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ОглавлениеDer tiefe Sturz
Um die Tatsache wissend, dass es noch andere Welten gibt als die eigene, bleibt nur tiefste Trauer oder unendliche Euphorie. Jeder Einblick in eine solche, andere Welt muss erschüttern und genau das tut er. Geht es nur um Ansichten oder Meinungen, nun ja, da ist doch jeder Mensch zunächst irgendwie aufgeschlossen, es sei denn, er weiß nicht anders. Schon hier scheitert der kleine Geist, wohl wahr. Selbst in der Belanglosigkeit ist der Mensch, der noch immer nicht existiert, hart gegen jeden, außer gegen sich selbst. Mag sein, dass das noch die tierischen Reste sind, die er so gar nicht missen möchte. Oberflächlichkeiten bestimmen den Tag, das Leben, das Sein und religiöse Verblödung liebt die Masse. Allein ist es so bitter kalt, denn es fehlt die Wärme des lieben, blöden Nächsten. Warum nur ist es den Nichtwissenden nicht vergönnt, den erlösenden Sturz in das Nichts zu erleben. Was müsste geschehen, um auch ihnen den Hauch des Zweifels zu schenken?
Mit jeder mein Bewusstsein formenden Synapse glaube ich fest, dass es für jeden Menschen eine Erlösung wäre, endlich das Alles in Frage zu stellen, was den Menschen selbst natürlich einschlösse. Immer größer wird die Schar derer, die niemals einfachste Gedanken verstehen werden. Immer geringer wird die Anzahl der Individuen, die loslassen können, fähig sind, loszulassen – und hier geht es noch nicht um lapidare Bereitschaft, sondern ausschließlich um klare Kompetenz.
Der Lohn dafür, sich aus seinen Religionen gelöst zu haben, ist der freie Fall. Die Unbeschwertheit des gravitationsfreien Reisens ohne Halt.
Das ist die Welt, die den Religiösen gezeigt wird.
Die Wahrheit ist, dass jedes Loslassen und jedes Ignorieren dummen Geschwätzes sehr wohl eine Unbeschwertheit auslösen, sehr wohl frei macht von Gravitation und der Abhängigkeit von Materie, aber der Weg persönlicher Entwicklung ausschließlich nach oben führt. Wie intensiv auch immer die Angst vor dem Absturz durch die Vielzahl der Machthabenden und Glaubensgemeinschaften erzeugt worden sein mag, sie ist niemals intensiv genug erzeugt worden, um nicht als denkendes Individuum dem einen, erlösenden Gedanken folgen zu können.
Ich bin nicht. Ich bin ein Mensch, aber ich bin nicht.
Immer weniger Tiere, die sich Mensch nennen, sind fähig, sich diesem Gedanken zu widmen – und, was ist eigentlich mit den anderen Tieren?
Gibt es eine Vermenschlichung?
Jeder Hund, der liebevoll umhegtes Familienmitglied geworden ist, wird vergewaltigt, menschlich zu sein. Dies geschieht immer und automatisch, entweder getrieben durch Liebe oder durch Macht. Natürlich gibt es Vermenschlichung.
Gibt es Vertierlichung?
Nun, zumindest gibt es das Wort nicht im menschlichen Sprachgebrauch, aber gibt es sie wirklich nicht? Wahr ist, dass jeder Mensch sich seinem Tier, das er vermenschlichen möchte, wesentlich intensiver anpasst als das Tier dem Menschen.
(Anmerkung: Gäbe es wirklich keinen Menschen, der dies in Frage stellte, wäre die Existenz des Menschen bewiesen, denn nur eine einzige uneingeschränkte Übereinstimmung in der Meinung aller Menschen wäre Beweis für die Entität ‚Mensch’ an sich, aber leider werden Chinesen verneinen, denn sie essen ihre Hunde und mein früherer Nachbar, als ich noch selbstbestimmt in einem normalen Wohnhaus leben durfte, bellte morgens, mittags und abends – eigentlich immer – um sich mit seinem Hund unterhalten zu können.)
