Читать книгу Hopfenbitter - Alexander Bálly - Страница 13

5

Оглавление

12. Oktober – Samstag

Die Polizeiinspektion Geisenfeld lag an der Nöttinger Straße, gleich neben der Feuerwehr. Sie war in einem soliden, schmucklosen Verwaltungsbau untergebracht, zweigeschossig, darüber ein Dach mit Gauben. Der Erscheinung nach könnte es ein beliebiges Amt sein – oder eine Schule. Nicht einmal Einsatzfahrzeuge vor dem Haus wiesen auf die Ordnungshüter hin. Die parkten im großzügigen Hof dahinter.

Am ersten Samstag im Oktober ging hier um elf Uhr dreiundvierzig eine Meldung über unbefugtes Betreten ein. Polizeihauptwachtmeisterin Monika Zankel hatte ein paar Schwierigkeiten, die Situation in der wirren Schilderung zu erfassen.

Dann rief sie per Funk eine Streife in der Nähe. Es meldete sich Ralf Eichler, der mit seinem Kollegen Helmuth Karg gerade in Untermettenbach Streife fuhr und als Freund und Helfer Präsenz zeigte.

Als Eichler den Hörer des Autotelefons in die Schale zurücklegte, gab er dem Fahrer ein neues Ziel an: »Jebertshausen. Ein Mann will ein Grundstück nicht verlassen. Irgendeine Familienangelegenheit soll da hineinspielen. Und ein Kalb will er angeblich schlachten.«

»Um was geht es?«

»Des war’s, was die Moni aus den Leuten ’raus’bracht hat. Die waren wohl a bisserl durcheinander.«

»Blaulicht?«

Auch ohne Blaulicht waren sie binnen zehn Minuten vor Ort. Es hatte kaum länger gedauert, als wenn sie die Signalrundumbeleuchtung samt Signalhorn benutzt hätten. So fuhren sie auf den Hof der Familie Bichler. Die Situation war dann doch recht rasch klar. Ein Mann, dem Kennzeichen des Autos nach aus der Landeshauptstadt, stand auf dem Hof und gestikulierte wild.

»Aber ich g’hör doch aa dazu.«

Er war puterrot im Gesicht und am Hals, davon abgesehen war er dürr, ältlich und offenbar sehr aufgeregt.

Auf der obersten Treppenstufe stand in der Tür offenbar der Hausherr, ein breitschultriger Mann in den Fünfzigern mit kurzgetrimmtem Vollbart. Er verwehrte den Zutritt zum Haus mit verschränkten Armen und drückte mit seiner ganzen Körpersprache Ablehnung aus. Ihm zur Seite stand ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren, der grimmig schaute und rhythmisch seine Fäuste öffnete und schloss. Oben auf dem kleinen Balkon über der Tür waren drei Generationen von Bichler-Damen versammelt.

Oma Gusti Bichler war knapp achtzig und keifte laut und engagiert: »Wennst di ned schleichst, dann kannst fei was erleben! Du hast hier nix verloren, und mir wissen genau, wie mir mit Landstreichern und Schamsterern umgehn.«

Lissi, die Enkelin, ein paar Jahre älter als ihr Bruder, überragte ihre Großmutter um Haupteslänge.

»Reg di ab, Oma, die Polizei is doch scho da, siehst es? Des kommt jetzt ois in Ordnung.«

»Nichts ist in Ordnung! Ich gehöre doch auch hierher. Ich bin doch auch einer von euch!«, rief der Mann auf dem Hof.

»A so a Schmarrn!«, zeterte die Ehefrau des Hausherrn vom Balkon. »Wer hier herg’hört, des wiss ma ganz genau. Und so oana wie du, der g’hört ganz sicher ned dazu. Kann es aber vielleicht sein, dass du irgendwo anders hing’hörst und dene da aus’kommen bist?«

»Ich bin aber doch Verwandtschaft!«

»Da kannt ja a jeder kommen. So a Schmarrn. Unsere Verwandten, die kenn ma alle! Und neue brauch ma keine. Und ganz sicher keine hirndepperten Anstaltsflüchtling!«

Hier nun schritt Eichler ein und verbat sich weitere Beschimpfungen. Während Karg den Unruhestifter beiseite nahm, wurde Eichler von Roman Bichler in die Küche gebeten, wo sich alsbald auch die drei Damen versammelten. Hier bekam er die ganze Affäre erklärt.

Vor mehr als einer Stunde war dieser Mann aus München auf dem Hof vorgefahren und hatte geläutet. Als sie die Tür öffneten, stellte er sich als ein Werner Wollner vor.

