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Sechstes Kapitel Düstere Deutungen
ОглавлениеIch spürte Sand und Steinchen zwischen meinen Fingern. Der Untergrund war fest und trocken. Rosiges Morgenlicht kam vom Himmel, der nicht mehr bleigrau erschien, sondern mehr und mehr an Blau gewann.
Neben mir, ebenso wie ich halb liegend, halb auf allen vieren, regte sich Haschim und hustete kurz. Wir beide lösten die Hände von dem Seil und schauten an dessen Linie entlang zu den drei Gestalten, die einige Schritt entfernt standen und uns besorgt betrachteten.
Nein, es waren nur Halef und Sir David, die furchtsam blickten und deren Anspannung sich gerade löste, ebenso wie sie erleichtert die Arme sinken ließen, mit deren Muskeln sie uns aus der Gefahr gezogen hatten. Amscha hingegen hatte eine nüchterne Miene aufgelegt und ging in diesem Augenblick rasch auf uns zu und streckte die Hand aus.
Ich hob meine eigene, um mit matter Geste abzuwinken: Amscha musste mir nicht aufhelfen, ich fühlte mich verwirrt, aber kräftig und setzte bereits einen Fuß nach vorn, um mich zu erheben. Doch Amscha schritt ohnehin an mir vorüber, etwas zur Seite hin und griff nach einem Holzstab, der in die Luft ragte. Ich wandte meinen Blick eilig, für einen Herzschlag fürchtete ich – doch es war nur ein Speer, den Amscha aus dem Sandboden zog.
Nein, nicht aus dem Sand zog sie ihn. Ich richtete mich auf und sah, wie die metallene Spitze aus einem dunklen Federbündel glitt. Ich erkannte den nackten Hals eines großen Geiers und dessen tote Augen und den gebogenen Schnabel, was mich eigentümlich erleichterte. Amscha stieß die Speerspitze in den Sand und bewegte den Schaft, um die Klinge vom Blut zu reinigen. Dass der Dscherid durch diese Prozedur auch wieder seine Schärfe erlangte, war der eigentliche Zweck, nicht etwa, die Spuren des erfolgreichen Wurfs zu tilgen. Ich fragte mich, warum Amscha den Aasvogel erlegt hatte. Doch alle anderen hatten wohl noch viel weitergehende Fragen.
Haschim stand nun neben mir und schüttelte mit beiläufiger, geradezu eleganter Bewegung den Sand aus seinem Gewand. Seine Kleidung wie auch die meine waren gänzlich trocken. Nichts deutete darauf hin, dass wir uns in einem Sumpf befunden hatten. Was war geschehen?
Halef sprach als Erster. „Sihdi, geht es dir gut? Und auch Haschim …“ Halefs Augen waren von Furcht und Zweifel verschleiert.
„Gewiss“, antwortete ich, mit einem Seitenblick zu Haschim.
„Well“, räusperte sich Sir David, der interessiert Amschas Hantieren mit dem Dscherid verfolgt hatte. „Glücklicherweise ist ein quick-sand, jener tückisch treibende Sand, nicht gar so tückisch, wenn helfende Hände rechtzeitig zur Stelle sind.“ Er deutete auf Amscha und dann auch auf Halef. „Wären diese beiden frommen Muslime nicht schon beim Morgengebet gewesen, während ich mir noch etwas snooze-Schlummer erlaubte, hätten wir nach Eurem Ruf, Kara Ben Nemsi, nicht so rasch reagieren können.“ Er nickte nachdrücklich und holte dann das Seil ein, welches er akkurat in Schlaufen legte, während Amscha mit dem Speer auf der Schulter herankam. Sie schaute mich mit schmalen Augen an.
„Dass du in den Treibsand getreten bist, mag ich kaum glauben“, sagte sie kühl. „Einem Spurenleser wie dir hätte das eigentlich nicht widerfahren dürfen.“
Halef schnaufte. „Es war doch noch dunkel!“, rief er; und dass er mir zur Verteidigung beisprang, war mir ebenso peinsam wie Amschas Anklage. Ich schalt mich ja selbst, und konnte doch – zur weiteren Erläuterung meines Fehltritts, so man ihn als solchen bezeichnen wollte – kaum den magischen Blick mittels des Musaddas angeben. Meine Gefährten, außer Amscha, wussten nun davon, doch änderte dies kaum etwas daran, dass ich unbedacht gehandelt hatte.