Wenn es sie also gibt, die Vermenschlichung und die Mehrzahl der Menschen stellt diese Aussage nicht in Frage, dann gibt es folgerichtig auch das Gegenteil. Leider ist diese Vertierlichung aber nur in seltenen Fällen getrieben von einem Anpassungswahn an einen geliebten, tierischen Freund. Sie ist viel mehr vorherbestimmt, mit dem Ziel, den Unfall des Entstehens eines Bewusstseins auszugleichen. Unaufhaltsam ist die Entwicklung der Vertierlichung des Menschen und letztendlich kann es nur das große Glück des Schicksals sein, dass er ja gar nicht wirklich existiert und sich kontinuierlich rückentwickelt, bis er endlich auch materiell nicht mehr vorhanden ist.
Der klägliche Rest noch nicht Tiergewordener Individuen hat aktuell jeden Tag die Chance, sich zu entfesseln. Erneut sind es Bilder, die sich aufdrängen. Es ist der Mensch als Zeppelin, der ohne Fesseln unkontrolliert so lange steigt, bis er platzt. Es sind unendlich viele Bilder, die nur das eine vermitteln wollen, die Angst vor dem Verlust irgendeiner Kontrolle.
Glücklich die wirklich Tiergewordenen, die solche Ängste nicht mehr haben. Ihr Streit um jede beliebige Belanglosigkeit füllt sie so sehr aus, dass es schmerzt. Ich wäre so gern eines von ihnen, denn sie ficken ohne einen Gedanken und sie ficken ohne Reue. Sie sind der nicht existenten Natur von sich aus so nahe, wie Noch-Menschen ihr erst nach vielen Jahren des erfolgreichen Denkens kommen können.
Der winzige, immer kleiner werdende Rest der Menschheit, der sich fast schon göttlich nennen darf, trägt die Saat der Hoffnung auf endlosen, schwerelosen Flug in die Ewigkeit in sich. Dieser Sturz nach oben, erzeugt durch ein paar Gedanken, die in Folge, schlüssig aneinandergereihte Fragen generieren, diese Fragen spontan beantworten und die Antworten Wahrheit schimpfen, verkehren die Richtung des Falles, denn an die Stelle unbefriedigter Ängste treten die Erhabenheit, die Klarheit und das Licht der Erkenntnis.
Wie jeder Sturz ist auch dieser nicht umkehrbar. Die Ausschälung aus dem Bisherigen erfolgt nicht allmählich, denn es sind nur wenige Fragen, die beantwortet werden müssen, um die Fesseln im Herzen zu lösen. Es sind zwar viele Fesseln, die den Denkenden glauben machen er sei, aber es sind nur wenige, Aussagen, die ihre mächtigen Tentakel um das Selbst winden, um es im Irrglauben des Seins zu halten. Diese Aussagen gilt es mit gezielten Fragen zu hintergehen, zu entkräften und zu vernichten.
Was tritt an Stelle dessen, von dem ich immer glaubte, dass es existiere, wenn es nicht mehr ist? Gibt es Glück ohne Körper? Ist das Weltall eine Lüge? Ist Logik eine Kunstform? Verstehe ich? Sehe ich? Warum bin ich nicht, obwohl ich denke? Bin ich? Dies sind noch nicht die Fragen, die es zu beantworten gilt, um sich zu lösen aus der gewohnten Lüge, aber es sind zufällig ausgewählte Fragen, die nach Antworten trachten. Nennen wir es einen Test und beantworten wir diese ersten Fragen gemeinsam, aber nicht gleichzeitig, sondern eine Frage nach der anderen. Nach jeder Frage sollte etwas geschehen, was sonst noch nie geschehen ist. Es sollte Ruhe herrschen und Besonnenheit, denn die Fragen sind nur auf den ersten Blick banal – aber sie sind dennoch, abhängig von Deiner Konsumgier, fast gleichgültig. Denn, wenn Du nur die vorgekauten Worte in Dich aufsaugen willst, ohne selbst zu denken, wird die theoretisch mögliche Erkenntnis ausbleiben. Es wird kaum möglich sein, die sehnsuchtsvoll erwarteten, vorgegebenen Antworten nicht sofort lesen zu wollen – und es ist die Gesamtheit betrachtend auch gleichgültig, ob versucht wird, zunächst eigene Antworten zu finden, bevor die vorgegebene Antwort gelesen wurde.