Читать книгу Auf der Spur der Sklavenjäger - Alexander Röder - Страница 10
Drittes Kapitel Ein Schwur unter Kriegern
ОглавлениеHalef stutzte. „Du weißt, Sihdi? Heißt das, du weißt es, weil ich es soeben ausgesprochen habe oder weil du es bereits geahnt hast?“
„Ich ahnte es, und nicht allein seit jener Schänke, wo ich mit dem Mann sprach, der uns das Brot brachte. Ich fürchtete es bereits seit Dauha, als du mir von deinen unbedachten Worten gegenüber Abu Kurbatsch berichtet hast, ohne deinen Fehler zu erkennen. Doch da war es bereits zu spät.“
Jetzt erst begriff Halef und schlug die Hand vor den Mund, als er sich erinnerte. Er holte Luft, um zu Worten des Bedauerns anzusetzen, als Amscha ihn an der Schulter griff und zu sich herumdrehte.
„Was hast du getan?“, fragte sie scharf. „Du hast zu verantworten, dass die Verbrecher meine Töchter entführt haben?“
„Mutter, ich …“, stammelte Halef. Doch dann wurde er von Malek unterbrochen.
„Halef“, sagte er mit tiefer Stimme. „Durch dich haben die Haddedihn tapfere Männer und wertvolles Vieh verloren. Dafür wird Amad el Ghandur dich nicht allein deines Sitzes im Stammesrat entheben müssen, sondern dich auch des Stammes verweisen.“
Halef stand wie erstarrt. Auch mich ergriff das Entsetzen, wenngleich ich sehr wohl um die Zwangsläufigkeit dieser Entscheidung wusste.
„Aber“, fügte Malek an, „es ist mir unmöglich, allein als Haddedihn zu denken. Es geht hier auch um meine Familie, zu der du, Halef, unauslöschlich gehörst. Ich werde mit schwerem Herzen die Familie vor den Stamm setzen und deine Schuld dem Scheik nicht sogleich enthüllen. Du wirst meine Enkeltöchter wohlbehalten zurück in den Schoß des Stammes und der Familie bringen. Dann erst wird das Stammesgericht über dich befinden. Meine Stimme hat Gewicht und ich werde dir wieder gewogen sein, wenn du mich wieder mit meinen Kindeskindern vereint hast.“
Halef nickte schwach. „Hab Dank, Vater. Du bist gerecht, selbst einem Sünder wie mir gegenüber.“
Malek schaute zu Amscha, die noch immer zornig auf Halef blickte. „Meine Tochter, ich war noch vor wenigen Herzschlägen nicht dazu bereit, dir diesen Rachezug zu erlauben. Ich hätte gefordert, dass du bei deinem Enkel und meinem Urenkel Kara verbleibst, solange seine Mutter, deine Tochter, meine Enkelin, in den Händen der Entführer ist. Auch sorgte ich mich um deine Wunden. Denn sollte Allah mich auf die schwerste aller Arten prüfen wollen, so hätte ich am Ende alle meine Töchter und Tochterstöchter verloren. Doch nun will ich deinem Wunsch und Willen nachgeben. Damit du neben dem Leben deiner Töchter auch die Ehre von Halef retten kannst.“
„Hab Dank, Vater“, presste Amscha zwischen den Lippen hervor. „Ich werde tun, was mir möglich ist. Aber hier und jetzt schwöre ich, dass ich meinen Schwiegersohn Halef als Fremden und Feind ansehen werde, sollten Hanneh und Djamila zu Schaden kommen. Wenn er dann aus dem Stamm verstoßen würde, spräche ich eine Intikam gegen ihn aus.“
Halef trat einen entsetzten Schritt von Amscha zurück.
Doch diese beachtete ihn nicht mehr, sondern fasste mich ins Auge. „Und du, Kara Ben Nemsi, der du der Herr meines törichten Schwiegersohnes bist und ihn nicht vor jener größten aller Torheiten bewahrt hast, die er durch seine Prahlsucht und sein Mundwerk verursachte, auch dich, Kara Ben Nemsi, werde ich mit Blutrache belegen, wenn meine Töchter zu Schaden kommen.“
Dann trat sie mir entgegen und streckte die Hand aus. „Doch zuvor lass uns einen Pakt schließen. Du schwörst mir bei deinem Namen, der auch der Name meines Enkelsohnes ist, dass du alles daransetzt, damit ich meine Blutrache nicht aussprechen muss, denn ich weiß ja, dass du diese nicht schätzt.“
Ich ergriff ihre Hand. Ich musste nicht spitzfindig ihre Argumente zerpflücken, weder in Worten noch Gedanken. „Das schwöre ich.“
„Das ist gut“, sagte sie und hielt meine Hand fest. „Und da ich dich und deine Waffen brauche, um meine Töchter zu retten, will ich nun, dass du meine Worte über Blutrache vergisst.“ Sie warf einen knappen Blick zu Halef und schaute dann wieder mich an. „So wie auch Halef. Ihr sollt mir nicht mit Furcht begegnen und nur aus solcher heraus meine Töchter retten, sondern weil ihr es selbst wollt – woran ich keinen Zweifel habe!“
„So sei es“, bekräftigte ich. Und endlich entließ Amscha meine Finger aus ihrem Griff, der mich so hart umfangen hatte, dass ich wahrhaftig überrascht war. Diese Frau wollte man nicht zur Feindin haben.
