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Erstes Kapitel Das schwarze Schiff
ОглавлениеÜber dem Schwarzen Meer tobte ein Sturm und peitschte die finsteren Fluten unter den düsteren Wolken einher. Es ging auf Mitternacht zu und die Blitze sandten ihren irrlichternden Schein auf das Deck des Dampfschiffs, welches durch die Dünung stampfte. Der Sturm war noch um einiges entfernt, doch die Regungen der Elemente wirkten bereits kraftvoll auf den eisernen Rumpf ein, ließen ihn wanken und schwanken, aber die mächtige Maschine hielt das Schiff auf Kurs, und Bug und Kiel schnitten schnell durch das dunkle Wasser.
Ich stand an der Reling und atmete die von Gischt durchsprühte Luft ein, während der Wind an meiner Öljacke zerrte. Es war ein herrliches Gefühl! Nach den staubigen Landstraßen des Balkan, den trockenen Schründen der Berge, den von Sommersonne durchglühten Tagen im Sattel genoss ich diese Überfahrt, die mich und meine Gefährten von Istanbul aus an die östliche Küste jenes Binnenmeers bringen sollte, welches auf Türkisch Karadeniz hieß, was eben Schwarzmeer bedeutet und somit mit jenem Namen korrespondiert, welchen ich auf meinen Reisen im Orient zu tragen pflege.
Mein Gefährte Halef, der sich neben mir an Stangen und Taue klammerte, hatte jedoch gar nichts Schwarzes an sich, zumindest oberhalb des dunkelnass glänzenden Ölzeugs: Sein Gesicht war fahl und bleich im dann und wann aufgrellenden Gewitterlicht, und seine Miene zeigte nichts von dem, was ich empfand, sondern nur Unwohlsein und Ungemach.
Ich selbst und meine Leser hätten nun erwartet, von Halef einen launigen, vielleicht etwas klagenden Satz zu hören, der mit „O Sihdi“ beginnen würde; allein, Halef schwieg, weil er sich nicht getraute, den Mund zu öffnen, und dies lag nicht daran, dass er etwa befürchtete, mit der Gischt einen aus dem Meer geschleuderten Schwarzmeerfisch zu verschlucken. Nein, der gute arme Halef war ein wenig seekrank und schlaflos noch dazu, weswegen er sich um diese späte Stunde zu mir an Deck gesellt hatte. Ich wusste, dass er Haschim beneidete, der in seiner Kabine selig schlief. Ob diese Ruhe im Sturm dem edlen und klugen Mann, der unser Freund war, nun gegeben sein mochte, weil er als Scheik mit seinem Körper und seiner Seele im Einklang war, oder ob es doch daran lag, dass er ein Zauberer, ein Magier war, das mochte ich kaum entscheiden. Es gab schließlich auch sehr irdische Mittel, um sich einen gesunden und tiefen Schlaf sogar bei widrigen Umständen zu ermöglichen. Selbst ich, der ich kein Arzt oder Apotheker war, wenngleich ich auf meinen Reisen oft für einen solchen gehalten worden war, wegen meines kleinen Vorrats an Heilmitteln und weil der Orientale einen Europäer, insbesondere einen Franken, einen Deutschen, gern für einen Arzt hält – aus welchen Gründen auch immer – selbst ich also kannte genug Pülverchen und Tinkturen und Kräuter, die einen erholsamen Schlummer befördern. Manche greifen natürlich zu einem tüchtigen Schluck eines jener starken Getränke, die man auch geistige nennt – doch ist dies dem frommen Moslem, wie mein Freund Halef einer ist, ja durch seinen Glauben verwehrt, was nichts weniger als klug ist. Jene Männer jedoch, die der Religion der Seefahrt anhängen, trinken allzu gerne ihren Rum, vielleicht mit etwas heißem Wasser als Grog, und so schlafen sie stets prächtig, wenn sie es denn dürfen, also auf Freiwache. Was nicht heißt, dass jene, die Dienst versehen müssen, nicht auch einen ordentlichen Trunk zu sich genommen hätten, zumal in einer kühlen Gewitternacht auf dem Schwarzen Meer.