»Hat Ihnen der Name was g’sagt?«

Alle verneinten, und die Oma ergänzte: »Mir ham ja den Menschen nie nicht gesehen!«

»Ist er Ihnen allen unbekannt?«

Das wurde bestätigt.

»Und dann wollt er, dass mir a Kalb schlachten!«, ergänzte die amtierende Bäuerin.

»Da muass er zum Haslacher oder zum Waslinger. Mir ham scho seit mehr als zwanzig Jahr mit der Kälbermast nix mehr am Hut«, meinte der Bauer.

»Der hat doch an Schuss, so was g’hört doch wegg’sperrt, in a Gummizelle.«

»Äh … i glaub, er hat g’meint, er wär der verlorene Sohn«, wandte die Tochter ein. »Die Sach mit dem Kalberl, die is, glaub ich, eher übertragen g’meint g’wesen.«

»Bist sicher?«, wollte die Oma wissen.

»Ja, scho.«

»Aber an Schuss hat der doch trotzdem. Und was soll des denn hoaß’n? Verlorener Sohn? Wer glabt er denn, dass er wär? I hab nur oan Buam zur Welt bracht, und des is der Roman hier«, stellte die Großmutter mit Nachdruck fest.

»I hab mir die Sach ja a Weile ang’hört, aber es is letztlich doch nur a Haufen Schmarrn g’wesen«, erklärte der Hausherr. »Da hab i eam g’sagt, er soll sich schleichen. Damit er des aa versteht, hab i eam ausdrücklich ang’schafft, das Grundstück zu verlassen.«

»Der is aber ned ganga!«, ergänzte seine Ehefrau. »Immer mehr hat er sich aufg’regt, Sie ham’s ja erlebt. Da hab ich dann bei der Polizei ang’rufen.«

Eichler kehrte zu seinem Kollegen zurück. Sie ließen den Störer auf einem Bänkchen neben dem Stalltor sitzen, traten ein paar Schritte außer Hörweite, und Eichler berichtete.

»Ah … so war des also. Aber außer am Haufen G’schrei is nix weiter passiert?«

»Naa. Und des Kalb war wohl bloß a Anspielung auf den verlorenen Sohn. Was hast du herausg’funden?«

Der Eindruck, den der Kollege Karg von dem Störenfried hatte, war nicht sehr klar. »Er heißt wohl Werner Wollner, wohnt in Ramersdorf in München. Von Beruf ist er Buchhalter, hat er gesagt.«

»Ned gerade die klassische Kundschaft bei Hausfriedensbruch.«

»Ich hab scho alles erlebt. Dieser Buchhalter is aber, so scheint’s, a bisserl neben der Spur. Sagt, dass er erst kürzlich erfahren hat, dass er der Halbbruder von dem Herrn Bichler sei. Und er hat sich nun als Verwandter vorstellen wollen, dass er die Familie kennenlernt, zum Kontakt herstellen. Die Familie wär aber so bös gegen ihn g’wesen, hätt ihn so wüst beschimpft und davonjagen wollen, dass er schier verzweifelt ist. So ist jetzt seine schöne Familienzusammenführung g’scheid nach hinten losgegangen.«

»Ansonsten?«

»Er riecht nicht nach Alkohol, hat uns aber trotzdem ins Rohr gepustet. Auch den Drogenschnelltest hat er gemacht. Beides ist ohne Befund. Trotzdem … ganz sauber is der Kerl ned, wenn du mich fragst.«

Sie gingen zu Wollner zurück. Karg setzte sich zu dem Mann auf die Bank.

»So, Herr Wollner. Mein Kollege hat mit den Bichlers gesprochen. Die haben Ihnen das Betreten des Grundstücks untersagt. Das ham Sie doch verstanden? Nicht wahr?«

»Ja, das haben sie gesagt. Aber ich gehör doch dazu. Ich bin doch auch Familie. Das kann doch nicht sein.«

»Ich weiß nicht, ob Sie mit den Bichlers verwandt sind. Das spielt aber auch gar keine Rolle. Sie haben den Hausherrn gehört. Und auch ich erteile Ihnen jetzt hiermit einen Platzverweis. Sie wissen, was das heißt? Sie müssen das Grundstück jetzt verlassen.«

»Ich soll gehen?«

»Sie müssen gehen«, sagte Eichler. »Und Sie dürfen das Grundstück auch nicht wieder betreten. Was ham S’ denn eigentlich erreichen wollen, Herr Wollner?«

»Dass sie mich akzeptieren. Nur das. Dass ich auch a Familie hab. Dass ich dazugehöre. Das wollt ich. Weil … das ist nämlich wichtig.«

»Sie haben doch sicher eine eigene Familie. Gehen S’ halt dahin zurück!«

»Ach, da ist bloß meine Frau. Die ist zwar lieb und alles. Aber die versteht mich ned.«

»Nun, die Familie Bichler versteht Sie im Moment auch nicht, und sie möcht Sie nicht hier haben. Wenn Sie bleiben und weiter Ärger machen, werden Sie sie sicher nicht überzeugen.«

Die Polizisten sprachen geduldig und ruhig mit Wollner, doch der ließ sich nur langsam überreden, den Hof zu verlassen.

