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Deutsche Geschichte
ОглавлениеMit England trat ein gefestigter liberal-aristokratischer Nationalstaat der französischen Herausforderung entgegen, in Deutschland trafen die Burke’schen Gedanken auf die Agonie des alten Reiches mit seinen spätfeudalen Traditionen. Aus dieser »Ungleichzeitigkeit« der historischen Entwicklung in England und Deutschland folgte eine unterschiedliche Ausprägung konservativer Gedanken in beiden Ländern. Die deutsche Neigung zu politischer Romantik, zur theoretischen Rekonstruktion einer Gesellschaft aus dem christlichen Mittelalter, zum »Zu-Ende-Denken« der konservativen Impulse, waren der von Burke begründeten protestantisch-konservativen Tradition fremd und blieben es dem britischen Konservativismus bis in unsere Tage. In Deutschland, Frankreich und Spanien, wo die Französische Revolution durch Napoleon zur Herrschaft gelangte, gab es schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tendenzen eines katholisch-konservativen Absolutismus, der den irrationalen Gegenentwurf wagte und damit in den gleichen Fehler wie die Französische Revolution verfiel.
Der Kampf gegen Napoleon wurde zum Kampf gegen »westliche Überfremdung«. Mit der Erhebung der Völker gegen den Korsen begannen alte politische und geistige Verbindungen zwischen West- und Mitteleuropa abzureißen. Der Übergang zur Romantik und die Entwicklung von der Aufklärung zur idealistischen Metaphysik ließen das Staatsdenken Deutschlands auf eine isolationistische Bahn geraten. So verteidigte Hegel die Vernunft gegen den Verstand, Adam Müller die Idee gegen den Begriff. Im 20. Jahrhundert nennt Ludwig Klages den Geist den Widersacher der Seele und Martin Heidegger die Vernunft den Widersacher des Denkens. Ein anarchischer, von den Institutionen losgelöster Freiheitsbegriff, die Idee vom organischen Staat, die Gleichsetzung von Staat und Nation und eine dynamischrelativistische Theorie geschichtlicher Abläufe verbanden sich in Deutschland zu einem explosiven philosophischen Gemisch, über das Heine warnend schrieb: »Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reich der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiet des Geistes stattgefunden. Der Gedanke selbst geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam dahergerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst ihr: Der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische Revolution wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.« Es war der Beginn des Weges, der nach Grillparzer von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität führt.
Nach 1870 ging in Deutschland der Konservativismus mit dem Nationalismus jene unheilige Allianz ein, die ihn schließlich in die Harzburger Front führte. Wahre Konservative wie der Preuße Fontane standen dieser Verbindung von Anfang an skeptisch gegenüber. Als der Diener Engelke die Preußenfarben vor dem Stechliner Herrenhaus durch schwarz-weiß-rot ersetzen will, sperrt sich der alte Dubslav von Stechlin: »Lass. Ich bin nicht dafür. Das alte Schwarz und Weiß hält gerade noch; aber wenn du was Rotes drannähst, dann reißt es gewiss.« Mit der Reichsgründung verlor Preußen seine identitätsstiftende Kraft, die von der preußischen Aufklärung über die Stein-Hardenberg’schen Reformen bis zum preußischen Klassizismus gereicht hatte. »Preußens Eliten hatten sich im Siege gewissermaßen selbst verloren. Preußen, der harte Rationalstaat des 18. Jahrhunderts, erwies sich als unvereinbar mit dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Preußen hat den Nationalstaat noch begründen, aber nicht mehr prägen können.« (Michael Stürmer) König Wilhelm I. hatte dies instinktiv erfasst, als er am Vorabend der Kaiserproklamation seinem Kanzler unter Tränen bekannte: »Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens. Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe.«
Dem neuen Deutschland gelang es nicht, die Bismarck’sche Reichsgründung durch eine gesellschaftliche Integrationsleistung zu ergänzen. Jede Großmacht braucht eine Rechtfertigung, um Anerkennung und nicht bloße Furcht zu wecken. Bismarcks Werk hatte wohl das Recht historischen Geschehens, aber keine Rechtfertigung im Zeichen einer Idee für sich. Das neue Reich appellierte nicht, wie Frankreich und England, an die Phantasie der Völker, an ihre Zukunftserwartung, ihren Menschheitsglauben. Es diente keinem werbenden Gedanken. Es stand für nichts, was über die bloße Staatlichkeit hinauswies. Deutscher-Sein enthielt kein Bekenntnis wie Engländer- oder Franzose-Sein; es besagte keinen Dienst an übernationalen Idealen, wie sie durch das christliche Königtum Frankreichs, dessen Zivilisationsidee die große Revolution später in verwandelter Form übernahm, und den Puritanismus repräsentiert wurden. Es war so falsch nicht, wenn Ernest Renan nach dem Deutsch-Französischen Krieg an David Friedrich Strauß schrieb: »Manche Völker hätten ehedem Siege errungen und Imperien gegründet: Spanier, Franzosen, Briten. Jedes Mal habe der politischen Herrschaft eine Ausstrahlung des Geistes entsprochen; der Welt, den Besiegten selbst hätten die Sieger etwas geboten durch ihre ordnende Kraft, ihren Glauben, ihre Kunst, ihren Stil. Dies sei nun das Erschreckende an dem deutschen Sieg: Neu-Deutschland zeige nur Macht, blanke, wirksame, schneidende Macht, ohne jede frohe Botschaft. Sein Triumph sei ein materieller und nichts weiter, und solche Triumphe brächten keinen Segen.« (Zitiert nach Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.) Die bürgerliche Gesellschaft des neuen Deutschen Reiches blieb deshalb eine »Gesellschaft ohne Selbstbewusstsein«. Der nationale Stolz, die Selbstgewissheit waren gebrechlicher als in England oder Frankreich. Verglichen mit dem Selbstbild eines Engländers, hatte ein Deutscher nur ein unbestimmtes Bild von seinem Land und von seinen nationalen Merkmalen. Es gab keinen »way of life«, der auf natürlich-gelassene Art bestimmte, was deutsch war. Die Identifikation fand über keine gemeinsame Weltanschauung, sondern über industrielle und soziale Errungenschaften statt. Das deutsche Selbstbild war im Alltagsleben mit keinem Verhaltenskanon verknüpft, es wurde an Fest- und Feiertagen wie in Krisenzeiten programmatisch entworfen und war damit auf ideologische Krücken angewiesen. Ein aggressiver Nationalismus war deshalb als gesellschaftliches Bindemittel wichtiger als in den alten Nationalstaaten Westeuropas.
Und da es eine geschlossene Nationalgeschichte, wie sie trotz aller Brüche in England und Frankreich in der »Whig Interpretation of History« wie in der Zivilisationsmission von Königtum und Revolution vorhanden ist, in Deutschland nach der verspäteten Einigung nicht geben konnte, musste die preußische Vergangenheit als identitätsstiftender ideologischer Steinbruch herhalten.