Читать книгу Der Trockene Tod - Alexander Köthe - Страница 13
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d e r N e u e n Z e i t
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2 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t
d e r Z e i t d e r B l ü t e
A m M o r g e n
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I s t e n d a h / F ö r F r e m d i g a r
Es war erst wenige Minuten her, da die ersten sanften Lichtstrahlen begonnen hatten, die Dunkelheit zu vertreiben. Doch noch hatte das Licht nicht gewonnen. Es gewann zwar an Kraft, aber die Schatten wehrten sich vehement und noch erfolgreich.
Dies geschah jeden Tag und stets hatte das Licht den Kampf gegen die Dunkelheit gewonnen. Wann würde der Zeitpunkt kommen, da das Licht unterlag?
…
Luhni Mahjos erwachte ruckartig mit einem Schrei auf den Lippen und setzte sich kerzengerade auf. Er hatte geträumt - von IHR. Wieder.
Mit vor Aufregung unruhig klopfendem Herzen musterte er seine Umgebung. Er lag auf einer zu harten Matratze in einem hölzernen Bett, das in einem kleinen Zimmer stand, dass er gestern am Abend im ‘För Fremdigar’ gemietet hatte.
Lu gab einen erleichterten Seufzer von sich.
Keine Höhle.
Die Herberge, ein weitläufiges zweistöckiges Gebäude aus weißen Backsteinen mit großen, schwarz gestrichenen Kunststoff-Sprossenfenstern, lag am Rande des Hafenviertels, nahe des Flusses Sanzea, am Übergang zum Marktviertel und damit in aussichtsreicher Position, viele fremdländischen Gäste aufzunehmen, die Istendah besuchten.
Als Lu eingetroffen war, hatte der schwarze Schornstein, der einsam auf dem mit roten Tonziegeln gedeckten Satteldach stand, weiß-gräulichen Rauch ausgestoßen. Ein seltener Anblick.
Durch das Dachfenster seines Zimmers traten die ersten Sonnenstrahlen und blendeten ihn. Es musste noch sehr früh am Morgen sein.
Lu sah einige Schnapper, die auf dem Dach der Herberge herum sprangen und nach einem leckeren Frühstück Ausschau hielten. Sofort erinnerte er sich an den gestrigen Abend, an Schnapper, die sich über einen grausam entstellten Körper hergemacht und große Fleischstücke aus der geschundenen Leiche gerissen hatten, ohne dass er es hatte verhindern können.
Die Erinnerungen trübten sein Gemüt, aber er wusste, dass er richtig gehandelt hatte, um sich selbst zu schützen.
Gestern Abend, nachdem er den Tatort verlassen hatte, war Lu zur Hafenmeisterei Istendahs gelaufen, wo er sein Reisegepäck seit seiner Ankunft am Morgen deponiert hatte. Der Hafenmeister selbst war nicht mehr da gewesen, aber sein Vorarbeiter hatte ihm die Sachen ausgehändigt und angeboten, sie von seinem Laufburschen zur Herberge bringen zu lassen, was Lu dankend angenommen hatte.
Beim ‘För Fremdigar’ hatte er dem Burschen, Jako, ein ordentliches Trinkgeld gegeben, nicht nur wegen des Transports seiner Sachen, sondern weil Jako ihm auch darüber hinaus seine Hilfe angeboten hatte, zum Beispiel als Fremdenführer oder für Besorgungen. Und jemanden wie Jako, einen kräftigen Burschen, der sich zudem auch noch ausgezeichnet in Istendah auskannte, konnte Lu womöglich früher oder später tatsächlich gebrauchen.
Nach einem schnellen Nachtmahl, bestehend aus Eintopf mit Möhren, Knollengemüse und ein paar Stücken undefinierbaren Fleisches, war Lu sofort auf sein Zimmer gegangen, hatte die einmal komplett durchnässten und wieder getrockneten Kleider über einen Stuhl gehängt, sich aufs Bett geschmissen und war nach den wahrhaft anstrengenden Geschehnissen des Tages fast sofort eingeschlafen.