Während dieser Szene hatte Sir David mit halb geöffnetem Mund dagestanden und von einer Person zur anderen geblickt. Er konnte wohl kaum fassen, was er da an orientalischem Gerechtigkeitsempfinden und Schwüren erlebt hatte. Er schien mir ein wenig grau im Gesicht geworden sein, doch das mochte auch am Widerschein seiner Kleidung liegen, hier im sonnenhell durchfluteten Zelt der Amscha. Er räusperte sich und verkündete dann feierlich, wenn auch wohl etwas zögernd:
„Edle Lady Amscha, seid versichert, dass auch ich meinem Freund Kara beistehen werde, ebenso meinem Freund Halef, dass Eure beiden Töchter, von denen ich ja besonders Miss Djamila kennen und schätzen gelernt habe, wohlbehalten …“
Amscha lachte, kehlig zwar, aber nicht spöttisch, sondern dankbar. „O edler Ingles, sprich nicht weiter, ich glaube dir auch ohne viele schöne Worte, denen ich Taten vorziehe. Und deine Taten kenne ich, seit du damals an Kara Ben Nemsis Seite im Tal der Stufen gefochten hast, um die Feinde der Haddedihn zu besiegen.“
„Ja gewiss“, gab Sir David zurück und zählte die Namen der Stämme an den Fingern ab, wobei er einmal die Hand wechseln musste, denn die andere war seit jenem Schicksalskampf ja nicht mehr vollständig. „Die ruhmreiche Schlacht zwischen den Haddedihn, den Abu Mohammed und den Alabeide auf der einen Seite gegen die Abu Hammed, Dschowari und Obeide auf der anderen. Ein glorioses und erfreulicherweise blutloses Ringen, von dem die Nachfahren noch lange singen werden!“
Ich musste Sir David einigermaßen erstaunt angeblickt haben, denn er räusperte sich erneut und nickte nur knapp, worauf er sich verbeugte. „Ich stehe zur Verfügung, Mylady Amscha Bint Scheik Malek.“ Er räusperte sich zum dritten Mal. „Ja, nun. Dann sollten wir wohl aufbrechen, zur Verbrecherjagd – wenn die Schurken wollen, dass wir sie verfolgen und suchen, wenn sie so eine wild goose chase verlangen, ich habe in den schottischen Hochmooren schon genug geflügeltes Getier aufgespürt und zur Strecke gebracht, o ja!“
Dann rammte er die Fäuste in die Seitentaschen seiner Jacke und stand da, während er vor sich hin nickte.
Was war nur in den Lord gefahren, der sich sonst doch so souverän und streng gab? Weitere Überlegungen dazu unterbrach nun aber Haschim, der das Wort ergriff.
„Auch ich stehe an der Seite von Kara Ben Nemsi und dem Hadschi Halef. Und ich glaube, dass ich nicht allein durch Kampfeskraft dazu beitragen kann, die Sklavenhändler zu finden, zu fassen und zu strafen. Ich denke, dass auch meine bescheidenen Kenntnisse anderer Art hierbei helfen werden.“ Er warf mir einen wissenden Blick zu, doch bevor die anderen Anwesenden hätten rätseln können, sprach Haschim weiter: „Schließlich haben die Sklavenhändler in allen großen Städten ihre geheimen Anlaufpunkte, die ich als Reisender und Forschender in den Belangen von Wissen und Weisheit durchaus in Erfahrung bringen kann, weil ich Menschen kenne, die sich mit Verborgenem aller Art befassen.“ Er hob die Hand. „Aber ich möchte die Worte des Lord Lindsay aufgreifen. Wir sollten aufbrechen. Wenn Kara Ben Nemsi die Berichte der Haddedihn über den Angriff gehört und als erfahrener Spurenleser den Grund betrachtet hat, werden wir die Richtung wissen, in der wir suchen müssen.“
Alle Versammelten schienen froh, dass die Zeit der Schwüre, gar Drohungen und Eingeständnisse vorüber war und wir zur Tat schreiten wollten.