Haschim hatte kurz den Untergrund hinter uns betrachtet. Auch ich hatte bemerkt, dass hier tatsächlich der Boden so beschaffen war, dass er wie Treibsand wirken mochte.
„Die Verfehlung liegt bei mir“, verkündete Haschim. „Ich suchte diese Stelle unbedacht aus, für meine eigene Morgenhandlung. Ich bin kein so kluger Spurenleser wie Kara Ben Nemsi.“ Er senkte den Kopf gegenüber Amscha. „Und er kam durch glücklichen Zufall zu Hilfe, bevor ich zu rufen vermochte. Auch wenn ich ihn noch nicht so lange kenne, wie ihr anderen ihn kennt, so scheine ich doch eine innere Verbindung mit ihm zu haben.“
Amscha schaute streng. „Ja, ihr beiden ähnelt euch wohl in manchen Dingen.“ Sie setzte den Speerschaft auf einen Stein zu ihren Füßen, sodass der Dscherid vor ihr stand und ihre Gestalt scheinbar in zwei Seiten teilte. „Aber wenn ihr gleichermaßen ungeschickt handelt, dass ich – dass wir euch retten müssen, dann ist dies nicht hilfreich für unsere Aufgabe. Und noch weniger hilfreich für Halef.“ Dann klopfte sie mit dem Speerschaft auf den Stein, hob den Dscherid wie in einem Salut ein wenig empor und ging dann den Hang hinauf. „Es ist Zeit, dass wir aufbrechen“, sagte sie, ohne zurückzublicken.
Sir David schaute mich betroffen an. „Das Blut wird sich wohl nie abkühlen, wenn wir die Tage mit solchem Aufruhr beginnen. Ich werde Lady Amscha erinnern, dass wir vor der Reise speisen sollten. Vielleicht tut auch eine cup-of-tea ihr wohl – so wie mir.“
Dann nickte er, wohl mehr zu sich selbst, und folgte Amscha.
Halef biss sich auf die Unterlippe. „Ach, Sihdi …“
„Es tut mir leid, Halef. Ich hoffe, Amscha wird so gerecht sein, dass sie kommende Erfolge, die wir erreichen mögen, dir ebenso anrechnet.“
„Wer weiß, Sihdi“, sagte Halef mit einem Blick gen Himmel. Aber dann schaute er mich ernst an. „Ich will dich nicht schelten und meine Schmach zu der deinen machen – aber nun sage mir einmal den Grund, warum du in diesen verwünschten Rimal Muttarikah, diesen treibenden Sand, geraten bist!“ Er schnaufte und hob die Hand. „Edler Haschim“, begann er, „haltet mich nicht für ungerecht oder feige gegenüber Eurer Person. Aber wie meine Hamat Amscha sagte, so trifft die größere Schuld für diese Sache doch meinen Sihdi! Der sollte doch wissen, was er tut!“
Ich schwieg für einen Herzschlag betreten. Halef hatte zum ersten Mal für Amscha nicht die Bezeichnung Mutter gewählt, sondern eben jenes Wort, das für so manchen Ehemann und Gatten ein Schreckensbegriff ist, ganz im Gegensatz zum gleichgebildeten Begriff des Schwiegervaters.
Als ich dann antworten wollte, ergriff stattdessen Haschim das Wort. „Meine Bitte an dich mag ungewöhnlich sein, Halef. Aber schildere mir doch, was du und die anderen gesehen habt.“
Halef zwinkerte verblüfft. „Ja, ihr beide stecktet bis zur Brust im Treibsand und wir warfen euch das Seil zu, nachdem der Sihdi gerufen hatte.“
Haschim deutete über die Schulter, dorthin, wo sich die Sonne über den Horizont erhoben hatte, und dann wieder nach vorn zum Hang des Hügels. „Ihr habt in die Richtung des Sonnenaufgangs geschaut?“
„Ja, es war just der Augenblick, als das erste Licht aufschien. Es blendete ein wenig.“
„Es blendete sogar sehr, nicht wahr?“
Halef reckte sich. „Aber ihr beide wart gut genug zu sehen. Ich habe das Ende des Seils genau geworfen. So, wie der Sihdi es mir oft geschildert hat, wie er mit seinem al-lassu im Wilad Wasit Steppentiere und Bösewichte gefangen hat! Nur ohne die Schlinge daran, den Knoten kann ich nicht.“ Er zappelte ein wenig.
