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Drittes Kapitel Zwei Leibhaftige

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Das schwarze Schiff kam noch immer heran und jedes Detail stach mir in die Augen, grell hervorgehoben während der kurzen Herzschläge des flackernden Lichts. Ich dachte nicht an Flucht, niemand dachte daran, denn an keiner Stelle auf Deck oder innerhalb des Schiffs, noch weniger in den Fluten der See, wäre die Gefahr geringer gewesen. Und so musterte ich ergeben das nahende Unheil. Der Bockskopf am Bug starrte mir aus den leeren Augenhöhlen entgegen, der Blick der Teuta hingegen schien zu brennen – doch nicht in meine Richtung! Ich glaubte zu bemerken, wie sie stattdessen Haschim mit einer Art nüchternem Erkennen bedachte. Und als ich zu Haschim sah, erstaunte mich der gelassene Ausdruck auf seinen Zügen, der mir jedoch nicht davon zeugte, dass er sich seinem Schicksal gefügt hätte – zumindest nicht dem Schicksal des Todes auf See! Wenn Haschim also die Teuta kannte, was wusste er noch?

In diesem Augenblick geschah das Unfassbare! Ich sah mit ungläubigem Staunen, wie das schwarze Schiff von seinem vermeintlichen Rammkurs abschwenkte, beidrehte und dabei auf schier unbegreifliche Art seine Geschwindigkeit minderte! Dies war nach allen Gesetzen der See und der Erde unmöglich! Und ich hörte über den Wind einen meckernden Laut, der alle Naturwissenschaftler von Archimedes bis Newton in Spott und Hohn zu verlachen schien. Das Schiff der Teuta ging längsseits, einen Steinwurf entfernt. Der Wellenberg, den der Rumpf bei diesem Manöver aufgeworfen hatte, schlug mit Macht gegen unsere Bordwand und ließ die Aufbauten erzittern, sandte einen Schlag durch unsere Leiber. Dies warf mich noch vorn, gegen die Reling, und als ich mich abfederte, fiel mein Blick nach unten auf das wühlende Wasser, und der Schaum schien mir auf widernatürliche Art zu schimmern, ähnlich jenem Phänomen, welches man in der südlichen See das Meeresleuchten nennt. Ich bezweifelte aber, nicht nur wegen unserer nördlichen Position, dass hier gütige Geschöpfe der maritimen Kleintierwelt ihr Lichterspiel trieben. Nicht allein wegen des erstaunlichen seefahrerischen und physikalischen Kunststücks, dessen Zeuge ich geworden war; auch nicht allein wegen des Raunens über die Teuta und der Worte Haschims – nein, auch ich hatte in meinen jüngsten Abenteuern mittlerweile zu viel Unglaubliches gesehen, als dass ich nicht sogleich an etwas Übernatürliches gedacht hätte. Oder doch immerhin an etwas, dessen Natur mir noch unbekannt war. Ich riss den Blick hinauf, wobei ich ohnehin gar nicht anders konnte, denn der Widerruck des Wellenschlags ließ mir Kopf und Körper zurückkippen, und als ich die Takelung des schwarzen Schiffs nun von der Seite sah, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches: Wenn ich auch kein Seemann war und auch nie einer werden würde oder wollte, so erkannte ich doch, dass die Masten dieses Schiffs durchaus besonders waren. Ich hatte nun als Reisender zwischen den Kontinenten genug Schiffsmasten gesehen, um dies beurteilen zu können, auch ohne Schiffsbaumeister zu sein. Diese Masten erschienen mir nicht nur um einiges mächtiger im Umfang, als es üblich war, nein, um die Rundungen der Hölzer – wenn es denn Holz sein mochte – wand sich jeweils von Fuß bis Topp ein sicher armdickes Etwas, wie eine Schlingpflanze um den Stamm eines Urwaldriesen oder eben doch die sprichwörtliche Schlange um den Baum der Erkenntnis. Mir allerdings blieb die Erkenntnis, um was es sich dabei handeln mochte, verborgen – denn in diesem Moment wurde ich abgelenkt von einem entsetzten Aufstöhnen der Männer, die zu beiden Seiten neben mir an der Reling standen. Ich schaute von den eigentümlichen Masten des schwarzen Schiffs hinab zum Deck. Dort, hinter dem Schanzkleid, erkannte ich, wie eine finstere Spiegelung unser selbst, die Mannschaft der Teuta. Doch trotz des unsteten Lichts, in dem ich alles andere erkennen konnte, blieben diese Männer in Schatten verborgen, als seien sie keine Menschen, sondern Schemen, die mit der Dunkelheit verschmolzen. Mir war das alles unerklärlich, zumal ich noch über die nautischen Wunderkünste des Schiffes selbst rätselte. Wer nun bei solcherlei optischem Gaukelwerk verwundert ausgerufen hätte, dass es hier mit dem Teufel zugehen musste – ich glaubte, dergleichen von den Seeleuten zu vernehmen, wenngleich verhalten und murmelnd –, dem habe ich einzugestehen, dass ich in diesem Zustand der Verwirrung aufs Heftigste erschrak, denn unter den Schattengestalten auf dem gegenüberliegenden Deck erkannte ich eine düster beleuchtete Figur, die mir, als hätte ich sie selbst beschworen, wie der Leibhaftige erschien!