„Ja“, sagte ich, „es wird schwierig sein, sich zu entscheiden, welche der Spuren wir verfolgen sollen, die von den in viele Gruppen aufgeteilten Schurken hinterlassen wurden. Aber da den Haddedihn überlassen sein mag, die gedungenen Brandschatzer und Viehschlächter zu verfolgen …“
„Was bereits unternommen wurde, Kara Ben Nemsi“, warf Malek ein wenig streng ein.
„… so glaube ich doch“, fuhr ich fort, „dass die Entführer sich gewiss nicht nach Süden begeben haben, von wo sie gekommen sind. Das wäre zu einfach, da sie ja wissen, dass wir wissen, wer sie sind.“
„O Sihdi“, meldete Halef sich nach seinem langen, betretenen Schweigen wieder zu Wort, und man hörte an seiner Stimme, dass er erleichtert war, sich in gewohnten Planungen der Verbrecherjagd zu befinden. „Aber was, wenn sie genau dies bedacht haben? Und sie so denken wie du? Dann sind doch wieder alle vier Himmelsrichtungen möglich.“
Sir David räusperte sich und begann eifrig aufzuzählen: „Und die vier dazwischen und die vier und vier weiteren Unterteilungen der Windrose, also insgesamt …“
„Lord“, unterbrach Haschim ihn sanft, „wie wäre es, wenn wir die Erwägung der Richtungen unter freiem Himmel unternehmen würden? Es ist doch recht warm und stickig hier drinnen, und wir brauchen einen kühlen Kopf.“
„Ja gewiss, Scheik, eine vortreffliche Idee. Und ich kann Lady Amscha dabei helfen, ihr Gepäck nach draußen zu befördern, wenn es ihr denn genehm ist …“
Amscha schaute den Lord mit ungerührter Miene an, wies dann aber auf die Bündel am Boden. „Meine Waffen trage ich selbst“, bemerkte sie. Dann schaute sie in die Runde. „Welche Reittiere sollen wir nutzen? Pferde oder Dschemmel? Es hinge von der Richtung ab, und durch welche Landschaft uns die Verfolgungsjagd führt.“
Haschim öffnete die Hände. „Falls wir Pferde benötigen, werde ich die Haddedihn um einige ihrer prächtigen Tiere bitten. Ich stelle meine Meharis gern als Pfand zur Verfügung. Und ich werde Nachricht zu meiner Heimstatt senden, dass an einem geeigneten Punkt der Reise meine Stute Risha als mein Reittier bereitsteht, und das Ross der Haddedihn zurückerstatten. Dann soll das betreffende Mehari als Gabe bei diesen verbleiben.“
„Eine edle Gabe“, nickte Malek.
„Meine Hilfe gebe ich noch einmal so gern.“
Ich wandte mich an Malek, mit einer Frage, die ich aus Anstand bislang zurückgehalten hatte, die mir aber nun angebracht schien. „Ich würde bei der Entscheidung für Pferde dann um meinen Hengst Rih bitten, den ich der Obhut der Haddedihn anvertraut hatte.“
Malek nickte. „Ich spüre deine Sorge. Aber Rih ist wohlauf. Er war bei dem Überfall unter den Pferden, die außerhalb des Lagers standen. Kara Ben Halef saß in seinem Sattel.“
„Der Gedanke erfreut mich“, gab ich zurück.
„Gehen wir“, sagte Malek und öffnete den Verschlag des Zelteingangs.
Draußen bat Malek uns zum Willkommensmahl oder doch eher einem schmucklosen Imbiss, um uns nach dem Ritt der letzten Wegstrecke zum Duar der Haddedihn wieder zu Kräften kommen zu lassen. Es war nicht die Zeit noch der Anlass, unser Wiedersehen nach alter Sitte zu feiern, in diesen schweren Stunden. Zumal das Willkommensmahl auch ein Abschiedsmahl sein würde, vielmehr eine Stärkung wie am Vorabend eines Feldzugs. Wir würden kurz rasten und dann nach Spurensuche und Erwägung eines Plans zur Verfolgung der Entführer aufbrechen.
In diesen kurzen Stunden nahm Amscha mich beiseite, als Halef bei seinem Söhnchen Kara weilte.
