Читать книгу Der Trockene Tod - Alexander Köthe - Страница 7

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9 2 7 n a c h A n b r u c h

d e r N e u e n Z e i t

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1 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

d e r Z e i t d e r B l ü t e

S p ä t e r N a c h m i t t a g

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I s t e n d a h


Luhni Mahjos wurde klitschnass.

Den ganzen Nachmittag war er durch die Straßen Istendhas gestreift, um sich einen Überblick über die Stadt zu verschaffen, die er bislang nur von Geschichten her kannte, die irgendwelche fahrenden Händler oder Kuriere im nächstbesten Wirtshaus preisgaben, gab man ihnen nur genug Wein oder Schwarzbier zu trinken. Aber was seine Augen heute erblickt hatten, hatte ihn vor Staunen den Atem anhalten lassen.

Dass Istendah eine prächtige Stadt war, hatte er erwartet. Aber dieses Maß an Kultur, Kunst, Architektur und Glanz hatte ihn in Ehrfurcht verweilen lassen. Dabei hatte er noch längst nicht alle Wunderwerke dieser Stadt erblickt.

Das Zentrum Istendahs bildete das fast kreisförmige Marktviertel, um das sich fast alle anderen Stadtviertel fächerförmig ausbreiteten. Im Norden lag das Hafenviertel, die Heimat der Fischer, darüber das sogenannte Geisterviertel, was einsam und verlassen dem Verfall preisgegeben worden war. Östlich des Hafenviertels schloss das Amtsviertel mit den Regierungsgebäuden an. Daneben lagen das Bildungsviertel und nach Süden hin das Industrie- und Handwerkerviertel. Geschlossen wurde der Kreis um das Zentrum Istendahs im Westen durch das Wohnviertel, in dem vor allem die einfachen Arbeiterfamilien ihr Heim hatten.

Im Norden und Westen wurde die Stadt vom Westmeer begrenzt, sodass sie sich nur nach Süden und vor allem Osten hin ausbreiten konnte, wo es im Bauernviertel riesige Gemüsefelder und zahlreiche Gänse-, Ziegen- und Pferdefarmen gab.

Lu war vom Marktviertel ausgehend stundenlang gewandert, vorbei an der berühmten Universität ‘De Robosann’, hin zum ‘Haus des Wissens’ und zur ‘Technischen Fakultät’, die allesamt im Bildungsviertel Istendahs lagen. Er hatte das ‘Museum der Alten Zeit’ und die bronzene, bestimmt über 4 Ellen große Statue von Martin Gansberg, dem Begründer des ‘Großen Umbruchs’, bestaunt, bevor er die im Marktviertel gelegene schwarze Eglesia Pazis, die größte Kirche Istendahs, derzeit dem Gott Hendrax gewidmet, umrundet hatte. Stets war er zügig vorangeschritten, bis ihn sein Weg auf die von Brücken überkreuzte Insula Shvasen geführt hatte, die inmitten des Flusses Sanzea lag, der die Stadt durchfloss. Hier stand er nun und betrachtete voller Staunen diesen Ort des Friedens und der Entschleunigung.

Lu schlenderte gemächlich über sauber angelegte weiße Kieswege, eingebettet in große grüne Grasflächen, die man heutzutage fast nirgendwo mehr fand, und versuchte, all die Ruhe, die dieser Ort fühlbar ausstrahlte, in sich aufzunehmen. Sogar der Himmel klärte sich. Die Wolken brachen auf, der Regen versiegte und warme Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht.

Eine seltene Atempause.