Die Matrosen, die ich als schwarze Schemen zwischen den Schatten der beiden Masten und des Schlotes erkennen konnte, hatten sich allerdings nicht mit karibischem Rum von innen gewärmt, sondern mit russischem Wodka; denn jenes Schiff, die „Knjas Korowjew“, also Fürst Korowjew, war ein Parochod der Russischen Gesellschaft für Dampfschifffahrt und Handel, im russischen Faible für Abkürzungen auf Russisch auch ROPiT genannt. Diese Reederei aus Odessa ist erst vor knapp zwanzig Jahren auf Betreiben Zar Alexanders gegründet worden, stellt aber mit ihren über sechzig Schiffen bereits ein äußerst wichtiges Unternehmen im Seehandel zwischen den Reichen Russlands und der Osmanen dar. Die Frachter selbst entstammen englischen und französischen Werften, was davon zeugt, dass selbst ein solch schreckliches Ereignis wie der Krieg auf der Krim rasch vergessen ist, wenn es um internationale Geschäfte geht. Aber ich will nicht moralisieren. Auch wenn ich ein Mann des Sattels bin und einen geschwinden Ritt schätze, so war ich doch zufrieden, die Strecke zwischen Bosporus und Kaukasus nicht auf dem Landweg zurücklegen zu müssen, denn es eilte durchaus. Meine Gefährten und ich hatten zwar unseren alten Feind, den Schut besiegt und sein Reich des Unrechts und der Ausbeutung zerstört, doch nun waren wir auf der Jagd nach jener Frau, die dem Schurken gedient und uns alle getäuscht und betrogen hatte: der Hexe Qendressa. Diese war vor uns geflohen, oder nein, ich will ehrlich sein: Sie hatte uns geschmäht und war ihrem weiteren Plan gefolgt, den Lohn für ihre Dienste und ihren Verrat einzufordern, und zwar bei des Schuts Bruder, dem Schwarzkünstler Al-Kadir, welchen sie aufzusuchen gedachte. Dass dieser tot war und nun in jenen überirdischen Gefilden herrschte, die von Anhängern der Magie das Geisterreich genannt wurden, war eine andere Sache. Mir waren diese Dinge allzu suspekt, zu nahe am Aberglauben und gauklerhaftem Geraune. Dennoch hatte ich in den vergangenen Monaten bei meinen jüngsten Reisen und Abenteuern so manches erlebt und geschaut, das sich nicht mit dem nüchternen Verstand eines modernen, von Wissenschaft und Technik geprägten Menschen erklären ließ. Nun aber, nach den Erlebnissen mit Al-Kadir, vor allem aber dem Schut und seinen Helfershelfern, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich damals nicht auf eine gewisse Weise blind gewesen war – und nicht hatte sehen wollen, an was ich nicht glauben mochte. Doch mein kluger kleiner Freund Halef hatte einmal weise gesagt:
„Man muss an das glauben, was man sehen will, Sihdi.“
Ich meinte damals, dass sich dies nur auf den religiösen Glauben beziehe, obwohl man auch sagen könnte, dass es sich mit der Wissenschaft ähnlich verhält. Doch dass es auch auf Magie und Zauberei zuträfe und auf die Wesen und Gestalten der Fabeln und Märchen, das hätte ich kaum für möglich gehalten. Aber haben frühere Generationen nicht auch Blitz und Donner für ein Spektakel der Überirdischen gehalten? Heute wissen wir, um was es sich wirklich handelt: um elektrische Entladungen in den Dunstkreisen des Himmels, also dem, was der Meteorologe eine Atmosphäre nennt. Vielleicht verbarg sich hinter der Magie und Zauberei ja auch etwas anderes, so wie das vormals göttliche Donnergrollen am Ende nur die Elektrizität des Himmels war.
