Читать книгу Der Mensch existiert nicht - Alexander Leist Gerhard - Страница 9
ОглавлениеDer Kalkül
Wenn sich ein Etwas entschlossen hat, sein zu wollen, wird es danach streben, sein eigenes Sein zu beweisen. Die Voraussetzungen, die dieses Etwas mitbringen muss, um es leisten zu können, dieses ‚sein wollen’, sind hinlänglich bekannt, sollen aber dennoch zur Verdeutlichung des fehlenden Realitätsbezugs noch einmal erwähnt werden.
Die Erkenntnis ‚zu sein’ setzt ein Bewusstsein voraus, das es dem strebenden Etwas, das allein dadurch zum Individuum wird, ermöglicht, sich selbst in Raum und Zeit zu erleben. Schon der Wille zur Erkenntnis setzt voraus, dass eine minimale Reflexion des eigenen Ich stattgefunden hat, um dem gerade bewusst gewordenen Sein auch einen eigenen Willen geben zu können. Ohne Reflexion kein Wille, ohne Bewusstsein kein Sein und ohne Bewusstsein kein Wille.
Die Abgrenzungen gegen tote Materie sowie die Tier- und Pflanzenwelt zum Zweck eines besseren Verstehens erspare ich mir, obwohl der Mensch natürlich nichts anderes ist als eine Tier- oder Pflanzengattung. Der Mensch trägt 50% des Genmaterials einer Banane in sich.
Das sich in der Welt der Individuen als Wollender begreifende Tiergewächs ‚Mensch’ ist also bestrebt, das Wissen in Bezug zu seiner Existenz so zu gestalten, dass sein ‚Sein’ zweifelsfrei bewiesen sei und seine Handlungen, oder Nicht-Handlungen als Resultat von Reflexion und zielgerichteter Aktion oder Nicht-Aktion verstehbar seien – und zwar verstehbar von anderen Individuen, die, so sie sich ebenfalls als Menschen verstehen, dasselbe Ziel verfolgen, nämlich schlüssige, unwiderlegbare Beweise für die berechtigte Zuordnung zur Tier-/Pflanzengattung ‚Mensch’ zu liefern.
Einmalig und kurz seien hier auch diejenigen Menschen erwähnt, die sich auch Nicht-Menschen als zugehörig beweisen, indem sie das, was einen Menschen ausmacht, zeitweise ignorieren oder zumindest verdrängen, wie Hundebesitzer – oder auch kurz erwähnt diejenigen, die zum Mensch-Beweis notwendige Eigenschaften zeitweise nicht mehr oder noch nicht besitzen, vielleicht nie besessen haben, wie zum Beispiel Eltern oder Verliebte.
Die zentrale Erkenntnis in Bezug auf den Beweis des Seins eines Menschen ist aber nicht im Bereich von Bewusstsein und Wille angesiedelt, sondern im Bereich der Wahrnehmung. Es ist also niemals die Existenz eines Individuums selbst, die einen Menschen entstehen lässt, sondern das Erfahren dieses Seins durch Anderes. Dieses Andere umfasst alles, Mensch, Tier und jede leblose Materie. Beim im Menschen entstehenden Seins-Bild ist fast ausschließlich die Absorption von Wellen, seien es Lichtwellen, die über das Auge aufgenommen werden und das Bild eines Menschen erzeugen, oder Schallwellen, die nach ihrer Bildung und ihrem Empfang biochemische Reaktionen der Gedanken transportieren und zumindest erst einmal erfahrbar machen, aber auch die Interpretation von Berührung, die Reizungen der Nerven in ein mehr oder weniger klares Bild des Verursachers überführen. Zu guter Letzt ist es noch die Luft, die angereichert mit riechbaren Molekülen abgespeicherte Erinnerungen mehr oder weniger treffgenau aktivieren und das Individuum als Entität identifizierbar machen. Erstaunlicherweise ist es beim in Nicht-Menschen entstehenden Seins-Bild fast identisch, nur, dass das entstehende Bild ein anderes ist, also ein ganz anderes Individuum entsteht. Vom Bewusstsein lebloser Materie wissen wir noch nicht sehr viel. Es sind scheinbar nicht Wellen und Moleküle, die ein Bild des Menschen in toter Materie erzeugen können, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ein Bergmassiv es witzig findet, wenn ihm ein Kilometerlanger Tunnel in die Eingeweide gebohrt wird. Doch zurück zu Individuen.
