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6 DAS ORDNUNGS-PARADIGMA He, das gilt auch für Sie!
Oder: Warum befolgen wir selbst unsinnige Regeln?
ОглавлениеWussten Sie, dass im US-Bundesstaat Utah die Jagd auf Wale verboten ist – die man auf den dortigen riesigen Salzseen allerdings recht selten zu Gesicht bekommt. Im sonnigen Kalifornien ist es schon einfacher: Dort verstoßen Sie bereits gegen das Gesetz, wenn Sie auf dem Minigolfplatz Flüche ausstoßen oder mit dem Fahrrad durch den Swimmingpool fahren. In South Dakota ist es illegal, in einer Käsefabrik ein Nickerchen zu machen, und in Florida dürfen Witwen an einem Sonntag nicht Fallschirm springen.
Ist all dies nicht absurd? Stimmt, aber es ist eben auch verboten. Wer jetzt mit der Comic-Figur Obelix denkt, dass hier jemand spinnt, dem gibt vielleicht zu denken, dass man auch in seinem Heimatland recht wenig Spaß versteht: Denn in Frankreich ist es verboten, sein Schwein „Napoléon“ zu nennen. Honi soit qui mal y pense.
Und bei uns ist es nicht viel anders. Wer mit dem Flugzeug reisen muss, der weiß inzwischen: Da der Flugverkehr durch Flüssigkeiten in Behältern mit mehr als 100 Kubikzentimetern massiv gefährdet wird, dürfen Behälter mit mehr als dieser Menge an Inhalt nicht mehr im Handgepäck mitgeführt werden. Genauso muss man alle Behälter mit Flüssigkeiten in einem durchsichtigen, wiederverschließbaren Plastikbeutel, der „Schäuble-Tüte“, bei der Gepäckkontrolle vorweisen. Und die Definition von Flüssigkeit ist ja recht weitherzig, denn es zählen beispielsweise auch Cremes dazu. Auf den Flughäfen ist seitdem das Stück mit der Tüte der Dauerbrenner mit täglich mehreren Vorstellungen. In den Hauptrollen der Kontrolleur und der Passagier. Wir nehmen einen beliebigen Flug, es beginnt der Kontrolleur: „Das ist eine Dose mit 200 Milliliter Inhalt, die müssen Sie hierlassen.“ Passagier: „Da sind aber doch höchstens noch 20 Milliliter drin.“ Kontrolleur: „Schon, aber es ist eben ein Behälter mit mehr Inhalt als erlaubt. Den dürfen Sie nicht mitnehmen.“ Passagier: „So ein Blödsinn!“ Kontrolleur: „Ich habe die Regel nicht gemacht, ich befolge sie nur.“ Hier endet der Akt in der Regel, mitunter wird es auch laut, selten jedoch handgreiflich.
Was sich nach Zwang zur schlechten Lösung und Unsinn anhört, hat dennoch seine Bewandtnis. Denn Gesetze formulieren verbindliche Regeln für die Gemeinschaft. Soziale Normen schaffen und stützen das Funktionieren unserer Gesellschaft im Alltag. Die Spielregeln im Unternehmen erleichtern die Zusammenarbeit.
Aber Ordnung bedeutet auch immer Macht. Denn wer die Regeln formuliert, der bestimmt auch über das Verhalten der anderen. Wir haben uns deshalb daran gewöhnt, in unserem täglichen Leben die guten und die schlechten Gesetze und Regeln einzuhalten. Nicht zuletzt deshalb, weil die Nichteinhaltung in der Regel sanktioniert wird – durch Strafen, durch Kritik oder durch Missbilligung der Kollegen. Und die Einhaltung wird durch das Ausbleiben von Strafen, Belohnung oder Akzeptanz bei den Kollegen belohnt. Und mit der Zeit wird die Beachtung von Regeln bei den meisten zur Gewohnheit und auch guten Praxis. Wer von uns fährt denn schneller als erlaubt, wenn wir wissen, dass ein Blitzgerät genau dort an der Straße steht? Wir tun es höchstens dann, wenn wir uns von diesem Verstoß Positives versprechen, etwa wenn ein Notfall ins Krankenhaus muss. Witzbolde erlauben es sich manchmal, dies in Verkleidung zu tun – und werden nicht selten doch noch enttarnt. Wenn wir davon zum Beispiel aus der Zeitung erfahren, trägt so ein Bericht ganz nebenbei zur positiven Verstärkung ihrer Funktion und der Einhaltung der Regel bei – und deshalb ist die Polizei auch gar nicht abgeneigt, dass wir von ertappten Spaßvögeln erfahren.
Psychologisch betrachtet haben wir es hier mit einem klaren Muster zu tun, nämlich Lernen anhand von Belohnung und Bestrafung. Sie wissen es wahrscheinlich von sich selbst: Regeln zu missachten heißt, eine Sanktion in Kauf zu nehmen. Und das tue ich in der Regel nur dann, wenn die in Aussicht stehende Belohnung den Schaden durch die Sanktion deutlich überwiegt. Oder aber, wenn ich überzeugt davon bin, dass ich beim Verstoß nicht ertappt werde.
