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9 2 7 n a c h A n b r u c h

d e r N e u e n Z e i t

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1 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

d e r Z e i t d e r B l ü t e

F r ü h e r M i t t a g

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I s t e n d a h / M a r k t v i e r t e l


Es war ein warmer, aber regnerischer Tag. Nichts Ungewöhnliches für die beginnende ‘Zeit der Blüte’. Luhni Mahjos saß in einem der zahlreichen Gasthäuser des Marktviertels Istendahs, trank braunen Kertush mit Ziegenmilch und viel Zucker und blickte gebannt durch eines der trüben Fenster nach draußen. Er war erst vor wenigen Stunden in der ‘Stadt der Weisen’, wie Istendah stets von seinem Vater genannt wurde, angekommen. Gereist war er mit einem der modernen Schiffe, die weder Wind noch elektrische Energie benötigten, sondern rein mit Wasserdruck angetrieben wurden.

Eine faszinierende neue Technik, dachte er.

Lu liebte die Ferne, das Abenteuer, aber hasste das Reisen, zumindest die gewöhnliche Art zu Pferd. Genauer gesagt mochte vor allem sein Hintern das Reiten so gar nicht und machte dies durch starke, anhaltende Schmerzen sehr deutlich. Deshalb reiste Lu meist modern mit einem motorisierten Reisemobil oder dem Schiff, wobei Letzteres der schnellere Weg von Talberg nach Istendah gewesen war, weshalb er sich dafür entschieden hatte.

Noch etwas erschöpft von den Strapazen der Reise, versuchte Lu durch das schmutzige Fensterglas etwas von dem Leben dort draußen zu erhaschen. Aber der Regen ergoss sich so stark, dass er nichts als vage Umrisse erkennen konnte. Doch was er nicht sehen konnte, das fügte seine Fantasie hinzu.

Was ist das da hinten? Ein Gift-Erjon? … Nein, das kann nicht sein, denn diese Art widernatürlicher Wesen, die eindeutig zu den gefährlichen zählte, gab es nur im hohen Norden Danariens und nicht im Herzen Sdotriens.

Oder dort. Ein ‘Dämonischer Ozúhl’?

Kaum sichtbar. Nur den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar.

Nein.

Es war alles nur seiner Fantasie entsprungen und sonst nichts. Das hoffte er zumindest.

Was für ein Blödsinn, dachte er. Oh ja, er wusste, dass es mehr gab auf dieser Welt als das, was die meisten Menschen sehen konnten - oder wollten. Aber das bedeutete nicht, dass er in jedem Schatten ein widernatürliches Wesen, in jedem eisigen Windhauch einen fliegenden Gorgundol sehen musste. Nein, das war nun wirklich übertrieben und nicht nur das: Es war gefährlich. Verlor er den klaren Blick für das Widernatürliche, das Wahre und Wesentliche und ließ es zu, dass seine Fantasie die Führung übernahm, so würde er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen, versagte sein Geist in einer wirklich gefährlichen Situation.

Luhni Mahjos trank einen Schluck seines schon halb erkalteten Kertushs - so mochte er ihn am liebsten -, setzte die Keramik-Tasse ab und starrte auf die sanften Wellen der dunkelbraunen Flüssigkeit. Die seicht wogenden Bewegungen wirkten beruhigend und erinnerten Lu an seine Reise über das Westmeer. Für einen kurzen Moment verlor er sich in Gedanken und träumte von einem tiefen, braun-leuchtenden Ozean, in dem die ganze Welt versank.

Er lächelte.

Wie war das doch gleich mit der Fantasie?

Sein Blick glitt zurück in die Wirklichkeit und damit auf das ihm gegenüberliegende stumpfe Fenster.

Nun ja, die Welt versinkt zwar, aber nicht in braunem Kertush, sondern im Regen.

Je länger er nach draußen in die unwirkliche Welt blickte, desto mehr ergriff ihn ein Gefühl der Unruhe. Das sich in den Millionen und Abermillionen Regentropfen brechende Licht gaukelte ihm unheimliche Bewegungen vor, die die Tropfen zu etwas Lebendigem machten. Seltsame Gestalten entstanden und zerflossen, nur um sich zu noch bizarreren Konturen neu zu formieren, die sich stets, kurz bevor Lu sie wirklich fassen konnte, erneut auflösten.

Dennoch: Etwas ist dort draußen. Etwas Grausames. Etwas Widernatürliches. Etwas Tödliches. SIE. ES.

“Mehr Kertush?”