Deshalb stand ich an Deck des Dampfers und spürte mit Genugtuung das Stampfen der Maschinen im Leib des Schiffs und das Bäumen und Gieren des Rumpfes im Kampf mit den Wogen, und den Wind und den Regen. Diese Dinge trogen nicht, sie waren wahr und wahrhaftig und ließen sich weder auslegen noch diskutieren oder hinterfragen. Mochte die von uns Gejagte eine Hexe sein, mochte der, den sie finden wollte, ein Magier in der Geisterwelt sein – am Ende verfolgten wir eine ganz menschliche Verräterin. Und ich will nicht selbstgerecht und grausam klingen. Ich wusste wohl, dass diese Frau mich und uns zwar betrogen hatte, aber von den Verbrechern ihrerseits betrogen worden war und für sich selbst wiederum Rache und Gerechtigkeit forderte – jedoch nicht gegenüber uns. Wir würden mit unseren eigenen Ansprüchen auf Gerechtigkeit und Rache sehr weise umgehen müssen. Und so war ich froh, dass uns Abdi auf dieser Reise nicht begleitete, sondern in Istanbul geblieben war. Er war von der Hexe entführt und verletzt worden – und hatte ihr blutige Rache geschworen. In den Wochen danach war sein Zorn auch durch unsere besänftigende Gegenwart verraucht, doch ich wollte nicht, dass er sich zu unbedachten Taten hinreißen ließ. Mit einem allzu wütenden Gefährten ist schlecht reisen und kämpfen. Deshalb hatte er mein ernstes Versprechen angenommen, dass wir für Sühne sorgen würden. Ich glaubte ohnehin, dass Abstand zu all jenen Geschehnissen für den jungen Koch heilsamer wäre, als wenn er sich die Hände mit Blut und die Seele mit Sünde befleckte.
Warum reisten wir also gen Osten, mit Ziel Kurdistan? Weil Haschim Kunde davon hatte, dass sich in dieser Weltgegend der vom Balkan aus gesehen nächstgelegene Ort befand, an dem ein Portal in die Welt der Geister führte, und dieser somit das Ziel der Hexe sein musste, die Al-Kadir aufsuchen wollte. Doch es hatte sich noch eine andere Sache herausgestellt, die mich, der ich auf meinen Reisen mit glückhaften Begegnungen und Wendungen des Schicksals so meine Erfahrungen gemacht habe, nun wahrlich wenig verwunderte. Haschim hatte von einer weisen, alten Frau gesprochen, die im Lande der Kurden lebte und die wohl wissen müsste, wo genau sich das Portal befinde. Bei dieser Beschreibung hatte ich aufgemerkt und mir war sogleich das Bild jener weisen Greisin vor Augen gestanden, die ich bei meinem ersten Besuch im wilden Kurdistan vor zwei Jahren kennengelernt hatte.
„Ihr meint doch nicht etwa Marah Durimeh?“, hatte ich zu Haschim gesagt.
„Ja, Kara Ben Nemsi …“, hatte dieser zögerlich zurückgeben. „Ihr kennt sie auch …?“
Über diese Verwunderung war ich amüsiert gewesen – angemessen und freundschaftlich.
„O ja“, hatte ich erwidert.
Und dann hatten wir beide gelacht, als Halef meinte:
„Da sagen manche, wie klein doch die Welt ist! Aber ich weiß das längst, weil ich mit meinem Sihdi so viel gereist bin.“
Und nun stand eine weitere Reise an!
Wir fuhren also über das Schwarze Meer, um uns nach Landung an seinen östlichen Gestaden in die Wüsten und Gebirge des Kurdenreichs zu begeben. Dort würden wir den Rais von Schohrd aufsuchen und dessen Tochter Ingdscha, die eine Vertraute Marah Durimehs war und wohl um deren Aufenthaltsort wissen würde. So zumindest hatte ich es damals erlebt, in jener wundersamen Episode um den Ruh-i-Kulyan, den Geist der Höhle. Wer diese noch nicht kennt, kann sie in meinen Gesammelten Werken nachlesen, welche sich wohlfeil und schön gebunden erwerben lassen, meinem Verleger im malerischen Bamberg zur Freude.