Ich sah die Hörner, die aus seiner Stirn sprossen! Spitze Ohren, die von seinen Schläfen ragten! Einen spitzen Bart, der das spitze Kinn verlängerte! Stechende Augen mit einer geschlitzten Pupille über einer gebogenen und doch zugleich flachen Nase und einem dünnen, grausamen Mund! Der Leib war muskulös, sehnig, halbnackt und haarig und wurde getragen von zwei kräftigen, aber schmalen Beinen, die in – Hufen endeten!

Ich bin nun weder abergläubisch noch von einem Glauben, der von Schreckensgestalten bevölkert ist. Ein anderer Mann wäre vielleicht von diesem Glauben abgefallen und hätte sich einer mittelalterlichen Furcht hingegeben, angesichts dieser Teufelsgestalt! Doch ich hatte ja noch meinen Intellekt und mein Gedächtnis – und so erinnerte ich mich nicht allein an das hölzerne Bein der Teuta in Form eines Bocksschenkels sowie an die Munkeleien und das Fabulieren über deren Gefährten, samt eines verstörenden Meckerlauts. Sondern ich erkannte in dieser gehörnten Gestalt eine veritable Ausformung eines klassischen Satyrs, wenn nicht gar des Gottes Pan selbst. Und wenn diese Erkenntnis nun einen Altvorderen, einen Römer oder Griechen der Antike, in panischen Schrecken versetzt hätte, wenngleich es entgegen des damaligen Glaubens keine Mittagsstunde, sondern eben Mitternacht war, so fiel von mir doch jeglicher Schrecken ab und ich erkannte dies alles als Scharade, als Maskerade und Schabernack der Piraten, um die Mannschaften der angegriffenen Schiffe in lähmendes Entsetzen zu stürzen. Da stand also ein Mann auf Bocksstelzen und im Ziegenfell zwischen den verhüllten Gesellen des Enterkommandos, um das Spektakel nur recht schauerlich zu gestalten, denn eine Flagge mit Schädel und Knochen am Mast war in diesen Zeiten des Niedergangs des Freibeutertums nicht mehr hinreichend schreckerregend!

Ich überlegte rasch: War es für die Moral der russischen Seemänner förderlicher, wenn ich ihnen meine Erkenntnis in markigen Worten zurief – oder sollte ich doch besser Taten sprechen lassen? Ich entschied mich, indem ich meiner Eingebung folgte, die mich in Wüste und Prärie nie getrogen hatte. Ich hob den Henrystutzen an die Schulter, gleichzeitig fand ich sicheren Stand auf dem schwankenden Deck, indem ich mich mit den Stiefeln zwischen die Relingstangen stemmte. Rasch nahm ich mein Ziel ins Visier, federte die Dünung in den Knien ab – es war kaum anders, als aus dem Sattel meines galoppierenden Rih zu schießen. Ich atmete bedächtig aus. Mein Plan war es, dem Kostümierten zunächst die Hörner von der Maske zu schießen und hernach die Hufstelzen. Bei Letzteren war ich mir noch nicht ganz sicher, denn es schien mir, dass ich den Mann damit zu sehr demütigen, gar verletzen könnte, denn mir war die vergleichsweise geringe Größe der Gestalt aufgefallen, was bedeuten musste, dass der Stelzenträger ein Zwerg oder ein Versehrter ohne Beine war. Nun, ich würde mich nach den beiden Kugeln gegen die Hörner entscheiden, je nachdem, was nach meinen Schüssen geschehen würde.

Ich legte den Finger fest um den Abzug und zielte auf das Bockshorn.

„Kara Ben Nemsi!“

Mein Finger sprang vom Abzug fort! Es war nicht der Ruf allein, der mich vom Schuss abhielt – es war ein zweifacher Ruf! Wie ein seltsames Echo, das jedoch gleichzeitig erscholl, über das Rauschen der Wellen und des Windes. Zum einem hatte Haschim meinen Namen gerufen, direkt neben mir. Ich wandte kurz den Blick zu Seite und sah noch, wie der Scheik seine ausgestreckte Hand zurückzog. Hatte er mich greifen wollen, bei der Schulter, gar am Lauf des Gewehrs? Was konnte ihn dazu bewogen haben? Doch er musste mir nicht mehr mit einem Blick oder einem Wink bedeuten, dass ich meine Aufmerksamkeit sogleich von ihm wenden musste, wieder hinüber zum schwarzen Schiff. Ich spähte wieder über den Lauf meiner Waffe, in die Richtung, aus welcher der zweite Ruf erklungen war. Nein, es konnte nicht der Gehörnte, der Vermummte in seinem Bockskostüm gewesen sein, der da gerufen hatte – wie hätte er mich kennen können? Als ich noch mutmaßte, wer sich hinter der Maske verbergen mochte, trat jemand in mein Sichtfeld, aus der Masse der dunklen Gestalten und ebenfalls in Schwarz gekleidet, dennoch besser erkennbar als jene, aus welchem Grund auch immer. Die Gestalt hob eine schlanke, blasse Hand und vollführte eine knappe Geste. Kein Winken, kein Gruß, ich wusste nicht recht, was sie zu bedeuten hatte.