In all der wunderbaren Natur stand ein von großen Gärten umgebener hoher Turm, der Carob Toran, das höchste Gebäude Istendahs, erbaut auf den Überresten eines der ältesten je gefundenen Gebäude der ‘Alten Zeit’. Dieser prachtvolle Turm, dieses Wunder von Menschenhand erschaffen, war das Wahrzeichen der Stadt und der Sitz der Mantrikulu, von manchen als Zauberer oder Magier bezeichnet, von anderen als Wissenschaftler spezieller, teils seltsamer Dinge. Keiner wusste genau um die Arbeit der in sich zurückgezogen lebenden Mantrikulu. Durch ihre Erhebungen und Mithilfe, vor allem in der Erforschung und Entwicklung moderner Medizin, erfuhren sie aber sowohl innerhalb der einheimischen Bevölkerung als auch weit über die Tore der Stadt hinaus große Anerkennung. Nebenher fungierten sie ab und an als Berater des Stadthalters von Istendah, denn sie waren bekannt für ihr reiches Wissen, ihre Umsicht, Voraussicht und ihre Neutralität.

Vor allem der riesige Garten faszinierte Lu. So eine Vielfalt an Pflanzen hatte er noch nie zuvor gesehen, denn Pflanzen waren seit dem Ende der ‘Alten Zeit’ ein rares Gut. Er erinnerte sich an einen Text, den er erst kürzlich gelesen hatte und in dem die Entwicklung hin zur ‘Neuen Zeit’ beschrieben wurde.


Die Menschen zerstörten die Welt,

langsam aber unaufhaltsam.

Die Ausbeutung und Verschmutzung der Erde, das Übermaß an Industrien und Abgasen, die Zerstörung der Natur, wie das Abholzen riesiger Waldflächen - all das brachte den Untergang.

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Die Erwärmung der Erde schritt drastisch voran. Das ewige Eis der Pole schmolz und der Meeresspiegel stieg. Landmassen wurden überflutet oder aufgrund der dramatisch gestiegenen Temperaturen für die meisten Lebewesen unbewohnbar.

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Länder zerfielen in kleine autonome Staaten, Regierungen zerbrachen.

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Die Menschen flohen in die nördlichen Regionen, wo das Klima kühler und das Land weniger dicht besiedelt war. Aber die verbliebene Fläche konnte die Masse an Fliehenden nicht aufnehmen.

Ein blutiger Kampf um die knappen Ressourcen begann und endete in jahrhundertelanger Gewalt und Krieg, der viele Opfer forderte.

Biologische und chemische Waffen wurden entwickelt und eingesetzt.

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Die Hoch-Zeit der Genetiker begann.

Tiere, Pflanzen, aber auch Menschen wurden angepasst, verändert, zu Experimenten der Wissenschaft, in der Hoffnung, den neuen Umweltbedingungen standhalten zu können.

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Vergebens.

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Neue Krankheiten entstanden, mutierten und reduzierten das Leben erneut.

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Die Vergehen der Menschheit forderten nach Hunderten von Jahren schließlich ihren Preis:

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Die Natur starb.

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Zuerst verschwand ein Großteil aller Insekten, dann die meisten Pflanzen und Tiere.

Nur wenige Arten waren so robust und standhaft, dass sie überleben konnten.

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Es begann die ‘Zeit der Leere’.

Die Welt veränderte sich.

Säugetiere hatten jahrtausendelang die Erde beherrscht und wurden nun von Echsen abgelöst, die nach und nach die vorherrschende Spezies bildeten.

Überlebende Tierarten der ‘Alten Zeit’ entwickelten sich weiter.

Das Erscheinungsbild der Erde war fortan geprägt durch Steppen, staubige karge Landschaften, raue Felsen und Ruinen - die verbliebenen Reste einer einst hoch entwickelten Zivilisation.

Aber auch neue Pflanzen, vorwiegend verschiedene Arten von Büschen, Farnen, Sträuchern, Kräutern und Gräsern, schossen hervor - meist vereinzelt, selten auch gebündelt in Busch- oder Strauchwäldern. Bäume fand man nur noch selten, genau wie größere Grasflächen. Blumen waren für immer verloren.

Die Evolution brachte neue intelligente Spezies hervor, die fortan neben den Menschen existierten.

Aus dieser Zeit stammen die ersten Berichte über widernatürliche Wesen.

