiv Eindruck schinden. Der Kollege wollte Geld bezahlen, und darum sollte er auch einen soliden Gegenwert erhalten.
»Drei Ansatzpunkte?« Dirk Biss staunte. Er hatte das Bild natürlich auch genau angesehen. Die Leute waren sicher kaum ein Hinweis. Die Aufnahme war uralt und die Gesichter klein und unscharf. Dass man nach so langer Zeit darauf jemanden erkennen würde … das wäre ein reiner Glücksfall. Mehr Erfolg versprach da das Haus. Doch das war fraglich, denn auch Bauernhöfe veränderten sich mit der Zeit. Aber es war ein brauchbarer Ansatz. Der einzige, soweit Biss es erkannte. Und nun zauberte dieser Amateur noch zwei weitere Möglichkeiten aus dem Hut, an die Sache heranzutreten.
»Was für Ansatzpunkte meinen Sie?«
»Das Haus natürlich, die Bäume im Hintergrund und die Heiligenfigur da oben zwischen den Fenstern.«
»Die ist doch ganz unscharf. Da werden Sie auch keine bessere Darstellung herauskitzeln können. Das hab ich doch schon probiert. Oder können Sie die so unscharf etwa erkennen?«
»Naa. Erkennen kann i die aa ned. Aber mir können vielleicht trotzdem ziemlich genau abschätzen, wie groß die Figur sein muss.«
»Wie wollen Sie denn das schätzen?«
»Da, schaun S’. In der Lampe über der Tür sieht man a Glühbirne. Von der Kamera is die ziemlich genau so weit weg, wie die Nische mit der Figur. Und wie groß a Glühbirn ist, des weiß i zwar ned, sieben Zentimeter im Durchmesser, tät i schätzn. Aber des kann man doch rauskriegen. Und dann is es nur mehr a Rechenaufgab für die Mittelstufe: Dreisatz.«
»Respekt!« Biss nickte anerkennend. Mit einer verlässlichen Vergleichsstrecke konnte man tatsächlich die Größe der Nische und der Figur recht genau ausrechnen. »Das kann ein wenig helfen. Aber ob uns das wirklich weiterbringt, weiß ich nicht. Heiligenfiguren in der Größe gibt es sicher viele. Und was ist mit den Bäumen?«
»Da möcht i gern wen fragen. Vielleicht kriegen wir nicht raus, wo die Baam steh’n, aber i hoff, dass er uns sagen kann, nach was wir überhaupt schau’n sollen.«
Als sie angekommen waren, bat Wimmer Biss, im Auto zu warten. »Der Mann is a bisserl a schwieriger Charakter. Da bin i besser allein.«
Wimmer hatte erwartet, dass Biss protestieren würde, doch es schien ihm nichts auszumachen.
Johannes Rosskopf war Nebenerwerbslandwirt auf einem Hof unweit von Wolnzach und als ungeselliger Eigenbrötler bekannt. Er gab sich schweigsam und muffig. An schlechten Tagen konnte er sehr rüpelhafte Manieren an den Tag legen. So war es kein Wunder, dass er als Einzelgänger galt. Die meisten Flächen seines Hofs waren verpachtet, bis auf ein wenig Holz und ein paar Äcker, auf denen er Gerste, Sonnenblumen und Raps im Wechsel anbaute. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Lokführer im Rangierverkehr.
Seit seine Frau ihn sitzengelassen hatte, war das Thema Beziehung für ihn erledigt. »Die Weiberleut können mir g’stohlen bleiben. Wenn i a blöds G’wäsch hörn will, mach i den Radio an. Wenn i will, dass man mir was anschafft, geh i in die Arbeit. Und für a g’scheides G’spräch geh i in den Wald. So a Baam, der hört zu und unterbricht mi ned.«
So lebte er allein und war zufrieden, wenn man ihn in Ruhe ließ und er seine Bäume hatte. Rosskopf war weder Naturromantiker noch Waidmann. Wenn er in den Wald ging, dann allein wegen der Bäume, in denen er echte Freunde sah. Sie verstanden ihn, und er verstand sie.