Sie schaute mich mit etwas müden Augen an. „Verzeih, dass ich dich so hart angegangen bin. Auch dauern mich meine Worte gegenüber Halef. Aber ich war so voll Zorn über die Schandtaten der Verbrecher – und als ich zudem noch erfuhr, dass Halef …“
„Ich verstehe dich“, gab ich sanft zurück. „Wenn ich auch weiß: Nie könnte ich je deine Gefühle nachempfinden. Doch auch Halef leidet sehr. Wegen der Entführung, des Überfalls und seiner Worte in Dauha, die dazu führten. Du siehst, auch wenn du stets auf Waffen geschworen hast, dass Worte nicht minder verletzen können. Auch die deinen.“
„Das weiß ich wohl. Ich musste so sprechen, weil mein Vater zugegen war. Er hätte mir, wie er zugab, nicht erlaubt, den Rachezug zu unternehmen. Er empfindet mir gegenüber noch immer, als sei ich ein Kind.“
„Du bist sein Kind.“
„Ich bin seine Tochter. Die Bint-Scheik-Malek. Nicht das Tifil-Scheik-Malek. Dennoch will er über mich bestimmen, als sei ich kaum der Mutter entwöhnt.“
„Er sieht sich noch immer als der Beschützer, als der Mann, der …“
„Weil ich keinen Ehemann genommen habe, der mich beschützt? Nein: der über mich bestimmt!“ Sie verzog das Gesicht. „Wie hätte ich dies tun wollen, nach dem, was …“
Sie sprach Abu Seifs Namen in einer Abwandlung aus, die ihn als scheußlichen Fluch erklingen ließ, was ich hier unmöglich wiedergeben kann.
„Aber nun“, sprach Amscha weiter und da begannen ihre Augen wieder zu brennen, „nun kann ich wahrlich Rache nehmen. Halef ist mir damals zuvorgekommen, als er den elenden Piraten erstach, der mich entführt und geschändet hatte.“
Sie sprach das Wort emotionslos aus. Sie hatte all dies über die Jahre dadurch ertragen, dass aus dem Verbrechen Abu Seifs ihre beiden Töchter Hanneh und Djamila hervorgegangen waren. Doch nun brach der gerechte Zorn aus ihr hervor.
„Wenn die Entführer Sklavenhändler sind, wie du sagst, dann sind sie Piraten oder stehen mit solchen im Bunde. Sie werden stellvertretend meine Rache erleiden. Nicht um meinetwillen, sondern wegen meiner Töchter.“ Sie musterte mich. „Ich sehe, dass du mich nicht schelten willst, obwohl ich jenes Auge-um-Auge fordere, das in dem heiligen Buch steht, welches dem der Christen und dem der Muslime voranging, wie ich hörte.“
„Ich bleibe dabei, dass die Gerechtigkeit die Verbrecher richten wird, und nicht unsere eigenen Hände.“
„Außer, es kommt zum Kampf, bei dem wir uns mit unseren Händen verteidigen müssen. Das waren einst deine Worte.“
„Sie sind es noch immer.“
„Es wird zu diesem Kampf kommen, Kara Ben Nemsi. Nicht weil ich ihn will oder fordern werde, sondern weil die Schurken ihn beginnen werden, denn so ist ihr Wesen und ihr Schicksal.“
„So sei es, Amscha, Mutter von Hanneh und Djamila. Mein Schwur gilt.“
„Dann lass uns zur Nacht speisen. Worte allein geben keine Kraft zum Kampf.“
Ihr Blick war dann doch mütterlicher als ihre harschen Worte zuvor.
Ich suchte Halef, denn ich hatte ihn seit dem Wortwechsel in Amschas Zelt nicht mehr gesprochen. Gewiss war er bei der vorigen Mahlzeit zugegen gewesen und auch bei den Planungen und Erwägungen zur Verbrecherjagd, doch ich hatte seitdem nicht persönlich mit ihm reden können. Ich fragte nacheinander bei einigen Beduinen, ob sie denn wüssten, wo der Hadschi Halef sich im Duar aufhalten würde, und neben der Antwort erhielt ich aufgrund ihres Verhaltens auch die Bestätigung, dass Malek niemandem von Halefs Verfehlung berichtet hatte, selbst Amad el Ghandur nicht, denn gewiss hätte es auch dort neugierige Diener oder Dienerinnen gegeben, die inzwischen geschwatzt oder die empörende, verschreckende Kunde weitergegeben hätten. Ich verstand also nur zu gut, dass Halef sich zurückgezogen hatte, denn er befürchtete wohl ebensolches Reden, welches vielleicht in Vorwürfen, gar in Tätlichkeiten geendet hätte. Die Haddedihn sind wie alle Beduinen sanft, edel und ehrbar, doch wenn es eben um diese Ehre geht und um das Wohlergehen des Stammes, können sie recht ruppig werden.