Langsam schwang Lu seine Beine vom Bett, gähnte noch einmal ausgiebig und ließ seinen Blick durch sein kleines Reich schweifen, was mindestens für die nächsten paar Tage sein zu Hause sein würde.
Das Zimmer im ersten Stock der Herberge war nur spärlich eingerichtet. Neben zwei einzelnen Betten ergänzte ein kleiner hölzerner Tisch mit zwei braunen Plastikstühlen und ein Metall-Schrank, dem eine Tür fehlte, das Mobiliar. Zudem gab es ein kleines Beistelltischchen, auf dem eine billige Vase mit einigen halb vertrockneten Kräutern stand.
Im Nebenraum befand sich ein kleines Bad mit Toilette, Waschbecken und einer kupfernen, beheizbaren Wanne.
Lu grinste.
Standard für das moderne Istendah.
Er ging zum Waschbecken und drehte an einem kleinen eisernen Rad. Lauwarmes Wasser sprudelte daraufhin aus einem dünnen Rohr, das aus der Wand heraus ragte. Lu tauchte seine zur Schale geformten Hände hinein und wusch sein Gesicht. Gleichzeitig versuchte er, seine Gedanken an den Albtraum von letzter Nacht, seine Gedanken an SIE, wegzuwischen.
Ohne Erfolg.
Lu benetzte ein letztes Mal sein müdes Gesicht und strich dabei über eine kleine Narbe an seinem Hals.
Ein Wunder, dass ich in all den Kämpfen gegen die Kreaturen des Widernatürliche nur diese eine Narbe davongetragen habe.
Verletzt wurde Lu schon oft, meist leicht, selten wirklich schwer, aber die Wunden waren alle gut verheilt, zumindest die Körperlichen. Die Seelischen würden wohl nie gänzlich vergehen.
Immer noch gedanklich an seinen Albtraum gefesselt, zog Lu seine dunkelbraune Hose aus Spireos-Echsenleder, verstärkt mit Keweler-Stoff, der quasi undurchdringbar für fast alle Arten von Waffen war, seine schwarzen Stiefel und ein gleichfarbiges Baumwollhemd an. Dann schnallte er seinen breiten, braunen Ledergürtel um, griff seine schwarze Jacke aus Riesenwildschweinhaut, öffnete die Tür und betrat einen mit blauem Teppich ausgelegten Gang. Dieser endete bei einer schmalen hölzernen Treppe, die ihn hinunter zum Schankraum führte, wo er sich ein ordentliches Frühstück genehmigen wollte.
Als Lu seinen Fuß auf die letzte Treppenstufe setzte, knickte sein Bein plötzlich unter ihm weg. Schlagartig durchfuhr ein grässlicher Schmerz seinen linken Unterschenkel, gleich einer glühenden Eisenzange, die mit unmenschlicher Gewalt sein Bein erbarmungslos umschloss.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sich Lu humpelnd in den Speiseraum und setzte sich an den ersten freien Tisch auf einen grünen Plastikstuhl. Sofort umfasste er sein Bein mit beiden Händen, zog die Hose hoch und erschauderte.
Sein linker Unterschenkel war ringförmig von blauen Flecken umschlossen, wie wenn er über Nacht eine zu enge Beinfessel getragen hätte oder …
Lu erschrak, als ihm die Details seines Albtraums ins Bewusstsein flossen.
… wie wenn sich jemand - oder etwas - krampfhaft an sein Bein geklammert und es mit der Kraft eiserner Schraubzwingen festgehalten hätte.
Benem!
Er betrachtete die Verletzung etwas genauer und strich mit der rechten Hand darüber. Es tat weh. Nicht sehr, aber doch merklich.
Das, was ihm letzte Nacht passiert war, musste mehr gewesen sein als ein normaler Traum.
Aber was?
Seine Gedanken wurden durch die fröhlichen Worte der Oberin unterbrochen, die ihm einen guten Morgen wünschte. Lu bestellte Frühstück, woraufhin die Oberin mit einem Lächeln verschwand, um ihm kurz darauf ein reichliches Morgenmahl, bestehend aus Echsen-Eiern mit Gator-Speck, Brot, einem guten Stück kaltem Ziegenbraten und Ziegenmilch zu servieren.