Wer die Gestalt war, erkannte ich jedoch, und es hätte nicht des grellen Himmelsleuchtens bedurft, um mir in Augen und Gemüt gleichermaßen ein Schlaglicht zu setzen:

Es war die Hexe Qendressa!

Sie sah kaum anders aus als damals, vor einigen Wochen im Land der Skipetaren, als ich ihr in der Berghütte des Schut unter dem Gipfel des Lowtschen begegnet war. Ihr Gesicht war fahl, die Augen schwarz in tiefschwarzer Umrandung aus Antimon, umweht von den Rabenschwingen ihres Haares, in dem sich einige helle Strähnen befanden. Kopf und Körper waren von einem Cape aus glänzender Ölhaut verhüllt, kaum anders als der Wetterschutz, den ich selbst trug. Sonst konnten wir unterschiedlicher nicht sein. Ich will nicht auf Gestalt und Geschlecht anspielen, das sei einerlei, da sie doch wie ich ein Mensch war und mir alle Menschen gleich sind. Aber Qendressa war eine Hexe, eine Schwarzkünstlerin. Ohne in inquisitorischen Eifer geraten zu wollen, in den Wahn der Jagd auf Zauberinnen, so verachtete ich sie doch ob ihrer Grausamkeiten gegen die Meinen, den Verrat an mir und den Gefährten, die Entführung, die Verletzung und Weiteres mehr. Und selbst ihre kurzen Anwandlungen von Gnade und Gerechtigkeit konnte ich nur wenig schätzen, denn sie waren stets Teil eines Handels zu ihrem Vorteil gewesen oder aus der Not ihrer Lage geboren.

Nun wollte sie Al-Kadir aufsuchen, vorgeblich, um den Lohn für ihre Dienste einzufordern, um den sie sich geprellt sah. Dies verwunderte mich kaum, denn Schurken haben untereinander eben doch keine Ehre, gleich, was der Volksmund darüber sagen mag. Ich bezweifelte aber, dass diese beiden nur ihre Schuldgeschäfte abschließen würden, wenn sie denn aufeinanderträfen. Sie würden wohl neue schauerliche Pläne schmieden. Ob Al-Kadir die Hexe dazu drängen oder überreden oder locken würde, konnte ich nicht wissen, aber ich ahnte es wohl und befürchtete einiges. Und das, obgleich ich nichts von den Umständen wusste, die das Geisterreich betrafen. Ich glaubte aber der Kenntnis und Weisheit Haschims, und dieser ging von üblen Dingen aus. Diese mussten wir vereiteln, Al-Kadir finden, mit Hilfe Marah Durimehs. Und jetzt zeigte sich an diesem unerwarteten Ort die Hexe, welche eine willige Helferin der Verbrecher war und deren Spur wir gesucht hatten. Das Schicksal hatte uns diese Begegnung geschenkt – wer hätte erwartet, dass wir zur gleichen Zeit die Passage über das Schwarze Meer unternahmen? Ich war nun nicht so töricht anzunehmen, dass die Hexe über die Wasser geflogen wäre, auf ihrem Weg nach Osten. Zwar war mir der Unglaube an das zauberische Fliegen längst abhandengekommen, ich hatte die Hexe ja mit eigenen Augen durch die Lüfte schweben sehen. Doch hing ich andererseits auch nicht dem Aberglauben an, etwa zu denken, Hexen vermöchten kein Gewässer zu queren. Es schien mir schlicht ein zu großer Aufwand der Kräfte – einerlei, ob sich jemand körperlich oder zauberisch verausgabte. Zumal Qendressa unter dem Fluch des Alters litt und ihre jugendliche Gestalt nur mühevoll aufrechterhielt. Sie erschien mittlerweile zwanzig Jahre älter als bei unserem ersten Treffen in Stambul, doch war sie noch nicht die greisenhafte Erscheinung, als die ich sie in der Höhle des Skipetarenfürsten durch den Musaddas erblickt hatte. Ich musterte ihr Gesicht genauer: Waren die Linien in ihren Zügen noch tiefer geworden? Im unsteten Licht konnte ich dies kaum erkennen. Drängte die Zeit auch für die Hexe? Nutzte sie deshalb ein Schiff, um ihre Kraft für sich selbst aufzusparen? Und das Schiff selbst und dessen Herrin …

Jetzt regte sich meine Hand am Henrystutzen, meine Finger krampften – als wollte mir mein Körper raten, nicht nachzusinnen, sondern zur Tat zu schreiten. Ich erschrak. Nie hatte ich geglaubt, dass mein Innerstes mir solch tückischen Rat geben würde, die Gelegenheit zu nutzen, einen Gegner, noch mehr: eine Gegnerin zu stellen. Ich wollte nicht die anderen Begriffe nutzen: zur Strecke bringen, ausschalten. Dies waren unmenschliche Denkweisen! Und doch: War eine Hexe, eine Zauberin, denn ein Mensch wie …