Die Stimme drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr, so leise, dass er die Frage der Oberin beinahe gar nicht wahrgenommen hätte. Dennoch riss sie ihn aus seinem Bann. Sein Blick ließ vom Fenster ab.

“Mehr Kertush, der Herr?”

Lu blickte in ein junges, freundliches Gesicht, dass ihn fragend ansah. Die Oberin begegnete ihm mit einem Schmunzeln, was ihn im Unklaren darüber ließ, ob sie ihn an- oder für einen Trottel hielt und auslachte.

“Könnt ihr mich verstehen?”

Lu lächelte entschuldigend und fand endgültig zurück ins Hier und Jetzt.

“Tut mir leid. Ja, ich spreche die ‘Sprache der Ostlande’.”

Die ‘Sprache der Ostlande’, die nicht nur in Istendah, sondern auf dem gesamten Ost-Kontinent gesprochen wurde, bestand aus einer Wort-Mischung zahlreicher vergangener Landessprachen aus der ‘Alten Zeit’, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer allgemeingültigen Ausdrucksweise zusammengefügt hatte.

“Eure erste Frage muss ich allerdings verneinen. Keinen Kertush mehr für mich. Vielen Dank. Wie viel Münzen kriegt ihr?”

Bevor die Oberin antworten konnte, schrie eine ältere, tiefe Männerstimme von weiter hinten im Gasthaus.

“Hey Emmarita, scha … sch … schaff dein w … ww … wunderhübschen Arsch hierher. De … dr Wein is leer!”

Die Oberin verdrehte die Augen, blickte Lu entschuldigend an und wandte sich um, um dem Schreihals seinen Wunsch zu erfüllen. Scheinbar handelte es sich um einen Stammgast, der es gewohnt war, stets sofort bedient zu werden. Und wie Lu an seiner matschigen Aussprache erkannt hatte, war es auch nicht der erste leere Krug Wein, vor dem er an diesem Tag saß.

Als die Oberin zurückkam, verlangte sie zwei dreieckige Builas für den Kertush. Lu beglich die Rechnung und fragte mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen:

“Bekommt der Kerl immer sofort, was er will?”

“Ach, das ist nur Benem. Er kommt jeden Tag, betrinkt sich und geht wieder. Er ist vielleicht ein bisschen grob, aber im Grunde genommen ein guter Kerl. Hat viel durchgemacht, bevor Istendah zu der Stadt wurde, die sie heute ist.”

Lu nickte, um ihr zu bedeuten, dass er verstanden hatte. Es waren harte Zeiten gewesen, bevor der ‘Große Umbruch’ Istendah zu einem besonderen Ort des Wissens, der Technik, der Kultur und auch der Gesellschaft gemacht hatte.

Istendah war speziell, anders, faszinierend, inspirierend. Die Bewohner der Stadt und ihrer Außenbezirke arbeiteten nicht für sich, nicht für Geld, sondern für die Stadt selbst. Jeder übte seinen Beruf aus und bekam dafür einen Anteil an dem Geschaffenen, sei es Essen, Trinken, Kleidung, ein Pferd, Hausrat oder sonstige Güter. Der Besuch öffentlicher Bäder, Ärzte und auch die Bewirtung in Gasthäusern kostete die Einheimischen nicht einen Sen’se. Fremde hingegen mussten für alles bezahlen.

Der Überschuss an den durch die Bewohner Istendahs geschaffenen Gütern wurde exportiert. Es entstand ein florierender Handel, durch den Istendah eine wohlhabende Stadt wurde. Und eben dieser Wohlstand wurde auch in Form von Geld an die Bevölkerung weitergegeben. Jeder Bürger bekam seinen Anteil, von dem er sich bei fremdländischen Händlern Waren kaufen konnte, die es in Istendah selbst nicht gab. Oder man gönnte sich Luxuswaren bei innerstädtischen Kaufleuten wie Schmuck, Waffen oder Alkohol, die auch von Einheimischen bezahlt werden mussten.

Der allgemeine Wohlstand zog viele Menschen und andere intelligente Lebewesen höheren Standes, Gelehrte und Intellektuelle an. Bibliotheken und Universitäten wurden errichtet, ganze Bücherbestände anderer Orte des Wissens, ganze Sammlungen technischer Geräte, Maschinen und Waffen der ‘Alten Zeit’ aufgekauft. Die Stadt wuchs und gedieh und wurde zum Zentrum des Wissens und des Fortschritts der ‘Neuen Zeit’.

Als die Oberin gegangen war, stand Lu auf, nahm seine kurze, schwarze Jacke aus Riesenwildschweinhaut, streifte sie über und trat hinaus in den strömenden Regen Istendahs.

Der Trockene Tod

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