Woher sie kamen, kann bis heute nur vermutet werden. Vielleicht entstanden sie im Rahmen des natürlichen Entwicklungsprozesses der Welt. Womöglich sind die Wesen aber auch Überbleibsel genetischer Experimente, die in Folge des Zusammenbruchs der Zivilisation in die Freiheit entfliehen konnten, wo sie sich vermehrten und Teil der ‘Neuen Zeit’ wurden.

Eine dritte Theorie besagt, dass es die seltsamen Kreaturen schon immer gab, im Verborgenen, im Schatten, und sie nach dem Untergang der ‘Alten Zeit’ ihre Chance gekommen sahen, endlich auch im Licht zu wandeln.


Während Lu noch in Gedanken an vergangene Zeiten versunken dahin schlenderte, erreichte er unbewusst das nördliche Ende der Insula Shvasen und stoppte. Als er den Fluss Sanzea vor sich sah, drehte er reflexartig den Kopf und blickte mit schwerem Herzen zurück zu dieser grünen, friedlichen Oase. Aber er musste weiter. Der Tag näherte sich bereits dem Abend und er hatte noch nicht alle Teile Istendahs erkundet, die für heute auf seiner Liste standen. Die kurze Zeit der Ruhe war vorbei.

Zügig überquerte er die nächstgelegene der vier weißen Metall-Brücken, die die Insel mit dem Festland verbanden und betrat eine breite steinerne Straße, die parallel zum Fluss verlief.

Lu wandte sich nach Norden und ging raschen Schrittes los.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Hafenviertel der Stadt erreicht hatte. Kurz verschnaufend, lehnte er sich auf das Geländer der hohen steinernen Kaimauer und blickte hinab auf die Sanzea.

Zwar hatte es schon vor einiger Zeit aufgehört, doch lange genug geregnet, dass das Wasser des großen Flusses jetzt wild und unbeherrscht war. Es bewegte sich schnell, viel schneller als normalerweise. Das tiefe Blau wurde an vielen Stellen von weißen schäumenden Kronen unterbrochen, die einen bizarren Tanz auf den Wellen vollführten, der Lu in seinen Bann zog. Dicht unter der Wasseroberfläche meinte er, seltsame Bewegungen auszumachen, nur den Bruchteil eines Augenblicks, bis die reißende Strömung das Bild wieder verschwimmen ließ.

Doch bevor seine Fantasie wieder mit ihm durchgehen konnte, durchbrach ein lautes Krächzen den Bann und ließ ihn Aufschrecken. Er schaute nach oben und sah einen großen tiefschwarzen Raben, wie er von Dach zu Dach flog und wohl nach Beute Ausschau hielt. Und Beute gab es in einer Stadt wie Istendah zuhauf. Allein die Abfälle des großen Marktes am Gansberger Platz mussten ausreichen, um ganze Vogelschwärme sattzukriegen.

Lu blickte dem Raben nach, wie er auf dem Dach eines kleinen hölzernen Schuppens direkt am Uferkai landete, keine fünfzig Schritte von ihm entfernt.

Der Schuppen bestand, soweit es Lu von seiner Position aus sehen konnte, fast nur aus lose hängenden hölzernen Brettern, die von zu wenigen Nägeln mehr schlecht als recht zusammengehalten wurden. Vielleicht war es ein Lager der hier im Hafenviertel ansässigen Fischer, vielleicht auch etwas anderes. Lu war es egal.

Sein Blick wanderte zurück zum Dach und damit zu dem Raben, der in diesem Moment seine ungewöhnlich großen Schwingen ausbreitete und steil gen Himmel flog.

Lu beobachtete ihn noch einen kurzen Moment. In der Ferne vernahm er das Läuten der Glocken der Eglesia Pazis. Es war schon spät. Höchste Zeit, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen.