Mit großen Augen blickte er auf den reichlich gedeckten Tisch vor sich.
“Wow, danke!”, sagte Lu begeistert mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er hatte mächtigen Hunger.
Die Oberin lächelte zurück und ließ ihn in Ruhe sein Frühstück genießen. Im Gegensatz zu dem traurigen Eintopf von gestern schmeckte das Essen wirklich hervorragend. Besonders der kalte Braten und der Gator-Speck waren so gut, dass Lu gar nicht bemerkte, dass sich die Fesseln an seinen Albtraum gelöst hatten.
Während er genüsslich und ausgiebig aß und trank, blickte er sich im Schankraum des ‘För Fremdigar’ um. Lu befand sich in einem ausladenden Raum, in dem zahlreiche kleine und größere hölzerne Tische standen, an denen braune, grüne und weiße Plastikstühle ordentlich angerichtet waren. Im vorderen Teil, nahe der hölzernen weißen Eingangstür, befand sich eine lang gezogene leicht gebogene Theke aus breiten Stücken blank poliertem Metalls, die mit schwarzen Nieten miteinander verbunden waren.
Neben der Theke stand ein hoher und breiter mechanischer Automat aus grauem Metall, aus dem sich ein Einheimischer gerade frisch gemahlenen braunen Kertush zapfte, indem er seinen Stadtausweis vor einen kleinen Sensor hielt. Außerdem spendete der Automat auf Wunsch Wasser, Tee und süßen Dornbeerensaft. Ein sehr modernes technisches Gerät, das wahrscheinlich nur wenige Gasthäuser in Istendah besaßen.
Der gesamte Boden des Speiseraums war mit hellen hölzernen Bohlen ausgelegt. Von der weiß gestrichenen Decke hingen große schwarze elektrische Lampen.
Ungefähr in der Mitte des Raumes befand sich ein echter alter Kohlekamin, der jetzt am Morgen jedoch aus war. Lu vermutete, dass er abends, wenn die Gäste ihren Feierabend genossen, angezündet wurde, um eine gemütliche, heimelige Atmosphäre zu schaffen. Zum Heizen diente der Kamin jedenfalls nicht, denn das erledigten deutlich sichtbare Radiatorrohre aus reinem Silber, die an den bis zur halben Deckenhöhe weiß vertäfelten Wänden entlang liefen.
Früher einmal war Silber wertvoll gewesen, zwar nur mäßig, aber immerhin wertvoll. Aber seit man in den ‘Rodesischen Bergen’, nahe der Stadt Rodesia, riesige Vorkommen gefunden hatte, war das Metall nicht mehr wert als dieselbe Menge herkömmliches Eisen.
Lu trank den Rest seiner Ziegenmilch und stellte den leeren Becher auf den hölzernen Tisch. Satt und glücklich erhob er sich von seinem Stuhl.
Sofort schoss ein leichter, stechender Schmerz durch sein linkes Bein, der die wohlige Blase platzen und ihn zurück in die harte Realität fallen ließ.
Verdammter Mist!
Nur vorsichtig auftretend, wollte Lu gerade zurück auf sein Zimmer gehen, wo eine wunderbare beheizbare Kupferwanne auf ihn wartete, als drei Männer lautstark den Schankraum betraten. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, gehörten sie zur hiesigen Stadtwache. Sie trugen dunkelblaue Uniformröcke mit goldenen Knöpfen und Streifen an Hüfte und Ärmelenden und königsrotem Innenfutter, was durch den Rockaufschlag unterhalb des Bauches deutlich zu sehen war. Auf ihren Schultern prangten goldfarbene Rangabzeichen. Dazu trugen sie dunkelblaue Hosen und schwarze, hohe, feste lederne Stiefel. Ihre Köpfe wurden von dunkelblauen Schirmmützen mit goldenem Band und dem Wappen Istendahs bedeckt, das den Carob Toran als Zeichen für Fortschritt und Wissen und den roten Krebs als Symbol für das Meer zeigte, welches die Bürger der Stadt schon seit Angedenken ernährte.