Ich fand Halef, seltsam genug, in jenem Zelt, das den Beduinenkindern als Schule diente, weil dort der deutsche Lehrer Lohse sie in allerlei westlichen und auch orientalischen Dingen unterrichtete. Ich hatte ihn einst den Haddedihn empfohlen, als ihre Scheiks sich entschlossen, im Hinblick auf die Zukunft ihre Kinder klug zu machen. Nun, es mochte auch Halefs Wort gewesen sein, das den Ausschlag gab, indem er ja oft über seinen Sihdi gesprochen hatte und ich selbst im Stamm wohlgelitten war, seit ich durch mein Mitkämpfen den Frieden gebracht hatte.
Mir fiel auf, dass ich Lohse an diesem Tag noch nicht gesehen hatte. Ich kannte ihn kaum. Seine Entsendung aus Deutschland zu den Haddedihn war über ein Lehrerseminar erfolgt, von dem ich Kenntnis hatte, sowie über Kontakte zum Ministerium des Auswärtigen, dem Diplomatischen Dienst und dergleichen. Ich wusste aber, dass Lohse sich souverän und klug seiner Aufgabe gestellt hatte, von den Haddedihn liebgewonnen und geschätzt wurde, und so machte ich mir keine Sorgen. Zum ersten und bislang letzten Mal hatte ich ihn persönlich getroffen, als wir mit Djamila zu den Haddedihn heimgekehrt waren. Aber bei der großen Feier zu Ehren der wiedergefundenen Tochter und Enkelin war mir keine Gelegenheit für mehr als einen kurzen Plausch unter Landsleuten geblieben. Und am darauffolgenden Tag hatten Halef und ich uns bereits auf den Weg nach Istanbul gemacht, um von dort aus unseren Kampf gegen den geflohenen Al-Kadir und den wiedererstandenen Schut aufzunehmen.
Lohse war mir also so gut wie unbekannt, doch ich hatte von Halef so einiges von ihm gehört, wenngleich eher durch die gelegentlichen Zitate, die mein kleiner Freund aus dem dargebotenen Unterrichtsstoff dann und wann und zu meiner steten und überraschten Verwunderung anbrachte. Denn es war so, dass Halef es sich zur hoheitlichen Aufgabe gemacht hatte, wann immer er im Lager der Haddedihn zugegen war, den Unterricht des Lehrers Lohse zu überwachen, wie er es stets nannte, damit den Stammeskindern kein Unfug erzählt würde. Halef saß also still im Hintergrund und lauschte den Ausführungen – doch, wie ich es verstand, weniger streng und wachend, als vielmehr aufgeweckt und interessiert. Ich glaube ja, er wollte seinem Sihdi in dem, was man Allgemeinbildung nennt, nicht allzu viel nachstehen, und ich will großmütig sein und ihm seine Bemühungen als erfolgreich bescheinigen.
Es schien mir somit verständlich, dass Halef sich an diesen jetzt so stillen Ort zurückgezogen hatte, denn die Kinder waren nicht zugegen, wie ja auch Lohse nicht. Für einen Herzschlag befürchtete ich, er sei vielleicht unter den Gefallenen des Angriffs, doch dies hätte man mir sicher vermeldet. Ich wusste aber, dass Lohse sich zu gewissen Zeiten auch einen Heimaturlaub gönnte, denn wie ein jeder weiß, brauchen auch die Lehrer ihre Ferien. Dies sei nicht als despektierlich verstanden. Ich kann mir trotz mangelnder Erfahrung – und das ist selten genug – durchaus vorstellen, dass die Arbeit mit Kindern wohl recht anstrengend ist, zumal wenn sich darunter auch eine Piratentochter wie Djamila befindet. Denn ich hatte gehört, dass auch diese an dem Unterricht teilnahm, selbst wenn sie in einem Alter war, wo sie der Ansicht des Stammes nach eher eine Familie gründen und den Haushalt besorgen sollte. Aber da sie auch die Tochter von Amscha war, sah man ihr dieses wenig traditionelle Verhalten wohl nach.
Wie ich so an die entführte Djamila und die ebenso entführte Hanneh dachte, leuchtete mir ein, warum Halef das Schulzelt als seinen Rückzugsort gewählt hatte. Das eigene, verlassene Familienzelt wäre wohl zu bedrückend gewesen.