Wie Regeln und ihre Konsequenzen in Unternehmen innen aussehen, beschrieb Jens Uehlecke, Wirtschaftsredakteur bei der Zeit, an einem anderen lebensnahen Beispiel. In einer Frankfurter Großbank sollen die Mitarbeiter nicht länger als zehn Stunden am Tag arbeiten. Doch für eine ganze Reihe von Mitarbeitern in Projekten ist diese Regelung nur schwer einzuhalten. Um sie dennoch dazu zu bringen, hat die Leitung ein scharfes Kontrollsystem installiert. Die Personalabteilung wird über die Stechuhr automatisch benachrichtigt, wenn ein Mitarbeiter zu spät geht. Der betreffende Mitarbeiter bekommt am nächsten Tag prompt einen Fragebogen, auf dem er sich für seine Überstunden regelrecht rechtfertigen muss – und mitunter dafür, dass das Ausfüllen des letzten Fragebogens mehr Zeit in Anspruch genommen hat und auch noch was zu tun war. Daher haben sich die Mitarbeiter angewöhnt, kurz vor der Zehnstundenfrist auszuchecken und dann weiterzuarbeiten. Grundlage dieser Regelung ist natürlich das Arbeitszeitgesetz und dass der Arbeitgeber für seine Mitarbeiter eine Fürsorgepflicht hat. Wir fragen uns allerdings schon, ob der tägliche Fragebogen und die daraufhin entstandene Praxis der unregistrierten und unentgeltlichen Mehrarbeit wirklich Sinn machen, was wir bezweifeln. Ändern dürfte sich dennoch nichts. Denn obwohl es unsinnig ist und alle nichts wirklich gewinnen, halten sich alle an die Regel, versuchen eine positive Seite daran zu entdecken, damit sie mehr oder minder froh sind: nämlich der Betriebsrat darüber, weil man die Regeln einhält. Die Personalabteilung, weil ihr Fragebogen so erfolgreich war und gebraucht wird. Und die Mitarbeiter, weil sie dank ihres Tricks jetzt wenigstens in Ruhe arbeiten können.
Wer die Spielregeln eines Unternehmens nicht erkennt und mit gewisser Sicherheit beherrscht, hat beim Spiel um den beruflichen Aufstieg von vornherein schlechtere Karten. Experten von Personalberatungen und speziellen Outplacementfirmen sehen eine der wesentlichen Hürden für beruflichen Erfolg darin, dass viele Mitarbeiter geltende oder unausgesprochene Unternehmensregeln nicht ausreichend beachten. Dies ergab eine Befragung von Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU und der Zeitschrift Wirtschaftswoche unter rund 500 Entscheidern aus Beratungsgesellschaften. Mit einem eindeutigen Ergebnis von 48,6 Prozent wurde als Nummer zwei der Topkarrierekiller genannt: Die Spielregeln des eigenen Unternehmens nicht durchschauen.
Gerade im Berufsleben bestimmen Regeln alltägliche Entscheidungen des eigenen Verhaltens und münden in viele W-Fragen: Wann gibt man als Neuling seinen Einstand? Und lädt man dazu nur die Mitglieder der Abteilung ein? Was ist die angemessene Kleidung im Seminar? Wie offensiv darf ich im Kollegenkreis meine abweichende Meinung äußern? Wer bezahlt auf der Geschäftsreise, wenn ich am Abend mit meinem Chef noch ein Bier trinke? In jeder Gruppe gelten Normen und Regeln, die das Verhalten von Mitgliedern steuern. Solche Regeln können formal oder informell sein. Jeder Sportverein hat eine Vereinssatzung und in jedem Mehrfamilienhaus gilt eine Hausordnung. Auf der anderen Seite gibt es ungeschriebene Regeln, und es ist ratsam, sich an diese zu halten. Denn meist sind diese sogar noch wichtiger als die offen bekannt gegebenen Normen. Solche ungeschriebenen Maßstäbe regeln die angemessene Bekleidung, das richtige Verhalten, den passenden Sprachgebrauch und formulieren die Tabus der jeweiligen Mikrogesellschaft, in der sie Gültigkeit haben.
Von Gruppen spricht man in wissenschaftlicher Hinsicht dann, wenn mindestens drei oder mehr Personen dauerhafter miteinander interagieren. Gruppen haben immer eine innere Struktur, Abgrenzung nach außen und eine erkennbare Form von Zusammenhalt nach innen. Diese Gruppenstrukturen werden durch Normen und Regeln geschaffen. Die gute und die schlechte Leistung von Gruppen sind im Wesentlichen von der Struktur und der Qualität der Beziehungen abhängig. Die Identität von Teams bestimmt sich durch eigene Traditionen und informelle Normen, durch Symbole der Zugehörigkeit und die Abgrenzung zu anderen Gruppen. Es gibt Regulative für die Aufnahme neuer Mitglieder. Regeln und Normen in Gruppen erleichtern das Zusammenleben und die Zusammenarbeit. Sie entwickeln sich durch so etwas wie den Import bekannter Normen, durch die Orientierung an Beispielen und durch die Entwicklung eigener Regeln. Nach einer Art Erprobung in der Gruppe werden Normen akzeptiert und gelebt. Es gibt Konsequenzen, die die Einhaltung der Normen belohnen und einen Verstoß sanktionieren. Übliche und hilfreiche Normen in Gruppen sind Fairness, Gegenseitigkeit, Rücksichtnahme, die Erfüllung der Rollenerwartungen, durch Vernunft geprägtes Verhalten und Regelungen, die im Konfliktfall zur Anwendung kommen.