Holz, das war ein wenig wie er selbst, sein Medium. Hart, zäh, ausdauernd und doch wunderbar gestaltbar. Seine Scheune hatte er mit der Zeit in eine kleine Schreinerwerkstatt verwandelt, in der übers Jahr eine Reihe außergewöhnlicher Vogelfutterhäuschen entstanden waren, mit Türmchen, kühnen Dachlandschaften und alle perfekt gearbeitet. Im Herbst verkaufte er sie für teures Geld im Internet. Das war ein willkommenes Zusatzeinkommen, von dem nur wenige wussten. Was keiner wusste: Rosskopf schnitzte auch herrliche Figuren. In seinem Keller gab es ein halbes Hundert spannenlanger Krippenfiguren, nur für ihn und seine private Freude.
Wimmer mochte den Sonderling. Vor ein paar Jahren hatte er ab und zu noch ein paar Schweine rund gemacht, und der Metzger hatte sie ihm gern abgekauft, denn diese Tiere hatten ohne Zeitdruck ihren Speck ansetzen dürfen, hatten Auslauf genossen und waren ein gutes Stück weit besser gewesen als der Durchschnitt.
Wimmer fand den Bauern nahe beim Hof auf einer Bank neben einer Linde in der Morgensonne sitzen und eine Pfeife rauchen.
»Griaß de, Ludwig!«
»Servus, Johannes.«
Es folgte eine Pause.
»Bist schon lang nimmer da g’wen.«
»Is scho a Weile her. Stimmt. Und? Dir geht’s gut?«
»Passt scho. Und selbst?«
»Mei … muss ja.«
Damit waren sowohl die Begrüßung als auch der Smalltalk beendet. Wimmer setzte sich, und sie schwiegen beide. Nach einer Weile drehte sich der Gastgeber halb zu Wimmer um und zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, genau, Johannes, i brauch was von dir. I hab da a Problem, und da warst du vielleicht der Rechte, der mir helfen kannt.« Rosskopf schwieg weiter. Auch Wimmer ließ sich Zeit, dann fuhr er fort. »I soll auf am alten Foto a Haus finden. A paar Baam san aa auf dem Bild drauf. Viel erkenn i da ned, aber vielleicht kannst du mir sagen, was des für Baam gewesen sind.«
Rosskopf nahm die Pfeife aus dem Mund und schmunzelte.
»Dann zeig doch amal her.«
Nach eingehendem Studium des Bildes stellte er fest, dass es kaum eindeutig zu sagen war.
»Die Qualität is scho recht lausig. Der linke Baam kannt mit a bisserl am Glück a Eiche sein. Wenn des aber a Kastanie ist, dann wirst die vielleicht gar nimmer finden. Die werden meistens ned so alt. Die wann im Inneren morsch werden, dann muss man die umschneiden. Im Hintergrund is a Birke. Die war damals a scho recht alt. Die wird ziemlich sicher nimmer stehn. Aber hier am Rand, des schaut aus, als ob des a Linde war … die könnt’s noch geben. So a Linde, die wird alt.«
Wimmer blieb noch eine Weile sitzen.
»Wenn’s a Linden is«, ergänzte Rosskopf, »dann kann’s sogar sein, dass ma die unter Schutz g’stellt hat. Seit etwa dreißig Jahren kannst so an schönen alten Baam nimmer einfach wegmachen. So a Baamfrevel is inzwischen oft aa gesetzlich verboten.«
Damit verstummte er wieder und hüllte sich in eine aromatische Wolke Tabakrauch. Wimmer bedankte und verabschiedete sich, dann kehrte er zu seinem Auftraggeber zurück. Biss legte gerade eine Art Satellitenschüssel aus Plexiglas mit Handgriff zu einem Kassettenrekorder in den Kofferraum.