Im Gegensatz zu den blitzsauberen Uniformen wirkten deren Träger eher mau. Der vordere, ein mittelalter bärtiger Mann mit der Statur eines Bären und dem Aussehen eines ungewaschenen Wildschweins, schien der Hauptmann zu sein, was man unter anderem an seiner Uniform erkennen konnte, die von einer dicken goldenen Kordel an der rechten Schulter geziert wurde. An seinem breiten, schwarzen Ledergürtel trug er eine große, eiserne Stichwaffe, einen Säbel.
Die beiden einfachen Soldaten hinter ihm, beides noch junge und dürre Burschen, schulterten je eine silberne Zweihandgan, sehr seltene längliche Feuerwaffen aus der ‘Alten Zeit’, die Lu zum ersten Mal in behördlichem Dienst sah. Absolut tödlich.
Die Soldaten setzten sich an einen Tisch, der direkt vor einem der großen, schwarz gestrichenen Sprossenfenster stand, durch die die Sonne hell in den Schankraum schien. Normalerweise hätte Lu die Männer einfach ignoriert und wäre in froher Erwartung eines heißen Bades auf sein Zimmer gegangen. Aber die Worte des Hauptmanns ließen ihn innehalten.
Während dieser lauthals von einem Mord am Ufer der Sanzea berichtete und seinen beiden Frischlingen ausgiebig seine Theorien zu den Geschehnissen darlegte, setzte sich Lu scheinbar willkürlich an einen Nebentisch und lauschte gespannt dem intensiven Wortschwall.
Der bärtige Hauptmann wischte sich mit einem Stofftaschentuch einige Schweißtropfen von der Stirn, winkte die Oberin heran und bestellte einen großen Krug Schwarzbier samt drei Tonbechern. Die Oberin nickte nur und verschwand schnell hinter dem Schanktisch, nur um wenige Augenblicke später mit einem vollen Tablett in der Hand wieder hervorzukommen.
Lu erfasste die Situation blitzschnell und reagierte sofort. Bevor die Oberin den drei durstigen Männern ihr Schwarzbier bringen konnte, sprang er auf, fing die Oberin kurzerhand ab und nahm ihr das Tablett aus der Hand. Verschwörerisch zwinkerte er der verdutzten Frau zu.
Dann ließ er sich einen vierten Becher geben und lief, das Tablett mit beiden Händen fest umklammert, zu dem Tisch, an dem die drei Soldaten der Stadtwache schon sehnlichst auf die kühle Erfrischung warteten.
“Die Runde geht auf mich, meine Herren. Darf ich mich setzen?”
Alkohol galt in Istendah als Luxusgut und musste im Gegensatz zu den meisten anderen Getränken auch von den Einheimischen bezahlt werden. Den Soldaten ein Schwarzbier auszugeben würde ihm somit Tür und Tor öffnen und auch die Zungen der Anwesenden lösen. Das hoffte Lu zumindest.
Der Hauptmann der Stadtwache unterbrach seinen lautstarken Monolog abrupt und verstummte. Alle drei Soldaten richteten ihre erstaunten Blicke auf den Fremden, der an ihren Tisch getreten war.
Der bärtige Riese fixierte Lus Augen und schien nicht ganz zu wissen, was er von ihm und seinem Angebot halten sollte. Lu hatte das Gefühl, von einem Stilett durchbohrt zu werden. Der Hauptmann blickte nicht einfach in seine Augen, sondern durch sie hindurch, direkt in seine Seele.
Plötzlich lag eine gefährliche Spannung in der Luft. Lu meinte zu ahnen, dass der Bärtige gleich wutentbrannt hochfahren und auf ihn losgehen könnte.
Doch der Moment verstrich so schnell, wie er gekommen war. Der kantige Blick des Hauptmanns löste sich in einem Lachen auf.
“Jeder, der eine Runde gibt, ist bei mir willkommen. Also setzt euch, stellt die Becher auf den Tisch und schenkt ein.”
Genau das tat Lu. Als er fertig war, nahm er seinen Tonbecher, prostete den Männern zu und trank einen winzigen Schluck Schwarzbier, wobei er das Glas länger an seinem Mund ließ, als dafür notwendig war. Schließlich wollte er den Schein wahren, richtig mitzutrinken.