Vielleicht las auch mein Freund und Mitstreiter Sir David Lindsay in dieser Stunde eines jener Bücher, in seiner prächtigen Privatkabine an Bord seiner ebenso prächtigen Privatjacht, die ihn gerade über das Mittelmeer hinweg zurück zu den heimatlichen britischen Inseln trug. Denn der Lord wollte endlich seinen Schatz, das goldene und silberne Schachpiel Al-Kadirs, in die Sicherheit seiner eigenen hochherrschaftlichen Wände bringen. Wie gut also, dass Sir David nicht auf Rache gegen Al-Kadir sann, weil dieser ihn in der roten Festung eingekerkert hatte. Als gelassenem Mann englischen Adels war ihm die kunstvolle Trophäe Entschädigung genug.
Ich war somit froh, unter meinen jetzigen Gefährten niemanden zu zählen, der auf heißblütige Rache aus war, sondern nur Halef und Haschim, die mir im gemäßigten Wesen doch ähnelten. Nun ja, der gute Halef schwingt oft laut drohende Reden und rüttelt wütend am Griff seiner Kurbatsch, aber er ist dann doch stets bedacht und ruhig. Genau dies brauchten wir auf unserer Mission.
Leider war es mit der Bedächtigkeit und Ruhe auf dieser Etappe unserer Reise nicht weit her.
Ein Donnerschlag riss mich aus meinen Gedanken an die Vergangenheit zurück in die Gegenwart, die aus gischtiger Nachtluft und schwankendem Plankenboden bestand.
„O Sihdi“, rief Halef nun doch über das Heulen des Windes, umklammerte mit einer Hand die Reling und bewahrte mit der anderen seinen Turban davor, sich in ein flatterndes Band aufzulösen – ganz nach der seemännischen Devise: eine Hand für das Boot, die andere für sich selbst.
„Ja, Halef?“, rief ich zurück und hielt die Krempe meines geborgten Südwesters nach oben, damit sie mir nicht in die Augen schlug.
„Sihdi, warum stehen wir hier an der Seite, wo der Wind weht, und nicht an der anderen?“
„Weil nur hier das Spiel der Elemente so grandios zu spüren ist, wie es sich dem Auge darbietet!“ Ich wies mit dem Kinn auf die wabernden Gewitterwolken, die im grellen Gleißen der Blitze aufglommen. Auf der Leeseite des Schiffs, also der vom Wind abgewandten, hätte man dies nicht beschauen können.
„Aber der Sturm treibt uns sowohl den Regen als auch die Wellen ins Gesicht. Diese Vermischung von süßem und salzigem Wasser ist mir nicht geheuer.“
„Das kann ich dir nachsehen, mein Sohn der Wüste. Belecke also nicht deine Lippen, die vom brackigen Nass benetzt sind.“
„Sihdi, ich glaube, du musst rasch wieder einmal nach Hause, nach Dschermania. Wenn du deine Dichterworte nicht auf Papier schreiben kannst, kommen sie aus deinem Mund. Und ich finde, solche gewählten Ausdrücke passen nicht zu diesem Ort und dieser Gelegenheit. Ich schmecke nur eine Erinnerung daran, wie ich ins Hafenbecken von Stambul gefallen bin.“
„Ach, Halef, so schlimm ist es nun wirklich nicht. Denn dort stand die Luft und war nicht so rein und klar wie jetzt, ganz zu schweigen von dem, was alles so im Hafenwasser einherschwamm.“
„Das waren wir selbst, Sihdi! Und bevor ich auch hier in die Fluten stürze, gehe ich lieber wieder unter Deck, auch wenn da die Wände um mich her schwanken, es dafür aber trocken ist …“
Halef presste die Lippen zusammen.
„Wir können auch die Position wechseln“, schlug ich vor. „Vorn am Bug könntest du dich wahrhaft königlich fühlen …“
„Danke nein, Sihdi. Ich will der Gestalt da vorn nicht zu nahe kommen. Die ist mir unheimlich …“
Halef deutete fahrig zum Bugspriet, ohne hinzusehen. Ich erinnerte mich, dass sich darunter tatsächlich eine Galionsfigur befand, aber die war eine harmlose hölzerne Dame mit ein paar Schnörkeln darum, und ich hatte eher das Gefühl der Wehmut, da sie wohl zu den Letzten ihrer Art gehörte, denn mit dem fortschreitenden Einsatz der Dampfschiffe ohne zusätzliche Segel würden Bugspriet und Galionsfigur bald endgültig verschwinden. Ich wollte nun einen Scherz machen, dass eine Dame ohne Unterleib wirklich kein erbaulicher Anblick sei und besser auf den Jahrmarkt gehöre als zur christlichen Seefahrt – Tradition hin, Tradition her –, als ich am Bug eine Bewegung bemerkte, die nicht vom Stampfen des Schiffs herrührte und auch keine brechende Welle war. Ich sah tatsächlich eine Gestalt geduckt an der Wurzel des Bugspriets stehen – und dann war sie verschwunden!
