Читать книгу Der Trockene Tod - Alexander Köthe - Страница 11

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9 2 7 n a c h A n b r u c h

d e r N e u e n Z e i t

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2 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

d e r Z e i t d e r B l ü t e

N a c h t s


L u erwachte schweißgebadet mit einem Schrei auf den Lippen. Ruckartig setzte er sich kerzengerade auf, die Augen weit geöffnet.

Wo bin ich?

Ein schwacher Lichtschein fiel von oben auf ihn herab, sodass er seine nahe Umgebung wahrnehmen konnte, wenn auch nur seltsam verschwommen, wie durch Nebelschwaden. Alles, was weiter als zwei Ellen von ihm entfernt war, verschwand in tiefer, schwarzer, vollkommener Dunkelheit.

Aufs Äußerste angespannt wartete er ab. An Dunkelheit konnten sich Augen schließlich gewöhnen.

Die Schweißtropfen rannen seine Stirn hinunter. Mit dem Ärmel wischte er sie weg und atmete mehrere Male tief durch, um sich zu beruhigen.

Erst jetzt bemerkte er, dass sein Rücken höllisch schmerzte. Das Bett, auf dem er gestern Abend fast sofort eingeschlafen war, war verschwunden. Stattdessen spürte er unter sich harten Stein.

Als hätte die Erkenntnis sein Blickfeld erweitert, konnte er auf einmal überall um sich herum nackte, graue Felswände erahnen.

Eine Höhle? Aber wie bin ich hierher gekommen?

Lu versuchte aufzustehen. Doch sofort überkam ihn ein starkes Schwindelgefühl, dass ihn sofort wieder in die Knie zwang.

Er schloss die Augen und atmete erneut mehrere Male tief ein und aus.

Ganz ruhig …

Langsam verschwand der unangenehme Schwindel.

Als Lu sich stark genug fühlte, stand er auf, öffnete seine Augen und musste sie gleich darauf wieder zusammenpressen, so sehr blendete ihn das grelle Licht der Mittagssonne. Schützend hielt er die Hände vor sein Gesicht und wartete einige Augenblicke, bis sich seine Augen an den krassen Unterschied zur eben noch herrschenden Dunkelheit gewöhnt hatten.

Was geht hier vor?

In Lus Kopf herrschte ein unendliches, bizarres Durcheinander. Zwanghaft versuchte er sich zu Fokussieren, ohne dass es ihm gelang. Nicht einen klaren Gedanken vermochte er zu greifen, sodass er seine Umwelt, das Hier und Jetzt, zwar erfassen, aber nicht verstehen konnte.

Lu blickte auf eine sonnendurchflutete Lichtung inmitten eines dichten Waldes. Ein paar kleine Schnapper sprangen über eine weite Grasebene. Die Sonne verbrannte die Echsen und sie zerflossen zu Rauch, der sich schnell im Wind verflüchtigte.

Lu machte einige Schritte, trat hinaus auf die Lichtung und spürte das weiche Gras unter seinen nackten Füßen. Es war saftig grün und erfüllte die Luft mit einem angenehmen Geruch.

Die Sonne schien hell an diesem Tag und der Himmel war ein einziges wolkenloses, wunderschönes Blau. Eine sanfte Brise wehte durch sein Haar. Lu bewegte sich wie auf Wolken, Schritt für Schritt auf das Zentrum der Lichtung zu, während ihn die wohltuenden Strahlen der Sonne angenehm wärmten.

Hinter Lu erklingt plötzlich ein lautes Krächzen. Er dreht sich - von der einen auf die andere Sekunde aus seiner wohligen Lethargie gerissen - ruckartig rum, stolpert und fällt der Länge nach in den Staub des ausgetrockneten Bodens.

Auf dem Rücken liegend, blickt er in einen düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Nur ein ungewöhnlich großer Rabe, der über ihm seine Kreise zieht, hebt sich vom Firmament ab.

Plötzlich spürt er eine beißende Kälte und den reißenden Wind an seinen Gliedern zerren.

Aufs Äußerste verstört, richtet Lu seinen Oberkörper auf, blickt sich um. Und was er sieht, lässt das letzte bisschen Wärme aus seinem Inneren entweichen.

Halb zur Seite gedreht, sitzt er starr, gelähmt, ohne zu atmen, und blickt auf die vermoderte Leiche von Benem.

Die Wunde an seinem linken Arm ist deutlich sichtbar. Gelb-brauner Eiter fließt aus ihr heraus.

Der rechte Arm ist am Ellenbogen abgetrennt. Der Stumpf endet in blutigen Fleischfetzen.

Seine Augäpfel fehlen und Lu kann sich bildlich vorstellen, wer sich über die Leiche hergemacht, ihren kräftigen Schnabel in ihr Gesicht gehackt und ihm die Augen entrissen hat.

Wie zur Bestätigung erklingt über ihm das laute Krächzen eines großen, tiefschwarzen Raben.

In Lu steigt Übelkeit auf. Seine Eingeweide verkrampfen sich.

Plötzlich packt eine halb verweste Hand sein linkes Bein. Verrottetes Fleisch und blanke Knochen umklammern es mit unmenschlicher Kraft. Der Untote versucht, sich zu ihm zu ziehen.

Lu schreit. Angst und Panik machen sich in ihm breit.

Der Untote kommt näher.