„Alles ist gut, Halef“, meinte ich und begriff, auf was Haschim hinauswollte. „Halef, es ist so, dass wir beide nicht wirklich im Treibsand steckten. Wir waren – an einem anderen Ort.“
Haschim gab ein kurzes Brummen von sich. „Nun, das ist nicht ganz zutreffend, Kara Ben Nemsi.“
Halef nickte. „Eben. Ich habe euch gesehen, trotz Sonnenblendung!“
Ich seufzte und deutete auf den Musaddas, der mir nun vor der Brust hing, da sich die Lederschnur während unserer Befreiung gelockert hatte.
Halef hob die Brauen. „Ach so! Ihr habt im Sand gesteckt, aber für euch hat es anders ausgesehen!“
Haschim öffnete die Hand in gebender Geste. „Richtig. Und zudem steckten nur unsere Körper im Sand, unser Geist war an jenem anderen Ort.“
„Wie sah der aus?“, fragte Halef, gleichsam neugierig und besorgt.
„Wie der Schott Dscherid“, erklärte ich, „der große Salzsee in Tunesien, den wir beide so gut kennen. Oder eben Erinnerungen daran haben, weil dort unser erstes großes Abenteuer begann, als wir den ermordeten Paul Galingré fanden, was uns schließlich auf die Spur des Schut führte. Zum ersten Mal immerhin.“
Ich seufzte, sah Halefs bitteres Nicken und sprach dann weiter. „Doch jener andere Ort war kein Salzsee, sondern ein Salzsumpf, mit mehr Wasserflächen und toten, dürren Bäumen darin. Es gab Nebel und grauen Himmel, Halef, es war wie in einem finsteren Traum.“
„Dann war es ein Traum, in dem ihr gesteckt habt, und nicht nur im Sand? Aber wer hat euch den Traum geschickt?“
Haschim nickte. „Das hast du gut erkannt, Halef. Dein Sihdi und ich sind nicht schlaftrunken oder im Morgendunkel unbedacht in den tatsächlichen Treibsand geschritten. Es war eine Falle! Aufgestellt für mich.“
„Jemand hat den Treibsand gemacht?“, fragte Halef zweifelnd. „So eine Verschwendung von Wasser!“
„Nein, Halef“, lächelte Haschim, „wenngleich ich mir vorstellen kann, dass manche eine solche Sandfalle aufstellen könnten. Diese hier war nicht mit Wasser gemacht, sondern mit Zauber gewirkt.“ Er atmete tief und schaute Halef an. „Es ist wohl so, dass nicht nur du, Halef, in Dauha unbedacht gehandelt und damit üble Dinge ausgelöst hast. Auch ich habe ungewollte Aufmerksamkeit auf mich gezogen, als ich meinerseits meine Kunst und Kraft angewendet habe, um das eine oder andere …“
Ich musste Haschim unterbrechen, da ich begriff, wie er wiederum meine eigene Schuld auf sich nahm. Dass Haschim in Dauha einen Zauber wirken oder zumindest handeln musste, wie es nur ein Magier verstand, und sich deshalb zu erkennen gegeben hatte, war ihm aufgezwungen worden. Ich hatte unwissend mit harmlos wirkenden Gegenständen hantiert, die ich bei dem von uns gefangenen Mann gefunden hatte, welcher bei den Sklavenhändlern dafür gesorgt hatte, dass die bedauernswerten Frauen wehrlos waren und an der Flucht gehindert wurden, durch einen Bann, welcher ihre Seelen an jene des Hexers kettete. Ich hatte die Münzen und Holzstäbchen und dergleichen beim Durchsuchen nach am Körper versteckten Waffen gefunden – und nichts verspürt, was mich gewarnt hätte. Schließlich war mir seit meinem Duell mit Al-Kadir jene Gabe verliehen, Magie und Zauber zu spüren – jedoch wohl nicht stets oder bei allen Dingen, wie ich bei dieser Gelegenheit von Haschim hatte erfahren müssen. Mein Ungeschick war dem Hexer fast zum Verhängnis geworden, Haschim hatte diesen retten und die Gegenstände unschädlich machen müssen. Die Spuren dieses knappen Rituals oder die Nachwirkungen des Geschehens, das ich ausgelöst hatte, mussten wohl andere Magiekundige erkannt haben, die mit den Sklavenhändlern zusammenarbeiteten.