»Is das a Richtmikrofon?«
»Ja, freilich. Haben Sie geglaubt, ich bleib im Auto und les derweil a Mickey-Maus-Hefterl?«
»Und aufgenommen ham S’ mi aa no?«
Das hatte Biss nicht getan. Der Kassettenrekorder, so erklärte er – und es stimmte sogar – sei nur eine Vorsichtsmaßnahme. Mit dem Rekorder und dem Buch »Unsere gefiederten Freunde – Band 1, Singvögel« könne er jederzeit und überall mit dem Richtmikrofon arbeiten und dann behaupten, nur ein Hobbyornithologe zu sein, auf der Suche nach dem Ruf des Ziegenschnäppers. Wer die Kassette anhörte, fand darauf tatsächlich nur Vogelgezwitscher. Wollte Biss mit dem Richtmikrofon etwas aufnehmen, stöpsele er sein digitales Aufnahmegerät an, so groß wie eine Zigarettenpackung.
Die Weiterfahrt war still und frostig. Wimmer fühlte sich getäuscht und schwieg hartnäckig. Schließlich lenkte Biss den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab.
»Herr Wimmer, wenn Sie sich hintergangen fühlen, tut es mir leid. Das war nicht meine Absicht. Aber ich denke, ich sollte doch genau das erfahren, was auch Sie wissen. Ich dachte, so ist es einfacher, als Sie zu verwanzen oder so was.«
»Wanzen haben Sie auch?«
»Ja. Freilich.«
»Darf man die denn überhaupt benutzen?«
»Nicht überall. Dieser Bereich ist rechtlich ein wenig – nennen wir es – sumpfig.«
»Ham Sie sonst irgendwelche Sonderrechte, Herr Biss? Darf so a Detektiv mehr, weil er wie die Polizei ermittelt?«
»Nein. Ich bin ja weder die Polizei noch eine Staatsbehörde. Ich darf alles, was normale Menschen auch dürfen. Aber mehr darf ich nicht.«
»Dürfen S’ einfach so Gespräche abhören?«
»Das darf ich nicht. Aber ich darf versuchen, Vogelstimmen aufzunehmen … und wenn ich da dann zufällig ein Gespräch höre …«
»Dürfen S’ wen festnehmen?«
»Das darf ich, und Sie dürfen es übrigens auch. Wenn Sie einen Dieb zum Beispiel in flagranti erwischen, dann dürfen Sie ihn festhalten, bis die Polizei da ist. Das nennt sich ›Festnahme durch Jedermann‹.«
»Aber ned jedermann hat deshalb gleich Handschellen dabei. Ich hab welche hinten im Kofferraum gesehen und so was wie a Filmkamera aa. So a große gleich, mit schwerem Holzstativ.«
Biss lachte. »Das ist keine Kamera, Herr Wimmer. Das ist nur ein Stativ mit einem Theodoliten, einem Landvermessungsgerät. Der ist sogar kaputt. Aber das macht nix. So ein Gerät ist sehr praktisch. Wenn Sie mal ein Objekt länger beobachten müssen, kann man sich dabei schlecht unsichtbar machen. Irgendwann gibt es dumme Fragen. Aber wenn Sie nur Grundstücke oder Gullideckel vermessen und dazu noch eine orange Jacke anhaben, dann fragt kaum einer, und wenn, dann kann man einfach was über neue Glasfaserleitungen für das schnelle Internet erklären, und die Leute sind zufrieden. So kann man ganze Tage um ein Objekt herumstreichen und es beobachten.«
Wimmer fand all diese Methoden recht zwielichtig. Der Detektiv kam ihm inzwischen sehr halbseiden vor. Vielleicht war er ja kein Ganove, aber ein Partner, dem man vertrauen konnte, war er sicher nicht. Seit er das Richtmikrofon erkannt hatte, spielte er mit dem Gedanken, die Zusammenarbeit abzubrechen.