Ich öffnete die Zeltbahn und sah tatsächlich Halef ohne Lampe dort sitzen, obgleich es dunkel geworden war. Die Schemen der Gegenstände ließen mich begreifen, dass das Schulzelt auch das Wohnzelt des Lehrers Lohse sein mochte, denn neben den orientalischen Kissen und Kästen erkannte ich tatsächlich ein Kathederpult, sowie einen Schreibsekretär samt Stuhl, daneben ein Feldbett. Allzu beduinisch wollte der Lehrer also doch nicht leben, aber ich beneidete ihn nicht darum, all diese sperrigen Möbel zu transportieren, wenn die Haddedihn herumzogen.
Halef saß auf einer der Bodenmatten und es mochte sein, dass dies sein üblicher Platz war, von dem er auch dem Unterricht lauschte, nein: ihn überwachte.
„Halef“, sagte ich sanft, „darf ich mich zu dir setzen?“
„Sicher, Sihdi“, antwortete er leise und zu meiner Erleichterung ohne Groll in der Stimme, denn er mochte mir vielleicht gram sein, weil ich ihn nicht schon in der Schenke gewarnt hatte und ihm dann gegenüber Amscha und Malek besser hätte beistehen können.
Ich ließ mich nieder. „Das ist also das Zelt der Lehren“, bemerkte ich, um etwas zu sagen, das nicht mit den schrecklichen Ereignissen und unschönen Geschehnissen zu tun hatte, und nutzte dabei den Begriff, welchen auch die Haddedihn verwendeten.
„Ja, Sihdi, und du fragst dich sicher, warum ich hier sitze.“
„Weil es hier ruhig ist.“
„Ruhig ist es auch andernorts im Duar, und leider auch, weil dort tatsächlich Totenstille herrscht. Wir können froh sein, dass die Klagezeit und die Begräbnisse vorüber sind, sonst würde ich es kaum ertragen.“
„Es ist doch nicht …“ Welch dummes, unbedachtes Floskelwort!
„Doch, es ist meine Schuld, Sihdi!“
„Dann ist es die meine nicht minder, denn ich bin dein Freund.“
„Du hättest besser mein Herr und Lehrer sein sollen“, befand Halef zerknirscht, „und mir beizeiten mein loses Mundwerk und die Prahlsucht austreiben. Dann hätte ich nicht so dumm dahergeredet gegenüber Abu Kurbatsch.“
„Quäle dich nicht, Halef! Wer hätte ahnen können, dass der Besinnungslose es hat hören können. Oder ein verborgener Lauscher, von denen es allerorten doch so viele gibt – das weißt du so gut wie ich. Und wir wissen auch, dass es noch andere Wege gibt, Dinge zu erfahren. Jüngst haben wir es bei Haschim erlebt.“
Halef nickte. „Ohne die Magie des Spiegelsteins hätten wir erst viel später von dem Überfall erfahren – und vielleicht wären dann alle Spuren verweht und unverfolgbar.“
„Das nun glaube ich nicht – denn die Verbrecher wollen ja ein Spiel mit uns spielen. Sie wollen, dass wir sie verfolgen. Und sie werden uns wohl selbst Hinweise geben, um uns zu quälen.“
„Das gelingt ihnen bereits jetzt.“
„Ja, Halef, aber bedenke: Solange wir den Sklavenhändlern nicht gegenüberstehen, müssen wir uns nicht um Hanneh und Djamila sorgen. Wollten diese Schurken nur blutige Rache, so hätten sie die Deinen getötet und nicht entführt. Diese Männer wollen Genugtuung und Ersatz für ihren Verlust. Ich glaube, dass sie nach ihrem gemeinen Spiel auf einen schlichten Handel aus sind, denn sie sind doch Kaufleute, selbst wenn ihre Ware auf abscheuliche Weise aus Menschen besteht.“
„Aus Frauen, Sihdi. Aus weißen Frauen. Und aus diesem Grunde hoffe ich, dass der Stamm nicht erfährt, dass er von Sklavenhändlern überfallen wurde.“
„Weil den Haddedihn dann zu dem Verlust von Kriegern und Vieh auch noch die Schmach zuteilwürde, dass Beduinenfrauen am Sklavenmarkt keinen Wert haben und deswegen keine entführt wurden? Halef, verzeih mir, aber obwohl ich den Orient gut kenne, so ist mir manches doch noch immer fremd, und das sind einige Ausprägungen des Ehrbegriffs.“
„Das sagst du, Sihdi, als Europäer. Und ich verstehe das, weil ich von dir viel erfahren habe. Aber ich weiß, dass du auch verstehst, wie es mir mit der drohenden Blutrache und dem Ausstoß aus dem Stamm ergeht …“
„Das werden wir zu verhindern wissen, indem wir Djamila und Hanneh retten und den Stamm entschädigen. Aber nicht verhindern können werden wir das Gerede. Die Sklavenhändler haben sich zu den Haddedihn durchgefragt und dabei von Halef dem Mörder gesprochen. Dies wird bald hierher dringen, und …“