In Wahrheit hasste er Alkohol. Lu verstand zwar, dass sich Menschen und auch andere intelligente Lebewesen gerne die Sinne benebelten, zum Beispiel, um ihre Gedanken von dem eigenen Elend abzulenken. Er selbst weigerte sich aber normalerweise, jegliche Form von Getränken zu sich zu nehmen, die seinen Geist beeinflussten. Wahrscheinlich war er einfach schon in zu viele Situationen geraten, in denen er ohne die volle Funktionsfähigkeit seines Körpers, vor allem seines Kopfes, nicht überlebt hätte. Und eine solche Situation konnte jederzeit und überall auftreten.
Aber was tut man nicht alles, um ein paar Informationen zu bekommen.
Der Hauptmann der Stadtwache leerte seinen Becher in einem einzigen Zug, wobei ein guter Teil des Bieres den Mund verfehlte und seinen Bart besudelte, was ihm nichts auszumachen schien. Einen tiefen Rülpser später verlangte er Nachschub, wobei er Lu erwartungsvoll anstarrte.
Lu nahm den schon fast leeren Krug Schwarzbier und schenkte dem Bärtigen nach. Dieser nickte ihm dankend zu und wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Lu ihm das Wort abschnitt.
“Werte Herren, ich habe eben zufällig mitbekommen, wie ihr über eine Leiche gesprochen habt.”
Die drei Männer hielten in ihren Bewegungen inne und schauten Lu verdutzt und gleichzeitig voller Misstrauen an.
Lu mochte weder ausladende Floskeln noch langes Drumherumreden. Er stellte lieber auf direkte Art Fragen und bekam unerwartet oft eine passende Antwort. Vielleicht waren die überrumpelten Befragten - seiner aggressiven Offenheit wegen - einfach zu überrascht, um falsch oder gar nicht zu antworten. Auf jeden Fall hatte Lu durch seinen Stil schon die ein oder andere brisante oder gar geheime Information erhalten.
Da ihn der Hauptmann und seine beiden Grünschnäbel immer noch erstarrt anstierten, beschloss er, die Spannung nicht ausarten zu lassen, sondern seine Frage in eine kleine, beruhigende Lüge einzubetten.
“Es tut mir leid. Das Ganze geht mich natürlich nichts an, aber ihr müsst verstehen: Ich bin erst seit ein paar Tagen in Istendah und die Leute reden, wo auch immer ich hinkomme, nur von diesem einen Thema, den Morden. Ich möchte nur wissen, ob ich mich nachts überhaupt noch auf die Straße trauen kann.”
Der Bärtige war der Erste, der seine Worte wiederfand. Er prustete laut los, wohl, um seine Unsicherheit zu überspielen.
“Auf die Straße trauen könnt ihr euch schon. Ihr braucht lediglich ein reiches Waffenarsenal und Mumm für drei!”
Die beiden dürren Lappen lachten pflichtbewusst, genau wie Lu - anstandshalber.
Nur nicht die Stimmung kippen lassen.
Als das Lachen langsam abebbte, fragte Lu interessiert, aber bewusst beiläufig:
“Und jetzt mal im Ernst, die Herren? Wie siehts aus? Habt ihr schon eine Spur oder eine Ahnung, wer sich da draußen rumtreibt und Leute abmurkst?”
Das Grinsen des Bärtigen stoppte abrupt. Er kniff seine stechenden Augen fest zusammen und fixierte Lu erneut voller Misstrauen.
Es dauerte einige Herzschläge, bis der Hauptmann das angespannte Schweigen brach.
“Wer seid ihr, dass ihr so seltsame Fragen stellt? Man könnte meinen, ihr habt mehr Interesse an den Morden, als ein normaler Bürger haben sollte.”
In Lus Kopf arbeitete es. Seine Gedanken rasten. Blitzschnell versuchte er, die verschiedenen Vorgehensweisen abzuwägen.
Plan A: Sich für die Neugier entschuldigen, noch einen Krug Schwarzbier ausgeben und sich möglichst schnell verdrücken.