Lu blickt in die leeren Augenhöhlen von Benems Kopf, der sich leicht erhoben zu ihm wendet. Der grässliche Mund der widernatürlichen Kreatur bewegt sich. Lu kann unter dem verwesten Fleisch Muskelstränge und Teile des Kiefers erkennen.

Verzweifelt versucht er, sein Bein aus der untoten Klaue zu lösen.

Vergeblich.

Benem ist ihm jetzt ganz nah.

Mit einem gewaltigen Ruck löst sich Lu aus seiner Schreckensstarre. Er packt den Arm des Untoten mit beiden Händen und reißt ihn mit infernalischer Kraft nach oben - weg von seinem Bein.

Ein lautes Peitschen ertönt. Sehnen reißen, Knochen bersten und das morsche Fleisch löst sich.

Er ist frei.

Blitzschnell springt er auf, aber taumelt, fällt und landet wieder auf dem harten, kalten Boden, nur wenige Schritte entfernt von der jetzt Arm-losen Leiche.

Der Untote wimmert vor Schmerz.

Plötzlich durchbricht ein greller Lichtstrahl den dunklen Himmel. Es ist totenstill. Nur die grässlichen Geräusche Benems, der Kraft seiner toten Beine sein verwestes Fleisch über den trockenen braunen Boden - hin zu Lu - schleift, zerstören die unendliche Stille.

Lu wird geblendet. Das Licht sticht durch den dunklen Himmel wie die rettende Hand eines Gottes, der seinen Segen gen Erde schickt, um das Böse zu vertreiben.

In Lu keimt eine Spur der Hoffnung.

Plötzlich ein greller Blitz. Ein Feuerwerk aus reinem Licht zerplatzt.

Daraus hervor tritt eine Gestalt, ganz in weiße Tücher gehüllt. Sie ist weiblich und wunderschön. Ihr langes goldenes Haar hängt in sinnlichen Schwüngen ihren Rücken hinab. Ihre Augen haben die Farbe eines klaren, wolkenlosen Himmels und die Tiefe des südlichen Meeres. Ihr Mund, ihre vollen Lippen verkörpern alles, was Lu je als begehrenswert empfunden hat. Sie ist die personifizierte Schönheit.

Langsam kommt die Frau auf Lu zu. Sie schreitet nicht, sondern schwebt, umgeben vom Glanz ihrer bläulichen Aura.

Lu kann den Blick nicht von ihr wenden. Auch die nahen schleifenden Geräusche scheinen in weiter Ferne, interessieren ihn nicht.

Die Göttin ist ihm jetzt ganz nah. Sie streckt ihre zierliche weiche Hand nach ihm aus und berührt sanft sein Kinn.

Ihr Kopf ist nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Er spürt ihren sanften Atem auf seinem Gesicht und wünscht sich nichts sehnlicher als ihre Lippen mit seinen zu vereinen.

Langsam bewegt Lu seinen Mund auf ihren zu. Aber die Frau stößt seinen Kopf sanft zur Seite und legt ihren Mund ganz nahe an sein Ohr.

“Ich erkenne dich.

Mein kleiner lieber Junge.

Du bist gekommen, um mich zu töten?”

Ein grauenhaftes, dissonantes, dämonisches Lachen, das nicht der Kehle eines Menschen entspringt, zerreißt die Nacht.

Lu erschrickt, erwacht wie aus einem Bann.

Die Erkenntnis trifft ihn hart wie ein Donnerschlag. Er stößt sich weg von der Kreatur, von IHR - Lijerah - und blickt in pupillenlose, gänzlich tiefschwarze Augen.

Ein fauliger Atem geht von ihr aus.

Sie öffnet den Mund, ein Maul voller spitzer Reißzähne.

Lu will fliehen, doch ein unbeschreiblicher Schmerz in seinem linken Unterschenkel zwingt ihn zu Boden.

Die schrecklichen Kiefer des Untoten haben sich tief in sein Fleisch gegraben.

Benem hat ihn erreicht, ist bei ihm, über ihm. Der Verwesungsgestank raubt ihm den Atem.

Lu schreit, versucht, Benem von sich zu zerren.

Ohne Erfolg.

Der Untote ist dort, wo er sein wollte, sein Maul nur wenige Zentimeter von Lus Hals entfernt.

Er öffnet es und fletscht die verfaulten Zähne.

Ein letzter schrecklicher Schrei …

Aber der Schmerz bleibt aus.

Benem liegt auf ihm. Sein verwestes Fleisch klebt an Lus Kleidung. Die leeren Augenhöhlen starren ihn an.

Die Kiefer des Untoten bewegen sich. Trotz der unmenschlichen Laute kann Lu klare, verzweifelte Worte verstehen.

“Sie ist das Böse. Sie hat mir das angetan. Bitte, hilf mir!”

Benems letzte Worte ersterben in einem schaurigen, erstickten Krächzen. Der Untote löst sich auf, wird zu Staub, den der Wind fortträgt.

Lu ist frei.

Er springt auf. Seine Augen suchen SIE. Aber es ist niemand mehr da.

Lu ist alleine. Um ihn herum nichts als tote Erde.

Dann ein lautes Krächzen.

Er blickt gen Himmel und sieht einen großen tiefschwarzen Raben, der nach Osten fliegt.

Der Trockene Tod

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