„Haschim, es war mein Fehler, die Gegenstände des Hexers …“
„Doch ich habe dich nicht zuvor gewarnt. Und ich habe später mein Wissen genutzt, um die Schurken zu strafen, anstatt …“
„Es war gerecht, Abu Kurbatsch durch den Seelendurst des Hexers einige Lebensjahrzehnte zu nehmen, anstatt ihn zu töten. Denn einen Kerker hätte er wohl nie von innen gesehen, wenn wir ihn den korrupten Behörden ausgeliefert hätten.“
„Doch nur ein Magier wie ich konnte diesen Plan erdenken. Das haben die Gefährten Abu Kurbatschs erkannt und er selbst nicht minder. Sie wussten also am Ende von Halefs Namen und von meinem Wesen.“
Halef schnaufte. „Ich empfand es nur als gerecht, dass der Hexer sich an der Lebenskraft von Abu Kurbatsch zu Tode gesoffen hat!“ Er blickte Haschim an. „Wir teilen unser Schicksal und die Bürde, die wir auf uns geladen haben. Und ich werde euch immer retten, wenn es mir möglich ist!“
„Dank dir, Halef“, lächelte Haschim. „Aber ich fürchte, bei der nächsten Falle ist es mit einem Seil nicht getan.“ Er stutzte. „Es hat bereits diesmal auch einen Speer gebraucht.“
Haschim wandte sich um und musterte den Leichnam des Geiers. Dessen Federn waren dunkelbraun, wirkten beinahe schwarz, und man konnte den nackten Hals sehen, der bläulich und rosig schimmerte, darüber den hellen Flaum des Kopfes. Es mochte ein Mönchsgeier sein, der auch in diesen Breiten heimisch war. Um den geöffneten Schnabel, aus dem die schlaffe Zunge ragte, sah ich Blut, das aus dem Rachen gequollen war, hervorgerufen durch Amschas Speertreffer.
„Was ist da geschehen?“, fragte Haschim an Halef gewandt.
„Als wir euch zu Hilfe kamen, euch beide dort im Sand sahen, war der elende Racham bereits über euch. Er kreiste nicht, er flatterte auf der Stelle, als wolle er sich gerade auf euch stürzen, als wäret ihr schon …“ Halef schluckte und schaute bedrückt. „Ihr hattet euch ja nicht bewegt.“ Dann nickte er. „Aber dann dachte ich, dass ihr euch nicht rührt, damit ihr nicht tiefer in den Sand sinkt.“
„Der Geier flatterte über uns? Das ist ungewöhnlich“, merkte ich an. Gemeinhin verband man solches mit einem Greifvogel, der rüttelnd, wie man es nennt, in der Luft schwebt, um nach Beute zu spähen. Dass der Geier sich nicht durch die drei Menschen gestört fühlte, die herangekommen waren, schien mir seltsam.
„Das Tier war nur ein Stellvertreter in der wahren Welt“, befand Haschim, „herbeigerufen, um einen Lebensfunken dort zu haben, wo wir jenes Gebilde sahen, das zu uns sprach …“
Haschims Stimme klang mit einem Mal so brüchig, dass ich erschrak. Und auch Halef, der bereits den Mund geöffnet hatte, wohl um erstaunt nachzufragen, sog stattdessen nur knapp die Luft ein und schwieg.