„Sihdi, ich möchte lieber als Mörder gelten, zumal an Sklavenhändlern, als dass ich als dummer Tölpel gelte, der seine Zunge nicht im Zaum hat und deshalb Schaden über die Seinen bringt!“
Ich fasste Halef bei der Schulter. „Wir werden alles richtigstellen und Weiteres vereiteln. Zunächst ist wichtig, dass wir Hanneh und Djamila retten. Und wir müssen klug sein und uns nicht von den Sklavenhändlern gängeln lassen. Wir müssen ihnen zuvorkommen, selbst auf ihre Spur kommen, ohne auf etwaige Hinweise zu warten. Sir David hat wohl Recht mit seinem Begriff von der wild goose chase, was übersetzt gar nicht die Pirsch auf wildes Geflügel meint, sondern Schnitzeljagd bedeutet. Das wiederum …“
„Ich weiß, Sihdi. Lehrer Lohse schwärmt davon. Schnitzel sind Schischkebab, nur ohne Spieß. Gebratene Fleischscheiben, aber nicht vom Hammel, sondern vom Schwein. Lohse ist ein guter Mann, aber eben doch ungläubig, was das Essen betrifft. Ich verstehe aber, warum ihr Germani lieber hinter gebratenem Fleisch herjagt als die Inglesi, die rohes Federvieh so schätzen, dass sie eine Verfolgungsjagd damit benennen.“
Ich wollte nun nicht ausführen, dass bei einer Schnitzeljagd statt Gebratenem doch eher Fetzen von Papier als Hinweise auf den Weg verstreut werden, denn Halef hätte es wohl für eine Eigentümlichkeit der papierversessenen und tintenklecksenden Deutschen als Volk der Dichter und Denker gehalten – was ja auch hierzulande manche als brotlose, oder eben fleischlose Kunst verstehen. Halef hatte es im Grunde begriffen und damit war ich zufrieden. Er hatte aber wieder den Lehrer Lohse angesprochen.
„Wo ist denn der Herr Lehrer, der hier lehrt und auch wohnt? Weißt du, ob er nach Deutschland gereist ist?“
„Aber Sihdi“, meinte Halef, fast ein wenig empört, „was glaubst du denn von deinem Landsmann! Der fährt doch nicht faul in die Sommerfrische. Er hat dieses Land und die Leute so liebgewonnen, dass er nicht nur hierbleibt, sondern auch fast schon ein Bedu geworden ist. Er vergräbt sich nicht wie ein Gelehrter in seinen Büchern.“
Halef deutete auf ein schiefes Regal, in dem etliche Bände standen und auch Bündel von Papier, anscheinend beschrieben. Der gute Mann arbeitete wohl an einem Buch oder Ähnlichem.
„Nein“, fuhr Halef fort, „er reitet auch mit den Pferden aus und begleitet den Verkauf von Wolle und dergleichen. Er ist sehr geschickt, wenn es mal um das Verhandeln mit Ausländern geht.“
„Ach, der Mann kann reiten?“
„Nicht nur das, er ist sogar Krieger gewesen. In dem großen Kampf der Germani gegen die Franci, vor fünf Jahren. Da, wo du keine Zeit hattest, Sihdi.“
„Ach bitte, Halef, sag das doch nicht so, ich hatte meine Gründe. Und ich weiß das mit Lohses Soldatenkarriere doch längst, auch dass Lohse sogar in einem anderen Gefecht war, noch weitere fünf Jahre zuvor, wo es gegen die Österreicher ging, von denen du ja einige unangenehme Genossen bei unserem Besuch in Kotor kennenlerntest. Aber zurück zu Lohse. Ich wusste wohl, dass er militärische Ausbildung hat und gut schießen kann, weil er dir doch auch etwas Schießunterricht erteilt hatte, wohlgemerkt aber mit der feinen Büchse, die ich dir zum Geschenk gemacht habe.“
„Das vergesse ich dir doch nicht, Sihdi!“
„Ich wusste nur nicht, dass Lohse gar bei der Kavallerie gewesen ist, wenn er sich so gut auf Pferde versteht.“
„Und deshalb hat er sich nach dem Überfall auch zu den Männern gemeldet, die die Verbrecher verfolgten. Nicht jene, welche das Lager zerstörten und das Vieh stahlen, sondern die Entführer. Aber ich glaube nicht, dass er deren Spuren findet. Da braucht es deine Kenntnisse, Sihdi.“
„Aber warum ist Lohse dann noch nicht zurück?“
„Andere Bedu sind ja auch noch nicht wiedergekehrt. Vielleicht hat Lohse sich später diesen angeschlossen, um die anderen Schurken zu jagen. Niemand von ihnen soll ohne Strafe bleiben!“
Ich erhob mich. „Das ist richtig, und es ist an der Zeit, dass wir solches in Angriff nehmen. Nun, Halef, dann lass uns essen und schlafen. Morgen früh setzen wir uns auf die Spur der Sklavenhändler.“
Auch Halef stand auf und wir traten aus dem Zelt des Lehrers Lohse.