Ich erschrak – war da jemand über Bord gegangen?
Jetzt aber zuckte Halef neben mir zusammen, denn hinter meinem Rücken war in einem Schwanken des Schiffs plötzlich ein Mann an die Reling getreten, in dem ich beim hastigen Umwenden den Ersten Offizier Bossoi erkannte, der das Schiff führte, während Kapitän Rimski schlief.
„Gaspadin Nemets“, sprach er mich aus seinem durchnässten Bart heraus an. „Sie hier, mitten in der Nacht?“ Im Gewitterleuchten sah ich seine hellen Augen unter dem Mützenschirm blitzen. Er machte sich seit unserem Auslaufen den Spaß, meinen arabischen Reisenamen zu russifizieren und mich somit als „Herr Deutscher“ anzureden. Da wir aber gemeinsam nach den Mahlzeiten in der winzigen Messe dann und wann jeder eine Zigarre geraucht hatten, nahm ich es ihm nicht übel.
„Die Nacht ist voller Wunder, Nikolai Bogdanowitsch“, antwortete ich ihm mit Nennung von Vor- und Vatersnamen, was im Russischen keine plumpe Vertraulichkeit ist, sondern höfliche Anrede. Zudem entsprach ich mit meinen Worten dem gefühligen Wesen jener Nation, welches bei ihren Seefahrern besonders ausgeprägt ist. Bossoi hatte mir bei unseren Rauchrunden so einiges an Seemannsgarn gesponnen, in welchem ich mich jedoch nicht verfangen hatte, da ich ja in beiderlei Sinn stets nüchtern bin – was in Gesellschaft eines russischen Seemanns nicht wenig Stärke und Moral erfordert.
„Wie wahr“, gab Bossoi zurück und spähte auf die wühlenden Wogen und den fahlgrün erscheinenden Schaum hinaus. „Die Meerhexen toben sich aus.“
Er nickte zu Halef hin und rollte mit den Augen. Dieser lächelte schief, da er das Märchenraunen des Offiziers nicht verstanden hatte: wegen des Russischen und des Windheulens gleichermaßen. Beide Männer hatten sich aber über einige Gläser Tee hinweg angefreundet, zumal Bossoi dem verschleckten Halef den speziellen Genuss gezeigt hatte, den Tee nicht direkt mit Zucker zu süßen, sondern nach oder vor jedem Schluck einen Löffel voll Konfitüre, also kleinen Früchten in Sirup, im Mund verschwinden zu lassen. Dieses Ritual hatte Halef begeistert, da es nicht allein seinem Naschdrang, sondern auch seinem Spieltrieb entgegenkam. Ich sah schon, wie sich in Zukunft Gläser mit Eingemachtem an den Zeltwänden der Haddedihn stapelten, oder zumindest jenen von Halefs Familie.
„Beschwören Sie es nicht“, meinte ich zu Bossoi und sprach damit das aus, was wohl Halef gesagt hätte. Ich wunderte mich ein wenig über mich selbst. Aber vielleicht lag es daran, dass das Wort Hexe für mich keinen märchenhaft-abergläubischen Klang mehr hatte, auch kein schlicht abwertendes Wort für eine resolute Dame oder ruppiges Frauenzimmer war, sondern dass dieser Begriff in meinem Leben tatsächlich mit einer konkreten Person und ihren Taten verbunden war und ich es als meine Aufgabe sah, die Hexe Qendressa zu verfolgen, von weiteren Verbrechen abzuhalten und die von ihr begangenen zu sühnen. Und hoffentlich auch diese so kluge und tapfere Skipetarin wieder auf den Pfad des Guten zu führen. Dies hoffte ich, wenn ich auch nicht wusste, ob es gelingen würde, bei einem Menschen, der sich der Zauberei verschrieben und mit finsteren Magiern verbündet hatte. Ich würde noch ergründen müssen, ob eine solche Seele sich überhaupt retten ließe. Vielleicht konnte Haschim mir Aufklärung verschaffen, oder eben Marah Durimeh, wenn wir sie erst gefunden hätten.