Ich presste die Augenlider zusammen und senkte das Gewehr. Dann erst schaute ich wieder zu Qendressa hinüber. Mein Nacken spannte und ich fühlte jenes Brennen in der Magengrube, welches mich verfolgte, seit ich Al-Kadir im magischen Schachspiel besiegt hatte und einen Teil jener seltsamen Macht in mir trug, die mich Dinge erkennen ließ, die jenseits der normalen Weltvorstellung lagen. Doch nie hatte ich solch eine geistige Einflüsterung erlebt, gar eine körperliche Regung verspürt, die mich in ihrer schieren Unmenschlichkeit abstieß. Ich wollte dies aber nicht nur mit jener Gabe erklären, die mir noch immer unvertraut war, und glauben, dass nun nach dem bisherigen Nutzen ein Preis zu zahlen sei. Es mochte auch an den unerhörten Umständen liegen, dass ich so ungewohnt reagierte. Man mache sich gewärtig: Ich befand mich auf dem Schwarzen Meer, am Rande eines nächtlichen Gewittersturms; das Schiff, auf dessen Deck ich stand, aufgebracht von einer finsteren Piratenbande, die mit Entern drohte; deren eigenes Schiff wundersam manövrierte und geführt wurde von einer furchtsam bemunkelten Kapitänin. Und dazu, mir gegenüber, die Frau, welche meine Feindin war – zumindest aber jene, die ich und meine Gefährten jagten. Da mochten selbst meine Moral und mein Urteilsvermögen für einen Herzschlag wanken!

Ich blickte kurz zu Haschim hinüber und erinnerte mich an seine ausgestreckte Hand – hatte er geahnt, was in mir vorging, und wollte mich nicht vom Schuss auf den Gehörnten abhalten, sondern bereits davon, auf Qendressa zu schießen?

Jetzt bemerkte ich die Stille und Reglosigkeit, nicht der Elemente und der Schiffe, sondern der Menschen neben mir und mir gegenüber. Die Matrosen des russischen Dampfers verharrten in Anspannung, auch in Furcht. Die Piraten rührten sich nicht, als warteten sie auf einen Befehl. Der Bocksbeinige stand fest auf seinen Hufen. Qendressa schaute mich an.

Dann ein einzelnes Pochen, über den Wind. Ich blickte zum Bug des schwarzen Schiffs, schemenhaft sah ich die Teuta. In ihrer Hand stecke ein langer Stab, ein Stock, nein, eher eine Krücke. Hatte sie deren Ende auf die Decksplanken gestoßen oder doch das hölzerne Bein? Einerlei, es war ein Signal – ich erkannte ein plötzliches Schimmern in den Reihen der finsteren Gestalten, wie der Widerschein der Blitze auf dunklem Metall: Enterhaken? Entermesser? Gleich würde der Angriff beginnen!

Ich schaute zu Halef, traf seinen Blick. Wir hoben die Gewehre. Um mich spürte ich, wie die Matrosen ihre Waffen fester packten. Bossoi zog den geschwungenen Hahn seines russischen Tula zurück. Haschim legte die Hand auf den Kolben seines Revolvers. Seine Ruhe gab mir Zuversicht. Dann aber zog der Scheik seine Faust zurück, die geheimnisvollen Gravuren des silbrigen Laufs glitzerten, als die Waffe ihre lederne Hülle verließ. Da wusste ich, dass es ernst war!

Ich atmete tief. Welches Ziel sollte ich anvisieren? Ich schwenkte den Lauf über die Reihe der Piraten und bemerkte erstaunt, dass mein Blick weiterhin auf Qendressa ruhte.

Sie lächelte! Nein, es war ein spöttisches Verziehen des Mundes!

Ein weiteres Pochen! Am Bug hob die Teuta den Stab. An dessen Spitze prangte ein geschnitzter Ziegenschädel, die Hörner bildeten die Gabel der Krücke.

Die zuvor regungslose Reihe der Piraten bewegte sich nun. Die Männer – waren es Männer? – traten einen einzelnen Schritt vor, wie eine Kompanie Soldaten. Welche Art von Piraten beugte sich einer solchen Disziplin? Oder standen sie unter einem Zwang, dem Bann der Teuta? Warum konnte ich keines der Gesichter erkennen? Nur Schwärze und Schatten in der nächtlichen Finsternis, durch welche die Blitze zuckten.

Der Stab der Teuta stach in die elektrisierte Luft. Hätte sich nun ein Elmsfeuer mit seinem grünen Glühen gezeigt, ich glaube, die Männer um mich herum hätten den Verstand verloren. So bebten sie in unerträglicher Anspannung vor dem Angriff.

Jetzt!

Doch die Teuta ließ den Bocksstab sinken, setzte ihn geräuschlos auf die Planken. Die Piraten verharrten. Die Männer neben mir hielten den Atem an.

Die Teuta sandte einen Blick zu uns, den ich nicht deuten konnte, denn er war nur flüchtig, gar beiläufig. Die Frau mit dem hölzernen Bocksbein wandte sich von uns ab, blickte über den Bug ihres Schiffs hinaus, als kümmerte sie nur mehr der weitere Weg durch die Wellen.