Doch schon im nächsten Moment bekam er ein schlechtes Gewissen. Er selbst war ja kaum besser. Auch er hatte schon Menschen mit Technik ausgespäht, abgehört und überwacht. Vor allem Anna war es, die immer wieder neue »Spionage«-Anwendungen für ihr Mobiltelefon vorschlug. Und sie beide wussten, wie man mit erfundenen Geschichten Menschen zum Reden brachte. Ganz ehrlich waren sie also auch nicht. Immerhin versuchte Wimmer, diese fragwürdigen Methoden nicht ohne Notwendigkeit und so selbstverständlich einzusetzen wie sein Kollege. Für ihn waren sie ein letzter Ausweg, wenn er anders nicht weiterkam.
»Herr Biss, mich werden S’ nicht noch einmal aushorchen, bespannen oder sonst wie ausspionieren. Nicht ohne, dass i des weiß. So kann man doch ned z’sammarbeiten. Da muss doch a Vertrauen da sein. Ham S’ mich verstanden? Wenn S’ meinen, dass S’ Ihre Spielzeuge einsetzen wollen, dann geben S’ mir Bescheid. Sonst is Schluss mit unserer Kooperation. Is des klar? Ham S’ des kapiert?«
Biss versicherte noch einmal, nichts Böses mit dem Richtmikrofon beabsichtigt zu haben, und schon gar nicht sei das ein Zeichen von Misstrauen, und Wimmer war dann endlich wieder beruhigt.
Eine Weile fuhren sie noch herum und suchten nach passenden Bäumen. Wimmers Zorn legt sich allmählich. Eichen fanden sie einige und auch Linden. Doch sie standen nie so zueinander, wie das Bild es zeigte. Gegen drei Uhr fuhr Biss ihn zur Metzgerei zurück.
»Für heute müssen wir Feierabend machen«, sagte er. »Ich hab heute Nachmittag noch einen anderen Termin im Zusammenhang mit einem ganz anderen Auftrag. Wollen Sie die Sache mit der Heiligenfigur und der Glühbirne in Angriff nehmen? Und morgen suchen wir weiter nach den Bäumen.«
Zu Hause half Anna Wimmer mit der Aufgabe. In der Speisekammer fanden sie noch eine alte Glühbirne und maßen sie aus. Sie hatte einen Durchmesser von sieben Zentimetern. Das war ein wichtiger Wert.
Anna machte eine Aufnahme von Wimmers Foto mit ihrem Handy und hatte so ruck, zuck das Bild auf ihrem Rechner. Ein Grafikprogramm half, es ins Gigantische zu vergrößern.
»Da erkennt man ja gar nix mehr!«, motzte der Metzger.
»Natürlich ist das jetzt ganz schrecklich verrauscht. Aber des Wichtige können mir scho erkennen. Des da muss die Lampe sein, und das hier drin ist die Glühbirne.« Sie deutete auf einen helleren Schemen vor dunklerem Grau. »Das heißt, von hier bis da hin …«, sie zog mit der Maus zwischen zwei Punkten einen leuchtend gelben Strich, »… sind’s auf dem Foto sieben Zentimeter.«
Sie klickte ein paarmal mit der Maus und hatte plötzlich ein Lineal auf dem Bildschirm, an dem diese gelbe Strecke anlag. Es waren dreiundzwanzig Millimeter. Dann verschob sie das Bild, bis der Bildschirm die Nische zeigte. Was für ein Heiliger es war, war nicht zu erkennen. Aber sie konnte wieder zwei Strecken an der Nische einzeichnen und mit ihnen die Höhe und Breite bestimmen.
»Des muss a recht kleine Figur sein«, meinte sie, als sie ihren Taschenrechner zu Rate gezogen hatte. »Die Nische ist nur achtundzwanzig Zentimeter breit und dreiundfünfzig Zentimeter hoch. Und die Figur reicht aa ned bis ganz nauf.«
»Lass uns des aufrunden, falls wir uns vermessen ham oder die Glühbirnen früher größer g’wesen san. Dreißge in der Breiten und fümferfuchzig hoch. Und darin eine Figur, ned größer als fümfundvierzg Zentimeter. Das is doch schon a brauchbares Ergebnis.«