Plan B: Offensiv vorgehen.
Er entschied sich für Plan B und sagte mit fester, ernster Stimme:
“Mein Name ist Luhni Mahjos, Sohn des ‘Ersten Beraters’ des Stadthalters von Sahrip in Danarien.”
Den Titel seines Vaters erwähnte Lu nur, wenn er sich schnell Respekt verschaffen musste.
“Mein Job ist es, ungewöhnliche Geschehnisse aufzuklären, egal welcher Art. Ich habe im offiziellen Auftrag des Stadthalters von Grauheim in Mordfällen ermittelt, ebenso in Truhnheim, Takajan, Barkstadt und zahlreichen weiteren Orten, wenn die Kopfjäger versagten und die Stadtsoldaten und Inspektoren nicht weiterkamen.”
Lu machte eine kurze Pause, damit die Soldaten das Gehörte verarbeiten konnten.
“Nun bin ich hier in Istendah. Und wie es aussieht, könnte diese Stadt ebenso meine Hilfe gebrauchen.”
Lu griff in die Brusttasche seiner schwarzen Jacke und holte zwei zusammengefaltete Blätter gelblichen Papiers heraus. Im selben Moment erhob sich der bärtige Riese und breitete seine ganze Größe vor ihm aus. Er schien wenig beeindruckt von Lus Worten, schaute verärgert auf ihn hinab und überlegte womöglich, ob er den zu neugierigen Fremden nicht einfach ins Gefängnis werfen sollte.
Die Sekunden verstrichen in angespannter Stille. Nur ein kleiner Muskel unter dem rechten Auge des Hauptmanns zuckte ganz leicht. Dann öffnete sich plötzlich sein Mund und Lu hörte ihn zu seiner Überraschung fragen:
“Geht der nächste Krug auch auf euch?”
Vollkommen perplex brauchte Lu einige Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. Als er wieder ins Hier und Jetzt fand, sagte er:
“Äh, klar!
Hey, Oberin? Noch einen Krug Schwarzbier für die stattlichen Herren hier!”
Der Hauptmann grinste breit und setzte sich wieder auf seinen grünen Plastikstuhl, der unter seinem Gewicht bedenklich knarzte. Die Spannung löste sich.
Lu faltete die beiden Schriftstücke auseinander und überreichte sie dem Hauptmann. Es handelte sich um beglaubigte Dokumente aus dem merkanischen Grauheim und dem shinsundischen Takajan, die ihn als offiziellen Ermittler der Städte auswiesen, unterzeichnet von den jeweiligen Stadthaltern höchstpersönlich, die ihm für seine Verdienste dankten.
Während der Hauptmann las, murmelte er die geschriebenen Worte leise vor sich hin. Als er fertig war, gab er die Dokumente mit einem anerkennenden Nicken an Lu zurück. Jetzt schien er doch beeindruckt oder zumindest zufrieden gestellt, einen Gleichgesinnten, möglicherweise sogar einen Verbündeten an seinem Tisch zu wissen, einen behördlich anerkannten Ermittler. Er begann zu erzählen.
Sein Name war Marti Riderick, Hauptmann der Stadtwache, zuständig für das Hafenviertel Istendahs. Lu erfuhr, dass es sich bei allen fünf Mordopfern um Männer handelte. Stets wurden die leblosen Körper in seinem Revier - dem Hafenviertel - gefunden, dort, wo auch Benem ermordet worden war. Alle Leichen waren grausam verstümmelt und ihres Blutes beraubt entdeckt worden.
“Aber das ist noch nicht alles”, fuhr der Hauptmann der Stadtwache fort, nachdem auf Lus Geheiß der dritte Krug Schwarzbier serviert worden war.
“Wir haben fünf Tote. Dazu kommen noch acht vermisste Kinder!”
Lu erschrak. Gleichzeitig breitete sich in seinem Innern eine unendliche Erleichterung aus. So schrecklich die Situation auch war, so sicher konnte er sich jetzt sein, dass er der richtigen Spur nachgegangen war, dass richtige Monster verfolgt hatte. SIE!
Ermordete Männer, blutleer, verstümmelt.