Mit einer kurzen Geste fing Haschim sich wieder. „Es ist so, dass auch magische Visionen keineswegs aus dem Nichts geschaffen werden können, noch weniger ein Übergang zu einem anderen Ort. Es braucht für die Magie einen Anker, eine Verwurzelung in dieser Welt.“
Ich begriff, soweit mir dies gegeben war. „Dieser Fleck Sand dort ist also kein magisches Portal wie jenes, das wir im Gebirge des Sangesur zur Geisterwelt hin durchschritten haben?“
„Nein, es ist eine Falle, wie ich erwähnte. Schaut, dort.“
Haschim zeigte auf die Sandfläche, wo sie durch uns aufgewühlt worden war. Zwischen den Steinchen sah ich etliche kurze, dunkle Stäbchen, wie verdorrte Finger.
„Mangrovenholz“, erklärte Haschim.
„Deshalb erschien es uns wie ein Salzsumpf? Oder waren wir wirklich dort – im Geiste?“
Haschim lächelte schwach. „Wirklich und im Geiste – das ist eine philosophische Frage, nicht wahr? Aber diese führt uns nicht weiter. Ich weiß allerdings, welchen Ort wir geschaut haben, weniger von dessen Gestalt her, sondern wegen der Herkunft unserer Gegner.“ Haschim deutete vage nach Südosten. „Am Golf von Persien, zwischen den Landzungen von Katar und Oman, auf halbem Wege zwischen Dauha und Abu Dhabi, gibt es im Hinterland der Küste ein Gebiet, das Sabkhat Matti genannt wird, der Salzsee des Matti. Auch dort gibt es Sümpfe und Mangroven, wie überall an jenen Küsten, doch reichen sie tiefer ins Landesinnere als irgendwo anders. Und tief in diesen Salzsümpfen und Mangrovenwäldern liegt verborgen ein Haus, von dem ich nur habe erzählen hören. Es gehört einem Hexer, der einen üblen Ruf hat, selbst unter jenen Anhängern des ‚Linken Pfades‘. Man weiß wenig von ihm und spricht deshalb umso furchtsamer. Manche sagen, er herrscht über den Salzsumpf und lässt ihn weiter wandern, um in seinen Nebeln die Rub-al-Chali zu durchqueren, bis hin nach Hadramaut, weil es ihn nach dem Wissen der Gelehrten dürstet. Dann würde er sie töten und alle Schriften vernichten, damit er allein der Weiseste der Welt sei.“
Halef und ich schwiegen bedrückt. Wir kannten Hadramaut seit unserem jüngsten Abenteuer, und die Vorstellung, dass dieser Hort des Wissens vernichtet würde, war entsetzlich. Ein solches Geschehen hätte seinesgleichen wohl nur in der Zerstörung der alten Bibliothek von Alexandria, für welche allerlei Eroberer von Cäsar bis al-Khattab verantwortlich gemacht wurden; und auch wenn dies nicht stimmen sollte und die Zerstörung eher ein allmähliches Verschwinden über die Jahrhunderte war, so ist die Vernichtung von Wissen doch stets ein Verbrechen am menschlichen Geist, wenn nicht an der Seele. Auch wenn unsere eigenen bevorstehenden Prüfungen und drohenden Gefahren persönlich schmerzten, war ein solches doch um so vieles größer und in seiner Übermacht erdrückend.
Ich wollte dieses Gefühl abschütteln und machte deshalb den schwachen Versuch, nüchtern von jenen Dingen zu sprechen, auf die ich mich als Reiseschriftsteller verstehe.