Die Schattenpiraten zogen sich lautlos zurück, bis sie mit den Schatten der Decksaufbauten verschmolzen. Sichtbar blieben allein der Bocksbeinige und neben ihm Qendressa.

Wieder lächelte sie, und es war ein Lächeln der Überlegenheit, des Triumphs.

Mich durchfuhr ein Gedanke: War die Hexe nicht allein eine Passagierin auf dem schwarzen Schiff der Teuta, sondern eine Gefährtin, gar Gebieterin? Wer wusste um die Bündnisse unter zauberkundigen Gestalten?

Doch warum war es nicht zum Angriff gekommen? Hatte die Hexe die Kapitänin davon abgebracht? Oder war es nur eine Finte gewesen, ein scheußliches Spiel mit den Ängsten der russischen Matrosen und eine Marter meiner eigenen Nerven, wenn nicht gar meiner Moral?

Und dies kannte ich wohl! Denn Qendressa hatte ja nicht nur stets mit den Loyalitäten gespielt und Zwist und Zweifel gesät, sie hatte auch mit scharfzüngiger Ironie kokettiert und mich als Mann aufgezogen, sich als übermäßig moderne Frau gegeben, obwohl ich doch nun wahrlich kein altmodischer Mann war: weitgereist und weltoffen, wie es einem Reiseschriftsteller und Kämpfer für Gutes und Gerechtigkeit geziemt. Wer wüsste dies besser als meine Leser und vor allem meine Leserinnen, die mir so treu sind, wie ich es ihnen bin und mich deshalb stets um das Beste in Taten und Worten bemühe.

Diese Frau jedoch verhöhnte mich selbst in Sturm und Piratenbedrohung.

Jetzt streckte sie die Hand zur Seite aus und fuhr dem Bocksbeinigen durch den struppigen Schopf zwischen den Hörnern. Die Gestalt meckerte in einem Ton, der mir Wohlgefallen auszudrücken schien, schüttelte kurz das Ziegenhaupt, als Qendressa die Hand zurückzog, und stakste dann auf den Hufen zum Bug hin. Ich musste den Blick von diesem grotesken Schauspiel abwenden, auch weil ich Qendressa weiterhin betrachtete.

Sie schaute mich an. Das Hohnlächeln erstarb und ein bitterer Zug legte sich um ihre Mundwinkel. Es konnte nur am zitternden Licht und dem Schwanken der Schiffe liegen, dass ich meinte, ihre Lippen beben zu sehen. Gerade als ich dachte, in ihren Augen einen Schimmer zu erkennen, wandte sie den Kopf und schritt aus meinem Blickfeld. Ich verspürte einen seltsamen Anflug von Trauer und wollte nicht recht an die Möglichkeit glauben, dass diese Frau, die wir wegen ihrer Schandtaten verfolgten, vielleicht mein Leben und das meiner Gefährten wie auch all der anderen Seelen auf dem russischen Dampfschiff vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hatte. Doch wie könnte ich all dies ergründen?

Ich schaute zu Haschim, der seinen Revolver in das Halfter zurückschob, während alle anderen, mich einbegriffen, sich an ihre Waffen klammerten. Mein fragender Blick konnte jedoch keine Antwort abwarten, denn ein Rauschen lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen jenseits der Reling. Das schwarze Schiff nahm Fahrt auf. Die rötlichen Segel blähten sich gen Bug, entgegen der Richtung des Windes, als presste eine weitere unsichtbare Kraft den knatternden Stoff gegen die Rahen und die Takelage, und schoben so den Rumpf voran. An Deck war keine Bewegung zu erkennen, nichts regte sich, keine Gestalt waren mehr zu sehen. Einzig die Teuta stand am Bug und blickte voraus. Durch Schaum und Gischt glitt der Kiel des schwarzen Schiffs machtvoll und geschwind voran, schon passierte uns das Heck mit den prächtigen Schnitzereien und den dunklen Fenstern. Einzelheiten sah ich nicht, denn das Gewitter in der Ferne hatte sich aufgelöst und der Schein der Blitze war erloschen, der Wind war verstummt. Lautlos entschwand das Schiff der Teuta in die Nacht und mit ihm Qendressa, der östlichen Küste des Schwarzen Meers entgegen.