Immer entwickelt sich aber auch ein gewisser Gruppendruck, der im positiven Fall die Zugehörigkeit zur Gruppe unterstützt und die Identität sichert. Gruppendruck wird gefährlich für ein gutes Funktionieren der Gruppe und das Wohlbefinden der Mitglieder, wenn bestimmte Grenzen überschritten werden. Der an sich notwendige und positive Glaube an die Gruppe geht dann mit negativen Erscheinungen wie erzwungenem Konsens einher. Auch legen solche Gruppen besonderen Wert auf die Einhaltung ihrer Normen und Regeln, worauf wir an anderer Stelle in diesem Buch noch eigens eingehen.
Allerdings führen allzu viel Folgsamkeit und Bravheit dazu, dass wir uns und unserem Erfolg im Wege stehen. Wir befolgen dann nämlich auch unsinnige Regeln oder wir lassen uns durch an sich sinnvolle Regeln bremsen, gerade weil ein anderer gekonnt und rücksichtslos dagegen verstößt. So gibt es zum Beispiel eine Reihe unausgesprochener Regeln für ein höfliches und faires Gespräch. Wenn Ihr Gesprächspartner genau diese Regeln aber missachtet, dann sollten auch Sie vielleicht einmal von den vorgegebenen Mustern abweichen. In besonderen Fällen, etwa wenn es eng wird oder wenn besondere Chancen auf Sie warten, dann lohnt es sich durchaus, hier Kontrapunkte zu setzen. Andere Menschen zu unterbrechen gilt als unhöflich und unfreundlich – Vielrednern aber müssen Sie sogar das Wort abschneiden, sonst gehen Sie unter. Bei einem unfreundlichen Empfang, einem Auftakt mit rüder Sprache verkneifen Sie sich hingegen das Revanchefoul, seien Sie aber betont freundlich, ruhig und damit unberührbar. Wenn es gar nicht anders geht, kann als Notwehrmaßnahme dieser Ansatz helfen: Bringen Sie Ihren unfreundlichen Gesprächspartner aus dem Gleichgewicht. Verdrehen Sie seinen Namen, setzen Sie Ihre Schlagfertigkeit ein, arbeiten Sie mit Ironie, überraschen Sie ihn durch einen gezielten Themenwechsel. Im räumlichen Kontakt verringern Sie die Distanz zu ihm, berühren Sie ihn, benutzen Sie Dinge, die eigentlich ihm gehören wie sein Handwerkszeug, Stifte oder persönliche Gegenstände.
Dabei gilt generell: Erlauben Sie sich, über Regeln nachzudenken. Reflektieren Sie die Sinnhaftigkeit und den Nutzen und nehmen Sie auch Rücksicht auf die Bedürfnisse Ihrer Mitmenschen. Aber wenn all das gewährleistet ist, dann sollten Sie sich frei fühlen, Regeln und Normen souverän zu missachten, Ihren eigenen Stil zu entwickeln und dadurch vielleicht sogar positiv aufzufallen. Gerade dafür ist der kontrollierte Regelbruch mitunter die einzige Möglichkeit bei vielen, die dasselbe wollen wie Sie. Unter dem Führungsnachwuchs einer großen Bank in Frankfurt, immerhin auch eine dreistellige Anzahl von Mitarbeitern, galt beispielsweise die Erkenntnis, dass es nur zwei Arten gibt, wie die oben auf dich aufmerksam werden: Wenn man großen Mist baut, obwohl man nach den Regeln gespielt hat – dann ist man draußen. Oder wenn man Erfolg hatte, obwohl man die Regeln gebrochen hat – dann kommt man richtig weit. Nach unserer Erfahrung gilt diese Regel nicht nur im Frankfurter Bankenviertel.
„Bei uns wird das nun einmal so gemacht!“
Normen, Regeln und Werte ordnen und vereinfachen unser Zusammenleben.
Sie schaffen Sicherheit für richtiges Verhalten, schränken aber auch ein.
Verstöße werden meistens von der Gemeinschaft geahndet.
Wer die Spielregeln definiert, übt erheblichen Einfluss aus.
Normen, Regeln und Werte werden häufig ungeprüft übernommen.
Überlegen Sie:
Welchen Sinn haben die gültigen Regeln?
Wer profitiert davon, dass sich alle daran halten?
Kann ich die geltenden Regeln überhaupt ignorieren oder ändern?
Lohnt sich der Aufwand, will ich den geforderten Preis dafür zahlen?
Was ist der beste Weg, eine Änderung zu erreichen?