Ein letzter Blick auf die Sanzea und Lu dreht sich herum. Er will gerade in Richtung der nahe gelegenen Hafenmeisterei gehen, wo er am Morgen sein Gepäck deponiert hat, da vernimmt er aufgeregte Schreie, die von Richtung des schäbigen hölzernen Schuppens an sein Ohr dringen - verzweifelte Schreie des Schreckens.

Lu reagiert blitzschnell. Er rennt entlang des Flusses auf den Ursprung der Schreie zu. Direkt hinter dem hölzernen Schuppen stoppt er abrupt und sieht einige Schnapper, segelfähige Echsen mit einer Flughaut zwischen Vorder- und Hinterbeinen, wütend aufsteigen, vertrieben von ihrer Beute durch einen Mann und eine Frau, die mit wild fuchtelnden Armen über einem leblosen Körper stehen.

Lu nähert sich langsam. Der Mann bemerkt ihn. Er stoppt und hebt beruhigend die Arme, um zu Signalisieren, das von ihm keine Gefahr ausgeht. Sein Blick schwankt zwischen den beiden aufgebrachten Menschen und der Leiche.

Ein toter Mann, der zwischen einem Stapel Metallkisten und der hölzernen Baracke fast versteckt liegt.

Die Frau wimmert, zittert vor Angst. Der Mann versucht sie zu beruhigen, fasst sie an der Schulter. Sie aber reißt sich los und rennt einige Schritte weit weg von dem Grauen, der Mann hinterher. Er packt sie sanft, aber bestimmt, bevor sie die Panik endgültig überwältigt und sie in seinen Armen zusammenbricht.

Jetzt!

Lu läuft zu der Leiche und geht in die Knie. Der Tote liegt inmitten seiner Gedärme auf dem Bauch, sodass Lu sein Gesicht nicht sehen kann. Er ist stämmig, nicht sehr groß, schon älter und eher ungepflegt. Obwohl kein Herzmuskel mehr schlägt, ist der Körper noch warm, wenn auch ungewöhnlich bleich, fast wie Elfenbein.

Noch nicht lange tot …

Lu blickt zu dem Mann hinüber, der die Frau noch immer in seinen Armen hält. Sie ist verstummt. Selbst aus der Entfernung kann er in ihre Augen sehen. Sie sind offen, aber leer. Noch immer ist in ihnen eine vage Ahnung des Schreckens zu erkennen, doch sie blicken längst nicht mehr in diese Welt, sondern versinken in dem endlosen schwarzen Abgrund, aus dem die traumatisierte Seele nur schwer zurückfinden wird.

Lu empfindet Mitleid. Er weiß, dass der Mörder heute nicht nur ein Leben für immer zerstört hat.

Auch Lus Körper zittert leicht.

Nein, das hier ist nicht seine erste Begegnung mit einer Leiche, nicht die erste Begegnung mit dem Tod, einem Opfer, einem Mörder, einem Monster. Und dennoch versucht die aufsteigende Panik in seinem Inneren die erzwungene Ruhe und Besonnenheit zu vertreiben, wie einen räudigen Hund, der einem das letzte Stück Fleisch vom Teller stehlen will.

Leichter Ekel überkommt ihn, doch er packt mit beiden Händen zu und dreht den Toten auf den Rücken - und kann einen Schrei nur mit Mühe unterdrücken.

Er kennt den Mann, lebendig, laut, betrunken.

Er blickt auf das ungewöhnlich bleiche Gesicht, in die leblosen Augen von Benem, dem ungehobelten Trinker aus dem Gasthaus von vorhin. Seine gesamte Bauchdecke wurde brutal und grausam aufgerissen.

Das war keine Klinge!

Der Leichnam gleicht der Beute eines Rudels von Borsten-Hyänen, die sich im Blutrausch auf ihr Opfer gestürzt und den ungeschützten weichen Bauch förmlich zerrissen haben.

Lu durchfährt ein eisiger Schauer, doch nach wenigen Augenblicken und einem leise, aber betont ausgesprochenen “Stop” kann er sich wieder fangen und fokussiert seinen Geist auf den toten Körper vor sich.