„Es heißt, die Salzmarschen des Sabkhat tragen ihren Namen nach jemandem, der einst darin verschwunden ist. Vielleicht ein britischer Forschungsreisender namens Matthew oder ein jüdischer Kaufmann namens Matitjahu. Allesamt Namen, die sich vom Apostel Matthäus herleiten, dem Evangelisten, dessen ikonografisches Attribut ja das Buch oder die Schriftrolle ist …“ Ich brach ab, als ich Haschims regloses Gesicht sah. „Aber“, hauchte ich, „Matthäus starb den Märtyrertod auf Missionsreise in Syrien … oder Arabien … oder Persien … die Quellen und Legenden sind da uneins.“
„Mutmaßen wir nicht“, sagte Haschim und rang sich ein dünnes Lächeln ab. „Der Name ist weitverbreitet. Ich selbst kenne einen Mann namens Mato auf dem Balkan, der das Wissen ebenso schätzt, aber ein guter Mensch ist, und auch sein Domizil ist das gerade Gegenteil von einem Salzsumpf. Falls wir dieses Abenteuer glücklich überstehen, sollten wir ihn besuchen. Er ist auch gelehrt und hilfreich.“ Haschims Miene erhellte sich. „Wie ich sagte: Mutmaßen wir nicht. Wir wissen nun genau, dass die Sklavenhändler auch einen magisch begabten Helfer haben. Dieser hat jene Falle gestellt und mit den Zeichen der Magie der Salzmarschen versehen, um mich in Furcht zu versetzen. In der Magie wie in der Welt ist Furcht eine mächtige Waffe. Allen Zauberern ist allein die Erwähnung des Hexers der Salzmarschen zuwider. Und Bilder und Visionen tun ihr Übriges. Doch sie sind eben nur dieses!“ Er räusperte sich. „Hadschi Halef! Würdest du vor der Befreiung deiner Familie zurückschrecken, wenn die Sklavenhändler dich glauben machen wollten, der Scheitan leibhaftig sei ihr Gefährte?“
Halef zwinkerte zweimal, dreimal, sagte dann aber fest: „Gewiss nicht! Und auch mein Sihdi würde meinen: Pack den Teufel bei den Hörnern! Oder am Schwanz. Oder wo auch immer! Wir haben keine Furcht!“
„So soll es sein“, stimmte ich ein. Und zu Haschim gewandt: „Was ist dir eben eingefallen, als du von jenem Mato sprachst?“
„Dass ich einen Mann kenne, der uns helfen kann, auf die Spur der Entführer zu kommen. Auch wenn wir die Botschaften des Lehrers Lohse erhalten und die Sklavenhändler selbst uns boshaft mit Hinweisen versorgen!“
Haschims Augen leuchteten und in seiner Stimme klang ein gewisser Übermut, als habe er mit einem Mal jene Worte Sir Davids aufgenommen, die unsere Jagd auf die Schurken mit einem waidmännischen Ausflug oder einem Kinderspiel verglichen. Ich fand dies gewiss etwas sehr salopp und unangemessen, aber ich begriff auch eines: Selbst ein edler und gelehrter Mann wie Haschim musste dann und wann die Bürde abschütteln, die aus Leid, Elend und Erdenschwere bestand, von jenen magischen Dingen ganz zu schweigen, von denen ich nur allzu wenig verstand. Und vielleicht half es, die schrecklichen Ereignisse in jenem Salzsumpf zu vergessen, die bereits mir einen quälenden Schauder vermittelt hatten. Wie viel tiefer mochte dann der Schrecken in Haschims Seele sitzen.
„Wer ist dieser Mann?“, fragte ich also, frohgemut und mit Hoffnung in der Stimme.
„Er wohnt in Aleppo, also gerade auf unserem Weg nach Westen!“
„Und sein Name?“
Haschim lächelte fein. „Abu Ben Agar.“
Ich stutzte. Dies war der Mann, dessen Anschrift mir Haschim vergangenes Jahr bei meinem Abschied in meine Heimat gegeben hatte, um mit ihm in Kontakt treten zu können, gewissermaßen postlagernd, da Haschim ja stets auf der Suche nach Weisheit durch den Orient reiste, wenn er nicht mit mir auf Abenteuer unterwegs war. Doch jener Abu Ben Agar, der stets um Haschims Aufenthalt wusste, lebte meines Wissens und besagter Adresse nach in Medina und sandte von dort die Brieftauben, welche Haschim erreichten. Allerdings wusste ich, dass Abu Ben Agar vormals aus Aleppo stammte.
„Ach“, sagte ich also, „er ist von Medina wieder nach Aleppo gezogen? Oder dort auf Besuch?“
„Weder noch“, meinte Haschim. „Du wirst sehen. Und staunen, Kara Ben Nemsi.“