Ausgestattet mit Sinnen, die Wahrnehmung ermöglichen, setzt sich das Individuum der Welt aus, in der es lebt. Es nimmt wahr und erkennt Menschen, auch wenn sie gar nicht vorhanden sind. Der Besuch in einem Kino etwa ermöglicht die Begegnung mit Menschen, macht sie erlebbar, erzeugt Gefühl für oder gegen sie und ist doch nur Betrug. Nichts ist wahr und nichts ist tatsächlich vorhanden, außer Licht- und Schallwellen. Noch nicht einmal die Stimme der Menschen entspricht der wahren Stimme, zumindest in unseren Breiten sehr selten. So wird Wahrnehmung zur Farce und zur eigentlichen Betrugsnehmung.
Grundsätzlich ist der Mensch also sowohl betrugsbereit, was die Darstellung des eigenen Seins und Wollens betrifft, als auch täuschbar, was die Möglichkeit betrifft, zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden zu können.
Wenn die Grundlage des Seins und Wollens verstanden ist, geht es um den Menschen an sich, also um die Summe der einzelnen Individuen und die Qualität der Entitäten.
Die Frage „Wie ist der Mensch?“ kann nicht beantwortet werden, weil der Mensch als Summe aller Entitäten nicht existiert. Die Möglichkeit zur Beantwortung dieser Frage würde voraussetzen, dass derjenige, oder diejenige, die sich zu einer Beantwortung dieser Frage hinreißen lassen möchte, mindestens einmal alle Entitäten der Pflanzen-/Tiergattung ‚Mensch’ gesehen, gehört, gefühlt und gerochen hätte. Und auch unter dieser Voraussetzung, die natürlich nicht erfüllbar ist, könnte die Frage nur dann beantwortet werden, wenn die wahre Körperlichkeit und Sinnlichkeit jedes einzelnen Individuums erfahren worden wären und nicht nur das Bild, das durch die eigenen, verfügbaren Rezeptoren erstellt wurde. Jede beliebige Entität ‚Mann’, ‚Frau’ oder ‚Kind’ aus der Masse Mensch bestimmt sich selbst durch die maximal mögliche Anzahl an Bildern, die in anderen Individuen von der eigenen Entität erzeugt werden können. Somit ist auch die Beschreibung einer Entität, also die Beantwortung der Frage „Wie ist Herr X?“ nicht möglich. Nur die Beantwortung dieser Frage durch alle Individuen wäre eine zulässige Antwort, wenn alle Herrn X mindestens ein Mal gesehen, gehört, gerochen und berührt hätten.
Weder der Mensch als Individuum noch die Menschen als Ganzes können in ihrem Sein erfasst werden, weil Wahrheit nur die Summe aller Wahrheiten sein kann. Wenn dies beim Versuch einer allgemeingültigen Aussage zu allen Menschen noch nachvollziehbar erscheint, wird die Verständlichkeit bei dem Versuch der Beschreibung eines Menschen schon schwieriger.
Warum sollte es wohl nicht möglich sein, einen einzigen Menschen zu beschreiben?
So, wie die Darstellung eines Schauspielers in einem Film Betrug ist, ist auch die Beurteilung eines Menschen Betrug, selbst wenn der Beurteilte von sich behauptet, authentischer nicht sein zu können, weil die Subjektivität des Beschreibenden nur einen Milliardsten Teil der Wahrheit darstellen kann. Schon eine zweite Meinung eines anderen Individuums, das über eigene Rezeptoren die eigene Wahrheit über den beurteilten aufgenommen hat, kann genau gegenteiliges Ergebnis sein. Was ist dann also wahr?
Ist ein Mensch freundlich, wenn er lacht oder ist er heimtückisch und falsch? Ist es das Wissen des Individuums selbst, das hier die einzige Wahrheit darstellen kann? Liegt die Wahrheit also einzig und allein im Beurteilten?