Halef wandte sich an mich. „Ich habe dir noch nicht gesagt, warum ich mich hier in das Zelt gesetzt habe. Nicht, weil es ruhig ist.“
„Sondern?“
„Weil ich mich an die Stunden des Unterrichts erinnern wollte. Ich bin gern da und höre dem Lehrer Lohse zu. Er erinnert mich nämlich an dich, was sehr wohltut, wenn du mal wieder in deiner Heimat bist und ich dich vermisse.“
„Das freut mich, Halef, und es schmeichelt mir auch. Gewiss erinnert Lohse dich an mich, weil er ein kluger Mann ist und – ich will nicht eitel sein – eben sehr viel und oft über das redet, was er weiß.“
„Das auch, Sihdi. Aber vor allem, weil er so ein lustiges Arabisch spricht, mit unverkennbarem deutschen Akzent!“
„Aber Halef! Ich spreche doch akzentfrei Arabisch. Zumindest was den deutschen Akzent betrifft. Eher hört man von mir je nach Bedarf die Akzente, die ich bewusst beherrsche, vom nordafrikanischen Arabisch des Maghreb über jenes der Halbinsel bis zu dem des Zweistromlands und noch andere!“
„Aber auch immer mit deutschem Zungenschlag, Sihdi. Glaub mir das.“
„Ach, Halef, du willst mich foppen.“
„Wer weiß, Sihdi …“
Wir gingen um das Zelt herum, auf unserem Weg zum Zelt Maleks, wo wir zu Abend essen sollten. Ich bemerkte einige Käfige, die an der Zeltwand lagerten. Darin gurrte es leise.
„Versteht sich der Lehrer Lohse nicht nur auf Pferde, sondern auch auf Federvieh?“, fragte ich. „Will er dann und wann neben gerösteten Hammelschnitten auch ein gebratenes Täubchen verspeisen, mit grünen Erbsen?“
„Nein, Sihdi. Das sind Botenvögel, die fast so klug sind wie Scheik Haschims Falke Manakir. Der Lehrer Lohse nutzt sie manchmal, um mit den Kindern Post zu spielen. Oder Nachricht zu senden, wenn er mit den Bedu auf Verkaufsfahrt ist.“
„Das ist löblich, dass er nicht allein spielt, sondern auch Nützliches mit den Brieftauben unternimmt. Er sollte aber den Tieren die Zettelkapseln vom Bein nehmen, wenn sie in ihrem Schlag schlafen sollen.“
Ich deutete auf eine Taube, die zweifellos keinen Schlummer fand, sondern unruhig auf dem Geflecht des Käfigs umherstelzte. „Sie vertritt sich wohl die Beine“, sagte ich scherzhaft und wollte sie ergreifen, als ich bemerkte, dass die Käfige verschlossen waren.
Halef antwortete gerade auf meine erste Anmerkung. „Der Lehrer Lohse geht immer sehr sorgsam mit den Tauben um, und nimmt ihnen stets …“
„Halef, diese Taube ist nicht schlaflos aus dem Käfig gekommen“, erkannte ich und fühlte mich bestätigt, als ich sie ergriff und ihren Herzschlag spürte. „Sie ist erst vor kurzer Zeit hier angekommen.“
Ich griff nach der kleinen Lederkapsel an ihrem Bein und löste sie, schaute hinein. „Hier ist eine Nachricht!“
Rasch öffnete ich den Käfig, setzte die Taube sachte hinein, verschloss das Türchen und eilte mit der Nachricht zum nächsten Feuer, Halef hinterdrein.
Ich entrollte das Papierchen, und darauf stand etwas in Arabisch zu lesen, in einer Handschrift, die deutlich einem Europäer gehörte, der ja eine andere Schreibrichtung gewohnt ist und deshalb auch nach Jahren der Übung einen gewissen eigentümlichen Federstrich nicht verbergen kann, einen Schreibakzent sozusagen. Diese Nachricht stammte also von Lohse, auch über die Tatsache der ihm zugehörigen Tauben hinaus.
Und sie lautete: „Die Spur führt nach Westen.“