Still standen die Männer da, als vermochten sie nicht zu fassen, dass die Gefahr so rasch entschwunden war, wie sie sich genähert hatte. Da zudem der Sturm sich gelegt hatte, war es eine zweifache Anspannung, die sich nun lösen konnte, aber diese fiel nicht so leicht von den Schultern und Seelen der Matrosen – vielleicht, weil sie es nicht erwartet und mit ihren Leben schon abgeschlossen hatten. Dann aber brach die Erleichterung in einem einzigen Aufatmen hervor, als löse sich in den Lungen ein atmosphärischer Druck, so wie dies bei Sturm und Gewitter über Land und See geschieht. – Aber ich will nicht gescheit daherreden: Auch ich war überaus froh, dass uns ein Kampf erspart geblieben war. Meine Gefährten und ich hätten uns wohl zu wehren gewusst, doch für die Matrosen wäre der Blutzoll zweifellos hoch ausgefallen. Ich glaubte wohl, dass sie tapfer und stark und wehrhaft waren, doch ich ahnte auch, dass es aus anderen Gründen einen ungleichen Kampf gegeben hätte. Sollte es tatsächlich der Wahrheit entsprechen und die Teuta und ihre Besatzung – wie die Abergläubischen meinten – mit dem Leibhaftigen im Bunde sein, was für mich schlicht bedeutete, dass sie über Magie verfügten oder Zauber anwandten, so glaubte ich doch, dass ich und die Meinen, allen voran Haschim, uns allein aus Erfahrung mit dergleichen Dingen besser geschlagen hätten, und sei es nur, weil wir angesichts etwaiger seltsamer Ereignisse nicht vor Entsetzen gelähmt gewesen wären. Obwohl es bereits eigentümlich genug erschien, schattenhafte Piraten, einen Bocksbeinigen und unerklärliche Schiffsmanöver erlebt zu haben. Oder eben doch nur anscheinend erlebt zu haben – konnte ich mir sicher sein? Fast bedauerte ich nun doch, nicht durch den Musaddas gespäht zu haben, um mir in mehrfacher Hinsicht Klarheit zu verschaffen. Doch danach hatte mir kaum der Sinn gestanden, als wir uns den Gegnern gegenübersahen. Ich besaß jedoch einen sehr belastbaren Anhaltspunkt, und das war die Anwesenheit der Hexe Qendressa. Mit wem anderen hätte diese sich wohl eingelassen als mit Gleichgesinnten, mit gleichermaßen magisch Begabten. Da mochten auch eine holzbeinige Piratin mit ihrem Geisterschiff und deren bocksfüßiger Geselle zu den Wahlverwandtschaften zählen. Die Sache hatte also in übertragener Weise einen Pferdefuß, den ich in Abwandlung einer originellen Berliner Redensart wohl trapsen hörte. Warum ich in diesem Augenblick solch launige Worte im Kopf hatte? Weil ich diesen zu meinem guten Halef wandte, um ihm mit frohem Mut die zweifellos tiefsitzende Furcht zu nehmen. Ich kenne meinen kleinen Gefährten ja allzu gut und weiß, wie er sich graust, wenn es spukt. Und es war wohl kaum zu leugnen, dass diese Begegnung auf See durchaus schauderlich und geisterhaft war. Zudem war Halef ein Mann der Wüste und nicht der wüsten See.

„Nun, Halef“, begann ich, „das haben wir ja glücklich überstanden …“

Ich war nicht wenig erstaunt, als ich einen tapferen Hadschi neben mir sah, der sich rücklings an die Reling gelehnt hatte, das Gewehr bei Fuß, und die freie Hand unter der Nase, um sich die dünnen Schnurrbarthaare von der Gischt trockenzureiben.

„Ach, Sihdi“, gab Halef zurück. „Von Glück ist da doch kaum zu reden.“

„Wie meinst du das? Gewiss, ich glaube nicht an Glück, vielmehr an die Fügungen des vorbestimmten Schicksals. Aber du weißt doch, wie man so gemeinhin sagt, wenn eine heikle Situation sich auflöst, ohne dass es zum Kampf kam.“

„Ich hätte nicht ungern gekämpft, Sihdi. Und gerade der Hexe einen tüchtigen Schuss mit meiner Flinte verpasst.“

Halef bemerkte nicht, welchen Scherz er damit gemacht hatte, und so glaubte er wohl, ich verzöge deshalb so verblüfft das Gesicht, weil er die gute deutsche Büchse, die ich ihm geschenkt hatte, immer noch als Flinte bezeichnete, als sei sie das alte Ungetüm, das er früher stets benutzt hatte. Aber seine Erwähnung der Hexe ernüchterte mich ohnehin.

„Ja, du hast wohl Recht“, meinte ich. „Mir widerstrebt der Gedanke, jemanden, sei er auch noch so schurkenhaft, schlicht zu …“ Ja, mir widerstrebte der Gedanke so sehr, dass ich es nicht aussprach. Also redete ich weiter: „Doch ohne die Hexe hätten wir vielleicht eine Sorge, eine Gegnerin weniger, die unsere Pläne durchkreuzt und uns in den Rücken fallen mag. Denn es ist ja nicht so, dass wir sie bräuchten, um Al-Kadir auf die Spur zu kommen. Den Weg in die Geisterwelt finden wir auf unsere Weise, mit unseren Verbündeten.“

„Das mag sein, Sihdi. Wir brauchen die Hexe nicht dafür. Aber warum, meinst du, hat das Schicksal uns dann diese Begegnung gesandt?“

Ich nickte bedächtig. Kluger Halef, philosophischer Halef!

„Nun“, begann ich, „wohl damit wir die Hexe nicht vergessen. Schließlich haben wir sie seit der Begegnung im Norden Albaniens nicht mehr gesehen.“

„Aber warum sollte das Schicksal glauben, wir hätten diese böse Frau vergessen?“

Ich bemerkte verwundert, welche seltsame Betonung Halef in das gewisse Wort legte.