Irgendetwas stimmt nicht.

So schrecklich diese Wunde auch ist, nirgends ist ein einziger Tropfen Blut zu finden, weder auf dem Boden, noch an den Metallkisten oder dem Schuppen.

Entweder die Wunde wurde dem Toten an einem anderen Ort zugefügt und der Kadaver hier weggeworfen - eine Tatsache, die mehr als unwahrscheinlich ist - oder …

Lu hält einige Sekunden lang den Atem an.

… es gibt kein Blut mehr in dem leblosen Körper. Es wurde geraubt.

Der ‘Trockene Tod’.

Hektisch untersucht Lu die Leiche, tastet den langsam hart werdenden Körper ab. Er öffnet die Überreste des Hemdes über der Brust, schiebt Hosenbeine und Ärmel hoch, um möglichst viel nackte Haut sehen zu können.

Und dann findet er, wonach er gesucht hat: eine etwa handbreite Wunde am linken Unterarm. Die Haut ist aufgerissen, als hätte ein Raubtier seine Fänge in das zarte Fleisch geschlagen. Die Verletzung ist tief, bis zum Knochen und das rohe Fleisch ausgefranst.

Das typische Muster. Der Mörder, die Bestie, hat den Lebenssaft seines Opfers ausgesaugt und die leblose Hülle danach fallen lassen. Der Rest, das Ausweiden, ist nichts anderes als Ablenkung und die Freude am Abschlachten.

Ja, er wusste, dass Wesen wie Vampire nur eine Fantasie der ‘Alten Welt’ waren, vielleicht inspiriert von den damals lebenden Fledermäusen, die wirklich das Blut von Kühen oder Ziegen tranken. Aber Monster, die des Nachts Jagd auf Menschen machten und deren Blut tranken, um danach wieder in ihrer Gruft in einem Sarg zu verschwinden, um dem tödlichen Sonnenlicht zu entfliehen, das waren nur Schauergeschichten aus einer vergangenen Zeit.

Und doch kannte er den ‘Trockenen Tod’. Seit nunmehr zwölf Jahren - seit seiner Begegnung mit IHR - stieß er immer wieder auf ihn, in der realen Welt, aber auch in seinen Träumen.

Schnelle Schritte auf hartem Stein reißen Lu aus seinen Gedanken. Er blickt auf und sieht den Mann auf sich zukommen. Bevor dieser etwas von sich geben kann, sagt Lu mit fester, sicherer Stimme:

“Jemand muss die Stadtwache verständigen.”

Der Unbekannte stoppt abrupt, ohne zu antworten. Gebannt blickt er auf den Toten.

Lu legt seine Hand auf die Schulter des Mannes und spricht in ruhigem Ton.

“Hallo? Ihr? Die Stadtwache. Jemand muss die Stadtwache rufen.”

Der Mann wendet seinen Blick zu Lu. Er wirkt verstört, verzweifelt und doch wieder gefasster.

“Entschuldigt, mein Herr. Das ist nun schon der fünfte Tote innerhalb von zwei Wochen. Wann wird das endlich aufhören?”

“Der fünfte Tote?”

“Ja, mein Herr. Fünf Tote. Und alle wurden hier im Hafenviertel gefunden.”

Der Arm des Mannes streckt sich, weist auf den verstümmelten Körper. Er schluckt.

“Diesen hier hat meine Frau Irin entdeckt.”

Die gerade zurückgekehrte Fassung des Mannes wankt. Ihm steht die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Tränen fließen seine Wangen hinab.

“Wie heißt du?”

Der Mann schaut Lu verblüfft an.

“Ich? Ich heiße Pierens, mein Herr. Ich fische gelegentlich an der Sanzea, aber …”

“Wie geht es deiner Frau?”

“Ich … ich weiß es nicht, sie ist … Es ist einfach alles so schrecklich.”

“Am besten ihr geht jetzt nach Hause.”