Trotzig stellte er seinen Wagen gegenüber an den Straßenrand und starrte über den Asphalt hinüber, während die Polizisten die Familie Bichler informierten. Als sie vom Hof fuhren, stand Wollner immer noch dort. Eichler stieg aus und ging zum Fahrzeug hinüber.

»Wollen S’ nicht heimfahren?«, fragte Eichler. »Zu der Familie, die Sie schon haben?«

»Da mag ich nicht hin. Die hier mögen mich nicht. So wie es scheint, kann mich gar keiner nicht leiden. Aber hier ist öffentlicher Raum. Hier darf ich sein. Und drum bleibe ich hier.«

»Herr Wollner, ich hab nichts gegen Sie. Aber was bringt es, wenn Sie hier hinüber schauen?«

»Ach was! Sie mögen mich auch nicht, sonst würden Sie nicht zu den Bichlers halten. Sie sind parteiisch. Das hab ich schon gemerkt.«

»Ich bin nicht dazu da, den Bichlers zu helfen – oder Ihnen. Das ist nicht meine Aufgabe. Auch zum Frieden stiften bin ich nicht da. Ich soll nur für Recht und Ordnung sorgen. Und als Hausherr hat Herr Bichler das Recht, Sie vom Hof zu weisen.«

»Und was ist mit meinen Rechten?«

»Auch für Ihre Rechte werde ich mich einsetzen. Aber Sie haben kein Recht auf Familienanschluss. Selbst wenn Sie mit den Bichlers verwandt sein sollten.«

»Ich bleib da.«

»Ich kann es Ihnen nicht verwehren. Aber wir haben Ihre Personalien. Wenn die Bichlers sich von Ihnen verfolgt oder belästigt fühlen, sehen wir uns wieder. Tun Sie sich doch bitte einen Gefallen. Fahren Sie heim. Vielleicht schreiben S’ Bichlers einen netten Brief und erklären, was Sie möchten.«

1.12.1957

Franziska goss das letzte Wasser aus dem Kessel in den Porzellantrichter, strich eine ihrer widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und sah zu, wie das Wasser im Kaffeesatz versickerte. Nun endlich stellte sie die Kanne zum Rest vom edlen Rosenthal auf das Tablett und trug dann alles hinüber in die gute Stube, wo ihre Großmutter die Familie zum Kaffeetrinken geladen hatte.

Die Arbeit blieb natürlich an Franziska hängen. Seit den schlimmen Bombennächten im April ’44 wohnten Mama und sie im rückwärtigen Zimmer bei ihrer Großmutter. Das Haus, in dem sie mit den Eltern gewohnt hatte, war von einer Bombe getroffen worden, ausgebrannt und in sich zusammengestürzt. Eineinhalb Tage waren sie im Keller verschüttet gewesen. Dann waren sie zu ihrer Großmutter gezogen. »Fürs Erste« hatte es geheißen. Doch ihr Vater blieb im Krieg vermisst. Als Ehefrau eines Vermissten bekam Franziskas Mutter natürlich keine Pension und war fast mittellos. So wurde aus dem Provisorium eine Dauereinrichtung.

Mama zeigte sich sehr dankbar und sagte stets, dass sie es viel schlimmer hätte treffen können. Das war nicht ganz falsch. Die Fünf-Zimmer-Wohnung der Großmutter war natürlich groß genug, und auch für sie war die Lösung von großem Vorteil. Die Zeiten, da sich die Witwe eines gehobenen Postbeamten ein Hausmädchen leisten konnte, waren vorbei. Statt Miete zu zahlen, hatte Mama stillschweigend den Großteil der Hausarbeit übernommen.

Dennoch hatte dieses Arrangement einen hohen Preis. Mama und auch Franziska selbst waren schleichend immer weiter unter die Knute der strengen Großmutter geraten. Nach all diesen langen Jahren sah sich die alte Dame als der Familienvorstand und herrschte absolutistisch, gelegentlich auch tyrannisch über ihre Lieben. Ihre Schwiegertochter behandelte sie eher wie eine Hausangestellte und versuchte dies auch bei Franziska.