„Der Sturm zieht in unsere Richtung“, bemerkte Bossoi und schaute zurück zum Ruderhaus.
„Erwägen Sie, den Kurs zu ändern?“, fragte ich, als ich den ernsten Blick des Mannes bemerkte.
„Keineswegs“, brummte der Erste Offizier. „Wir nähern uns der Küste erst, wenn wir den Hafen in Sicht haben. Die ROPiT war, ist und bleibt pünktlich.“
„Sie sind der Nautiker“, nickte ich.
„Allerdings. Bei Reisen über Land haben Sie Ihre Erfahrungen, und ich die meinen über See.“
„Warten wir ab, ob es auch irgendwann Luftreisen gibt“, sinnierte ich. „Und ich meine nicht das gemächliche Gondeln von Luftschiffen.“
Bossoi lachte. „Diese Kinderballons Schiffe zu nennen ist nachgerade lächerlich. Aber was Wunder, es ist schließlich eine Erfindung der Franzosen …“
Da meinte er wohl die Brüder Montgolfier, Jacques Charles und Henri Giffard gleichermaßen, und es mochte ihm gleichgültig sein, dass die einen mit Heißluft, die anderen mit Leichtgas geflogen oder eben doch gefahren waren. Meinen Landsmann Paul Haenlein wollte ich nicht erwähnen, weil dieser jüngst an der Finanzierung seiner futuristischen Idee des motorisierten Luftschiffs gescheitert war. Noch weniger Franz Leppich, der vor sechs Jahrzehnten die Chuzpe besessen hatte, seine aerostatischen Luftgefährte in Kriegszeiten sowohl Kaiser Napoleon als auch Zar Alexander anzubieten. Das hätte der stolze Russe Bossoi mir wohl übelgenommen, und ich wollte auch nicht gezwungen werden, Partei zu ergreifen, in Dingen des reinen Renommées und des Chauvinismus, welche mir beide zuwider sind. So sagte ich also, Puschkin zitierend, um dem Russen eine Freude mit einem Wort seines Nationaldichters zu machen, und ich hoffte, dass ich den Petersburger Dialekt einigermaßen traf:
„Vom ruhigen Himmel verjagt dich der Wind. – Wie beruhigend, dass wir das vergleichsweise gut tragende Element des Wassers befahren. Und uns in einem stabilen Gefährt befinden. Ein gutes, russisches Schiff.“ Ich bemerkte, dass ich unbedacht die nichtrussischen Werften vergessen hatte. Bossoi ignorierte dies oder ließ sich vom eigenen Stolz und auch ein wenig Wehmut tragen. Er klopfte auf die Reling und deutete den Schiffsrumpf entlang.
„Die Fürst Korowjew trägt ihren Namen auch nicht von ungefähr! Sie müssen wissen, dass dieser edle …“
„Sihdi!“, unterbrach Halef ihn mit einem aufgeregten Ruf, und gleichzeitig spürte ich die Hand meines Gefährten auf meiner Schulter. Ich wandte mich um und sah, wie Halef mit dem freien Arm übers Meer zeigte, hin zum tobenden Gewölk des Gewitters. In der Brise der Sturmausläufer löste sich ein Stoffende des Turbans und peitschte wie eine weiße Schlange vor dem schwarzen Himmel. Dies war jedoch nicht der erstaunlichste Anblick, denn was ich sah, als ich Halefs Finger mit den Augen folgte, raubte mir den Atem, wie es der beißende Wind nicht vermochte: Vor der fernen Wolkenwand, die schwarz in schwarz zwischen finsterem Meer und sternlosem Firmament brodelte und die durch zittrige Blitzfinger mit weißen Fetzen durchsetzt wurde, blähten sich die Segel eines Mehrmasters altertümlicher Bauart. Die Leinwände unter den Rahen leuchteten in düsterem Rot, als die himmlischen Entladungen ihr bleiches Licht hindurchschienen. Das Schiff hielt auf uns zu, flog vom Sturm getrieben uns entgegen, die roten Segel wie der Kropf eines Fregattvogels geschwellt, und unter dem Bugspriet, am Vordersteven, sah ich ein goldenes Blitzen. Dort gab es wohl auch eine Galionsfigur, und vielleicht war es dieser Schimmer, der Halef aufmerksam gemacht hatte.