“Ja, mein Herr, das wird das Beste sein.”

“Aber verständigt bitte unterwegs die Stadtwache. Sie soll sich um den Toten kümmern.”

Der Mann, Pierens, dreht sich ohne Abschied herum. Schnellen Schrittes geht er zu seiner Frau, nicht ohne noch einmal zu Lu und dem Toten zurückzublicken.

“Ich werde so lange hier wachen, bis die Stadtwache kommt”, ruft Lu den beiden hinterher.

Pierens antwortet nur mit einem knappen Kopfnicken. Als er bei Irin ankommt, legt er seinen Arm um sie. Gemeinsam verschwinden sie in einer kleinen dunklen Gasse.

Lu steht noch einige Minuten neben dem Toten.

Bist du es wirklich? Das abscheuliche Monster. Die grausame, todbringende, widernatürliche Kreatur. Bist du für die Morde verantwortlich?

Lijerah!

Diesen Namen - IHREN Namen - würde Lu niemals vergessen.

Ich war dir immer auf den Fersen. Seit ich dir als Junge begegnet bin, träume ich von dir. Seit zwei Jahren bin ich nun so dicht hinter dir und doch war ich immer zu spät. Egal in welche Stadt ich kam, du hattest dein schreckliches Werk bereits getan und warst weitergezogen in unbekannte Ferne.

Aber jetzt bist du hier. Und Hendrax verzeihe mir meine Gedanken, aber bitte bleibe noch und verbreite Unheil, Schrecken und den Tod - auf das ich meine Chance kriege, dich endlich zu vernichten.

Ich hoffe, du bist es wirklich und erinnerst dich an mich.

Laute, hochfrequente, schrille Laute rissen Lu aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Die kleinen blauen Schnapper, die zu Tausenden in den meisten größeren Städten hausten und alles fraßen, was ihren kleinen roten Schnäbeln mit den winzigen spitzen Zähnen zu nahe kam, waren zurück und trauten sich beachtlich nahe an ihn und die Leiche heran. Ihre flachen, länglichen Schuppen-Körper endeten in ebenso langen Schwänzen, die vor Ungeduld hin und her wippten. Die gelben Echsenaugen mit den schwarzen ovalen Pupillen ruhten in dreieckigen, mit drei kleinen Hörnern besetzen Köpfen und blickten gierig. Sie warteten nur darauf, sich auf ihre Beute, das frische, duftende Fleisch stürzen zu können.

Lu schaute in die Richtung, in der Pierens und seine Frau gerade verschwunden waren.

Eine leere, dunkle Gasse - noch.

In wenigen Minuten würde ein Dutzend bewaffneter Männer durch diese Gasse stürmen. Männer, die für die Sicherheit dieser Stadt verantwortlich waren und nun die fünfte Leiche binnen weniger Tage finden würden.

Vielleicht wäre es besser, nicht direkt an meinem ersten Tag in dieser Stadt Bekanntschaft mit der Stadtwache zu machen, dachte Lu.

Fünf Todesfälle und er, Luhni Mahjos, als Fremder direkt neben einer Leiche. Das passte einfach zu gut für mögliche Spekulationen der Stadtwache, die mittlerweile - das kannte Lu schon aus ähnlichen Fällen in anderen Städten - einfach jemanden brauchte, den sie als Täter an den Pranger stellen konnte - egal ob schuldig oder nicht.

Lu entfernte sich einige Schritte von der Leiche. Sofort sprangen die kleinen Schnapper mit ihren kurzen krallenbewehrten Beinchen herbei, ergriffen ihre Chance und füllten die leeren Mägen.

So entsetzlich die Szene auch war, Lu konnte nicht bleiben, um Benems Überreste vor der Schändung zu bewahren.

Er sah gen Himmel, der sich langsam rot färbte. Die Sonne ging bereits unter und die Schatten der Nacht traten herauf.

Er fasste einen Entschluss und lief los.

Der Trockene Tod

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