„Manche Menschen leben nach der Devise: Aus den Augen, aus dem Sinn.“

„Diesen Satz kenne ich, Sihdi. Er ist wohl wahr. Aber was, wenn dem Schicksal der Sinn danach steht, unseren Sinn zu ändern?“

„Ich kann dir kaum folgen, mein wortgewandter Freund.“

„Das habe ich von dir gelernt, Sihdi!“

‚Und zweifellos von Lehrer Lohse‘, dachte ich.

„Aber was genau willst du damit ausdrücken, Halef?“

„Du hast doch selbst bemerkt, dass wir einer schrecklichen Seeschlacht entgangen sind …“

„Nun, eine Seeschlacht ist doch etwas anderes!“

„… weil die finstere Dame …“

„Ich möchte sie nicht als Dame bezeichnen.“

„Sihdi! Ich glaube, sie hat sich für uns eingesetzt, und nur wegen ihr wurden wir verschont!“

Ich seufzte. „Halef, wie kann das sein? Jene Qendressa diente dem Schut und Al-Kadir und nicht umgekehrt. Warum sollte ausgerechnet eine berüchtigte und gefürchtete Piratin sich ihrem Willen beugen? Eine solche mächtige Hexe ist sie nun auch nicht.“

„Ach, Sihdi! Du scheinst mir die Frauen nicht zu kennen.“

„Ich bezweifle, dass dies hier eine Frauensache ist, und ich möchte weiterhin nicht, dass du hier dem Irrglauben eines Kriegs der Geschlechter entgegenkommst. Derlei Verschwörungen sind doch Unsinn!“ Darüber mochte man in den Salons der Großstädte raunen.

Halef schüttelte den Kopf. „Ich will gerade das Gegenteil behaupten und eben nicht über das Große reden, sondern über das Persönliche. Ich weiß wohl, was die Hexe getan hat, und dafür muss sie bestraft werden. Aber es ist auch wichtig, was sie nicht getan hat, und warum und weswegen. Sihdi, ich glaube, diese Frau ist dir gewogen. Sie mag di …“

Ich hob mahnend den Finger. „Sprich es nicht aus, Halef. Es ist nicht die Zeit noch der Ort für halbseidene Scherze.“

Halef zuckte mit den Schultern. „Du hast Recht, insofern, dass es spät ist, Sihdi. Wir sollten wohl zurückkehren in Kajüte und Koje.“

Wie mein guter Halef diese beiden ihm fremden Worte aussprach, erheiterte mich sehr, ohne dass ich mich auf seine Kosten amüsieren wollte. Denn im Grunde war ich es, der sich lachhaft verhalten hatte, indem ich nicht mehr darauf achtete, was nach Entschwinden der Bedrohung um mich herum geschehen war, etwas, das meiner Gewohnheit völlig entgegenging. Als ich mich nämlich umschaute, bemerkte ich, dass alle Matrosen bereits das Deck verlassen hatten, um andernorts Wache zu schieben, Dienst zu versehen oder schlafen zu gehen. Ich hatte versäumt, ein abschließendes Wort mit Bossoi zu wechseln; der Erste Offizier hatte sich ebenfalls zurückgezogen, zweifellos, um dem Kapitän Meldung zu machen. Einzig Haschim stand etwas abseits und schaute in die Finsternis, in welcher das Schiff der Teuta entschwunden war.

Ich klopfte Halef auf die Schulter. „Bist du so gut und gehst voran? Ich folge dir gleich nach.“

Halef feixte mit seinen salzverkrusteten Bartsträhnen, die keck abstanden und ihm ein zerzaustes Aussehen gaben, wie eine zufriedene Katze. Ich wusste zwar, dass manche Leute sich mit Zuckerwasser frisierten, doch dies hier war eine Beobachtung, die mir neu war und wohl von meinem seltsam aufgewühlten Empfindungszustand zeugte.

„Dann lasse ich die Herren noch kurz reden“, meinte er und ging fort, wobei er die Bewegungen des Schiffsdecks recht geschickt ausglich. Mein Halef würde wohl irgendwann noch tüchtige Seebeine bekommen, wie man so sagt.

Ich gesellte mich zu Haschim, der zunächst ernst schaute, mir aber dann einen freundlichen Blick schenkte.

„Nun, Kara Ben Nemsi“, begann er, „das haben wir ja glücklich überstanden …“

„O Haschim“, gab ich zurück. „Von Glück ist da doch kaum zu reden.“

„Richtig, Ihr glaubt ja nicht an Glück …“ Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck, als ich stutzte und mich eines ähnlichen Gesprächs erinnerte.

Haschim lächelte. „Alles bewegt sich in Bahnen und Kreisen und alles wiederholt sich. Manchmal aber ist man dennoch verwundert.“

„Das sind ziemliche Gemeinplätze, Haschim. Recht ungewöhnlich für Euch.“

„Nicht ungewöhnlicher als die jüngsten Ereignisse.“

Ich seufzte. „Wie wahr.“

Wir beide lehnten an der Reling und schauten nebeneinander in die Nacht. Es ist erstaunlich, wie die Anspannung vor einem Kampf, selbst wenn sie sich dann ohne diesen löst, den Geist in einem seltsamen Missverhältnis erschöpft, auch ohne dass die Anstrengungen des Gefechts den Körper beanspruchen.