Dazu entführte Kinder.
Das ist das Muster.
Das ist IHRE Handschrift.
…
Bist du es wirklich?
Riderick riss Lu aus seinen Gedanken.
“Alle Kinder sind innerhalb der letzten vierzehn Tage aus verschiedenen Stadtteilen verschwunden und bislang nicht wieder aufgetaucht. Das hat sogar die Aufmerksamkeit des Ministeriums erregt.”
Das ‘Sdotrische Ministerium’ in Istendah war das politische Zentrum, die höchste Instanz des ganzen Landes und kümmerte sich um die übergeordneten Themen Sdotriens. Es gab innenpolitische Abteilungen, die sich zum Beispiel um Gesetzes-, Bildungs- oder Gesundheitsangelegenheiten kümmerten.
Außenpolitisch erarbeitete es unter anderem Handelsabkommen, schloss Wirtschaftsverträge oder Koalitionen mit anderen Ländern. Auch militärische Belange gehörten zu den ministeriellen Aufgaben.
In Istendah selbst kümmerte sich das Ministerium vor allem um das Ansehen der Stadt, den Glanz, den sie ausstrahlte, ihre kulturelle Vielfalt und die zahlreichen Orte des Wissens.
Ein banaler Mord hingegen fiel in den Aufgabenbereich des Stadthalters und hatte für die höchste Instanz eine ähnlich große Bedeutung wie ein Rattenschiss in der Gosse. Wenn also schon das Ministerium den grauenhaften Untaten seine Aufmerksamkeit schenkte, musste die Situation von ganz oben als gravierend eingestuft worden sein.
“Das Ministerium hat sogar eine Belohnung ausgesetzt”, fuhr der Hauptmann fort.
“Wer den Mörder stellt, bekommt einen satten Beutel voller Münzen.”
“Und was ist mit den verschwundenen Kindern?”, erwiderte Lu gespannt.
“Nun, das ist ein anderer Fall. Müssen wir natürlich auch bearbeiten, aber die Morde haben Vorrang. Befehl von ganz oben.”
Marti Riderick schenkte sich auch noch den letzten Rest des Schwarzbieres ein, trank auf ex und gab einen satten Rülpser von sich. Mit erhobener Zornesstimme sagte er in zunehmend schwammiger Weise:
“Warum sucht sich dieses Pack auch immer den falschen Zeitpunkt aus!? Monatelang haben wir Ruhe vor dem Gesindel und dann meinen direkt zwei Irre gleichzeitig ihr Unwesen in Istendah treiben zu müssen!”
Lu wollte gerade zu einer weiteren Frage bezüglich der vermissten Kinder ansetzen, als sich Riderick erhob.
“Es ist Zeit. Wie ihr euch vorstellen könnt, haben wir eine Menge zu tun. Für das Bier sei gedankt.”
Der Hauptmann wandt sich zum Gehen, worauf seine beiden Anhängsel nachzogen. Zusammen verließen sie das ‘För Fremdigar’ und traten hinaus auf die Straßen Istendahs, die dieser Tage nicht nur unsicher waren, sondern Angst und Schrecken verbreiteten.
Lu saß alleine an dem hölzernen Tisch und blickte in seinen Tonbecher. Er hatte kaum etwas getrunken.
Ich war gut!
Er lächelte. So viele Informationen bereits am zweiten Tag zu erhalten, war in der Tat ungewöhnlich.
Fakt war: Diese Stadt brauchte Hilfe. Das Morden in Istendah würde zwar irgendwann von alleine aufhören, dafür aber an einem anderen Ort weitergehen.
Das kann und werde ich nicht zulassen! Diesmal nicht.
Wenn die Stadtwache wüsste, dass sie es höchstwahrscheinlich nicht mit fünf, sondern bereits mit dreizehn Toten zu tun hat.
Die entführten Kinder!
In den anderen Städten hatte die Bestie auch sie nicht am Leben gelassen.
Von wegen zwei Irre!
Es gibt nur einen Täter! SIE!
Lu stand auf. Seine Hand glitt unbewusst an seinem linken Bein hinab, tastete und fühlte. Es tat nicht mehr weh.