Auch Franziskas Tante Iris, stolze Kriegerwitwe, konnte sich der Herrschsucht ihrer Mutter nicht komplett entziehen, litt aber weniger darunter. Als Postbeamtenwitwe mit Pension bewohnte sie eine etwas kleinere Wohnung zwei Häuser weiter und war finanziell unabhängig. Schleichend war sie aber ihrer Mutter immer ähnlicher geworden. Nun saß sie neben der Patriarchin am Kaffeetisch, während ihre Schwägerin den Tisch deckte und Franziska den Kaffee auftrug.

Als die erste Kerze am Adventskranz brannte, fragte die Tante: »Sag, Franziska, ist dein Kleid eingelaufen? Ich meine, es saß sonst nicht so stramm.«

»Ich hab wohl ein wenig zugenommen«, erklärte Franziska lächelnd.

Iris blickte säuerlich. »Du musst auf dich achten. Du hast immer noch keinen Mann! Wenn du dich jetzt schon gehen lässt, wird das am End nichts mehr mit dem Myrthenkränzchen.«

Die alte Dame blickte streng auf ihre Enkelin. »Ein Mädchen darf sich nicht gehen lassen. Aber schon gar nicht darf es sich hingeben. Und ich fürchte, das ist viel eher unser Problem. Ist es nicht so, Franziska?«

Franziska errötete schlagartig, ihre Mutter verstand nichts, und Iris blieb der Mund offen stehen.

»Du bist schwanger, Kind! Gib es zu«, stellte die Großmutter fest. Sie sagte es ruhig, schrie nicht, doch ihr Mund war dünn wie ein Strich. »Verbergen kannst du es über kurz oder lang ja sowieso nicht. Bald wird es jedermann sehen können.«

Franziska blickte stumm in ihren Schoß.

»Das musste ja passieren«, legte die Patriarchin nach. »Ich war immer schon dagegen, dass du dich auf dem Land als Magd verdingst. Fabrikarbeit war schon schlimm genug. Aber das … Und man sieht ja, was herauskommt.«

»Wer ist denn der Kindsvater? Wird er dich heiraten?«, wollte Franziskas Mutter wissen.

»Hilda, rede keinen Unsinn!«, fuhr ihr die Alte über den Mund. »Sie war dort als Wanderarbeiterin. Mit wem wird sie da schon Umgang gehabt haben? Wenn es ein Bauernbursch war, der was hat, wird der keine aus der Stadt heiraten, denn er braucht ja eine tüchtige Bäuerin. Und wenn er nichts hat, dann ist es wohl einfachstes Landvolk, der Bodensatz – G’schwerl. Du kannst es drehen und wenden, wie du magst … so und anders, da schaut kein Bräutigam heraus.«

»Unglaublich!« Auch Iris hatte endlich die Sprache wiedergewonnen. »Was machst du nur? Was tust du uns nur an? Die Schand! Der Skandal! Was werden nur die Leut sagen? Bringt die ein uneheliches Kind an!«

Die Großmutter ging darauf nicht ein.

»Wie weit bist du?«

»Es müssen etwa dreieinhalb Monate sein«, sagte Franziska kleinlaut. Endlich hatte auch sie ihre Sprache wiedergefunden. Gleich daneben lag der Rest Selbstbewusstsein, den sie sich bewahrt hatte. »Außerdem ist das mein Kind und auch meine Sach. Ich weiß nicht, wieso ihr euch da aufmanndeln müsst.«

Es wurde ein denkwürdiges und sehr unangenehmes Kaffeetrinken. Franziska wurde lautstark und umfangreich belehrt, dass es durchaus nicht nur sie angehe und dass ein Bankert sicherlich nicht in die saubere und untadelige Familie Wollner passe. Darauf beharrten Iris und die Großmutter. Die beiden versuchten, Franziska auf Linie zu bringen, und sahen nur zwei Lösungen: das Kind weggeben oder abtreiben. Dabei führte die Greisin vor allem die sachlichen und finanziellen Argumente ins Feld. Ihre Tochter bemühte hingegen immer wieder die Kirche und forderte auch Gehorsam gegen Gottes Gebote. Sie vor allem favorisierte das Weggeben des Kindes. Aber auch eine Abtreibung schien ihr eine hinnehmbare Lösung zu sein.

Franziska hatte bei all dem ihre Hand schützend über ihren Bauch gelegt, war zwar willig, jedweden Rat anzuhören, aber blieb bockbeinig bei ihrer Einstellung: Entscheiden würde sie selbst. Ihre Mutter war zwischen beiden Seiten hin- und hergerissen und brach immer wieder in Tränen aus.