„Aber“, begann Haschim, „wir sollten nicht weiter darüber nachsinnen, warum welche Begegnungen sich ereignet und warum welche Personen wie gehandelt haben. Schauen wir nach vorn. Die Hexe ist eine Nebenfigur. Es geht hier um Al-Kadir.“

Dies traf für Haschim zweifellos zu. Die beiden Männer waren seit Jahren verfeindet. Wie lang genau und aus welchem Grund, hatte ich bislang nicht erfahren, es war auch nicht von Belang, weil Al-Kadir mir und meinen Gefährten ebenfalls genug Leid zugefügt hatte, sodass ich ihn gleichsam als Feind sah. Die Hexe Qendressa hingegen war wohl nur meine persönliche Widersacherin. Haschim hatte sich ihr nur einmal entgegengestellt, als sie die magische Rüstung des Div-e-Sepid stehlen wollte, und ich wusste nicht, ob es Haschim eher um jenes Artefakt gegangen war oder darum, dass die Hexe mit Al-Kadir verbündet war. Ob es sich zudem um etwaige Feindschaften zwischen Zauberern, Magiern und Hexen handelte, die über die Zwiste zwischen Männern und Frauen hinausgingen, vermochte ich nicht zu beurteilen. Darüber wusste ich, ohne Halef bei dem einen zustimmen zu müssen, über das andere tatsächlich zu wenig.

„Gut“, sagte ich, „richten wir unsere Aufmerksamkeit von der schwarzen Hexe auf die weise Frau, auf Marah Durimeh. Wir gehen in Trabzon an Land und reisen hinab ins Gebiet der Kurden. Dort sollten wir sie finden können. Oder habt Ihr genauere Kenntnisse über ihren Aufenthalt?“

„Gewiss“, murmelte Haschim, „doch dies ist nicht von Nutzen.“

„Aber wir werden sie treffen können?“ Ich war durchaus zuversichtlich gewesen, doch Haschims Worte ließen mich zweifeln. Ich kannte Marah Durimeh und erhoffte mir zudem durch die Hilfe von deren Vertrauten, Ingdscha und Madana, zweier nestorianischer Kurdinnen, ein rasches Auffinden und eine erhellende Begegnung.

„Sicherlich“, nickte Haschim. „Vielleicht wird es etwas mühsam werden. Denn ich glaube, dass Marah Durimeh schon längst von dem Umstand weiß, dass Al-Kadir sich in der Geisterwelt befindet. Und dies verheißt nichts Gutes …“

Haschim sprach nicht weiter. Wir schauten weiter schweigend aufs dunkle Meer. Ich hätte zu gern gewusst, was genau er damit meinte: den schlichten Fakt oder die Auswirkungen. Aber schließlich wusste ich nichts über die Geisterwelt und nur wenig von Marah Durimeh. Es war kaum möglich oder angemessen, dass Haschim mir an der Reling eines russischen Dampfschiffs, in schwarzer Nacht auf dem Schwarzen Meer, all diese Dinge erläuterte. Auch war es spät. Ich unterdrückte ein Gähnen. Haschim schwieg weiterhin. Und dann bemerkte ich, warum:

Der Scheik kaute etwas. Sein Gesicht zeigte einen stoischen Ausdruck. In seinem Blick schimmerte es ein wenig, und ich war sicher, dass es nicht der Seewind war, der ihm die Feuchte in die Augen trieb.

„Was esst Ihr da, Haschim?“, fragte ich. „Es scheint Euch nicht recht zu munden.“

„Ein Seemannsgeschenk von Bossoi“, erklärte Haschim mit verzogenem Mund. „Als Entschädigung für den entgangenen Kampf.“ Er blickte mich leidend an. „Mir scheint es eher als Strafe. Ich weiß, dass Seeleute ein besonderer Schlag unter den Menschen sind und die Russen ein besonderer unter den Männern Europas und des Westens.“

„Ob sie zu Letzteren zählen, ist wohl Ansichtssache, wie mancher meinen würde.“ Mir waren diese Zuordnungen ohnehin einerlei. Als Weltreisenden kümmerten mich weder die Grenzen von Ländern noch Kulturen, am allerwenigsten jene der Sprachen.

Haschim nickte langsam und schluckte bedächtig.

„Aber zweifellos ist es sehr eigentümlich, den Tabak nicht zu rauchen, sondern zu kauen. Und von zweifelhaftem Genuss.“

Ich atmete tief ein und wusste nicht, was mich mehr verwunderte: der sorglose Seemann mit seiner Gabe oder der gutgläubige Scheich, gerade weil dieser doch so gelehrt und weitgereist war.

„Haschim“, sagte ich langsam. „Zunächst ist es so, dass man Kautabak nicht wirklich kaut …“

Die Berge der Rache

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