„Hast du das auch gesehen, Sihdi?“, rief Halef.
„Ein anderes Schiff“, nickte ich. „Welch mutige Mannschaft, sich ohne Dampfkraft dem Sturm zu stellen.“
„Kein Dampf?“, fragte Halef und schüttelte den Kopf, bemerkte seinen sich lösenden Turban und steckte das lose Ende rasch und vehement fest. „Dann habe ich mich wohl verhört, Sihdi. Denn ich meinte, ein Rufen zu hören, das der Sturm zu mir wehte. Es klang wie die scheußliche Pfeife an dem Eisenkamin, nur abgehackt, fast meckernd …“
Er wedelte mit der Hand nach hinten, zur Sirene am Schlot hin. Er hatte dieses ihm verhasste lärmende Etwas schon zuvor ein wenig despektierlich mit einer Kirchenglocke verglichen. ‚Sihdi, warum immer nur dieser Lärm? Ihr Ungläubigen trötet damit die Hafenankunft heraus und kreischt schrill, wenn die eiserne Bahn ihren Hof erreicht. Aber warum der Bimbam aus dem Turm des Gotteshauses? Wir Muslime rufen freundlich zum Gebet, nur Männer mit schönen Stimmen werden Muezzin. Ihr aber lasst rohe Glockengießergesellen bestimmen, wie die Gläubigen an den Gottesdienst erinnert werden …‘
Nun, diese eigensinnige Sicht auf westliche Klänge war es wohl, warum Halef nun auch bei einem Segler ein Dampfsignal zu hören glaubte. Immerhin munkelte er nicht vom Fauchen der Meerhexen. Wie gut also, dass er des Russen Seemannsgarn nicht vernommen hatte, weil ich so vorausschauend gewesen war, es eben nicht zu übersetzen.
Mit gelassener Neugier zog Bossoi das Fernrohr aus dem Lederetui am Gürtel. Seine Geste war geübt, und auch wenn ich selbst über ein gutes Messingperspektiv verfüge und es oftmals zum Fernspähen eingesetzt habe, erinnerten mich die Bewegungen des Ersten Offiziers an einen Mann, der einen Revolver zieht – um ihn mit einem Handgriff zum schimmernden Säbel zu verwandeln. Dieser war natürlich stabrund und stumpf, die Schärfe lag in den geschliffenen Linsen, dennoch schien mir Bossoi nicht immer bei der Handelsmarine gedient zu haben. Es ist nun so, dass ein Kämpfer den anderen an solchen Kleinigkeiten erkennt. Ich fragte mich, ob er in unseren gemeinsamen Stunden wiederum erkannt hatte, dass ich nicht allein mit der Schreibfeder umzugehen weiß.
Jetzt blickte Bossoi durch das Teleskop. Er murmelte einige nautische Begriffe, mit denen er wohl die Art des Seglers bestimmen mochte, und suchte nach Anzeichen, eine Nationalität auszumachen. Dass er davon ausging, jene Entdeckungen in diesem unsteten Licht machen zu können, zeichnete ihn als Seemann mit geübtem, ja kühnem Auge aus. Dann ließ er das Fernrohr sinken, im Blitzeslicht bemerkte ich seine ernste Miene und glaubte, seine wettergebräunten Züge erbleichen zu sehen. So schaute kein Mann drein, der eine Handelsbrigg, einen Kauffahrerschoner oder eine Postbark erblickt hatte.
Bossoi hauchte einen wütenden Seufzer aus und knurrte dann:
„Piraten.“