Die nächsten drei Wochen wurden sehr frostig. Dann kam Weihnachten, und Franziska fand für sich ein Kuvert unter dem Christbaum. Darin steckte die unglaubliche Summe von dreihundertfünfzig Mark.

»Kind, ich will, dass du dir Urlaub nimmst und nach Holland fährst. Dort wird man sich deines Problems annehmen. Ich habe mich erkundigt und gute Adressen gesammelt. Dann kommst du nach einer Woche wieder heim, und nichts ist geschehen.«

Franziska war entsetzt. »Ich lass mir mein Kind doch nicht wegmachen!«

»Sei nicht so unvernünftig. Eine ledige Mutter mit Kind! Das ist doch kein Leben!«

»Ach was! Das gab es immer schon! Und heutzutage ist das keine Katastrophe mehr. Da dreht sich doch keiner mehr um! Eine Kollegin hat zum Beispiel ein Kind von einem Ami, und der war sogar schwarz. Sie hat es geschafft, und andere kommen auch zurecht!«

Für ihre Großmutter zählte das nicht. Wenn andere sich Schande und Unglück aufluden und ihr Leben ruinieren ließen, war das deren Sache. Hier ging es um sie und ihre Familie, und da habe sie Rücksicht zu nehmen.

»Franziska, es ist so: Wenn du das Kind abtreiben lässt, dann helfe ich dir. Doch wenn du darauf bestehst, weiter in dein Unglück zu rennen, dann rechne bitte nicht mit meiner Hilfe. Und auf Iris zähle besser auch nicht. Was deine Mama angeht, so weißt du ja wohl, dass von ihr nichts kommen kann. Du meinst vielleicht, dein Fabriklohn genügt, um dich und dein Kind zu ernähren? Ich glaube kaum. Und als Mutter musst du ja wohl ohnehin aufhören zu arbeiten. Wie also willst du dich und dein Kind durchbringen? Allein? Ohne Familie? Wir meinen es nur gut mit dir. Aber ein uneheliches Kind? Nein! Solch ein Kind können wir nicht brauchen.«

Es wäre möglicherweise anders gekommen. Vielleicht hätte Franziska dem Wunsch der Großmutter nachgegeben, doch ausgerechnet in dieser Nacht spürte sie vor dem Einschlafen zum ersten Mal ihr Kind. Es war mehr ein schüchternes Zappeln als ein Treten. Das Gefühl aber war wunderbar und beglückend.

Für Franziska änderte sich plötzlich alles. Da ging es nicht um abstrakte und eitle Begriffe wie Anstand und Familienehre. Es ging auch nicht um Probleme und Geld. Es ging um ein Menschenleben, um ihr Kind. Nun waren plötzlich die Beschützerinstinkte einer Mutter geweckt, die ihr eine neue, ganz unbekannte Kraft verliehen. Sie streichelte ihren Bauch und ihr Kind darin. Dann schlief sie mit einem Lächeln ein.

Als an Silvester ihre Mutter sie zwischen Kartoffelsalat und Bleigießen ein letztes Mal beiseite nahm und in sie drang, ob sie nicht doch nach Holland fahren wolle … Es sei doch, bei Licht betrachtet, das Beste und allein schon aus Respekt gegenüber der Großmutter, der man so viel verdanke …

Es kam zum Eklat. Franziska gab der Großmutter das Geld zurück, packte ein kleines Köfferchen und verließ türschlagend das Haus. Ihre Freundin Eleonore nahm sie auf, und ein paar Tage kam sie dort unter. Am Dienstag, dem 7. Januar 1958, bezog sie in einer säuerlich riechenden Wohnung in der Maxvorstadt ein winziges Zimmerchen. Als sie ihre restlichen Sachen holte, drohte ihr ihre Großmutter: »Wenn du nun gehst, Franziska, dann gibt es für dich kein Zurück mehr!«

»Ach, Franzi, besinn dich doch!«, jammerte ihre Mutter. »Denk doch auch ein wenig an mich!«

Franziska musste sich vom Griff ihrer Mutter losreißen.

»Ich dachte, wenigstens du verstehst mich!«

»Natürlich verstehe ich dich. Doch ich glaube wirklich, du bist im Unrecht. Und was soll dann aus mir werden?«

»Und was soll aus deinem Enkelkind werden? Aber ich hab dich lieb, trotz allem«, sagte Franziska, dann zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.

Hopfenbitter

Подняться наверх