Zur Beantwortung dieser Fragen ist es wichtig, sich zunächst im Normbereich zu orientieren, bevor das Außergewöhnliche in den Kalkül einbezogen wird.
In diesem Normbereich ist das Individuum davon überzeugt, sich selbst realistisch einschätzen zu können. Es ist in der Lage, sich zumindest einmalig Attribute zuzuordnen, seine eigenen Handlungsweisen zu verstehen und eine Idee darüber zu verinnerlichen, welches Bild es über die Rezeptoren der Betrachter wahrscheinlich erzeugt. Die sich selbst zugeordneten Werte und Attribute variieren ebenfalls nur im Normbereich, so dass von einer gewissen Konstanz in der Bewertung der eigenen Person durch das Individuum ausgegangen werden kann. In der Beantwortung der Frage „Wie bin ich?“ geht Herr X ebenso systematisch wie emotional vor und er kommt zu einem Resultat. Dieses Resultat ist die Wahrheit über das Sein des Herrn X aus der subjektiven Sicht des Herrn X. Diese Wahrheit hat auch im Normbereich nichts mit der Realität zu tun, denn die Realität ist die Summe aller Wahrheiten, eine Unbekannte. In seine Überlegungen, die letztendlich zu seinem Resultat führen, bezieht Herr X alle ihm bekannten Erwartungshaltungen, Einschätzungen und Ansprüche mit ein, was zu einer zwangsläufigen Falscheinschätzung seines Selbst führt. Die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung dieser Einschätzung mit der theoretischen Einschätzung aller ist im Größenbereich eins (Herr X) zur Anzahl der über mindestens einen Sinn bewertungsfähigen Individuen (z.B. lebende Pflanzen, Tiere und Menschen innerhalb des Normbereichs). Selbst bei Berücksichtigung eines beliebig detailliert spezifizierten Aspekts aus der fast unendlichen Vielzahl der möglichen Aspekte, die Herrn X in seiner Komplexität beschreiben, ist die Möglichkeit einer Übereinstimmung nahe Null.
Wie ist also nun Herr X, wenn er es selbst noch nicht einmal weiß?
Frau Y, die von sich behauptet, eine verzauberte Katze zu sein, sich also weit außerhalb dieses gerade noch verstehbaren Bereichs befindet, hat in jedem Fall einen höheren Realitätsbezug als Herr X. Sie hat zwar den Bezug zu ihrem wahren Sein verloren und sie hat den realistischen Bezug zu den Individuen verloren, aber sie ist frei in ihrer Wahrnehmung des eigenen Selbst. Sie stellt etwas dar, was ihrem wahren Sein nicht mehr entspricht und sie orientiert sich bei der Beurteilung ihres Seins nicht mehr an solchen Werten, die von der Mehrzahl der Beurteilenden verstanden werden können. Frau Y orientiert sich aber vor allem auch nicht an solchen Werten, die ihr von der Gemeinschaft der beurteilenden Individuen aufgezwungen wurden. Sie ist frei in ihrer Wahrnehmung und ignoriert die Beeinflussung ihres eigenen Urteilsvermögens durch gesellschaftliche, soziale oder politische Normen – durch nahezu alle Normen. Sie ist viel eher eine verzauberte Katze, als etwas, was die Gesellschaft aus ihr innerhalb des Normbereichs gemacht hätte.
Sie wird sowohl inner- als auch außerhalb des Normalen wesentlich mehr Individuen zu einer übereinstimmenden Einschätzung ihrer Person bewegen als Herr X jemals. Innerhalb der Norm wird sie als verrückt beschrieben, als solche toleriert und ihr wird wohlwollend zugesprochen, vielleicht doch eine verzauberte Katze zu sein und außerhalb der Norm wird sie als Katze geliebt oder gehasst. Das kann Herr X nicht von sich behaupten, da er durch den Anspruch an Normalität dem gnadenlosen Urteil eines jeden Menschen ausgesetzt ist und Wohlwollen durch nichts erzeugt.