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2 DER KOMPLEXITÄTS-ARGWOHN Einfach = richtig.
Oder: Warum mögen wir lieber simple Lösungen, dafür sogar falsche?

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Es ist doch so einfach, zu Geld zu kommen: indem man erst welches ausgibt, um dann richtig zu sparen. Wer dieses simple Prinzip anerkennt, war ein willkommener Kunde bei der „Alternative Kollektive Wertschöpfung“, die im Jahr 2003 in Berlin an Wohnungstüren und per Telefon unterwegs war. Man musste nur 250 Euro einzahlen, um dann nach drei Monaten im Wert von 650 Euro einkaufen zu können – ohne zusätzliche Zahlung, egal wo oder was gekauft werden sollte. Und wer sich dafür begeistern konnte, war meist auch interessiert daran, zusätzliche Provisionen von bis zu 17 000 Euro einzustreichen, sofern man weitere Kunden beibringen konnte, die sich auch jeweils mit 250 Euro beteiligten. Ein einfaches Prinzip, das jeder versteht, bei dem jeder mitmachen kann. Und weil es was für jeden ist, muss es geradezu ein Erfolg werden.

Oder eben auch nicht, wie die Richter des Berliner Landgerichts urteilten. Das Geschäftsmodell sei aus sich heraus nicht erklärbar und könne nicht funktionieren – wie alle Systeme, die auf dem Schneeball- oder Pyramideneffekt aufbauen, die man besonders am unregulierten „grauen“ Kapitalmarkt findet. Wer glaubt, was die Verkäufer erzählen, entscheidet sich damit meist für die Seite der sicheren Verlierer. Der Deutsche Anlegerschutzbund in Frankfurt am Main schätzt, dass hier jährlich rund 20 bis 30 Milliarden Euro Schäden am Vermögen der Kunden verursacht werden. Aber nur ein Bruchteil der Fälle wird angezeigt, wobei Geld aus hinterzogenen Steuern allerdings nur eine Nebenrolle spielt.

Doch die Anziehungskraft dieser betrügerischen Modelle kommt nicht von ungefähr: Unsere vielschichtige und komplizierte Umwelt wird radikal vereinfacht auf einen „Generalschlüssel zum Glück“, den man uns zu Sonderkonditionen gern verkauft. Der Erfolg hängt dabei nur von ganz wenigen Einflussgrößen ab, deren Erfüllung man sich durchaus zutrauen kann. Wenn man zum Beispiel drei weitere „Vertriebspartner“ im Monat beibringen muss, um dann an deren Umsätzen mitzuverdienen, dann sieht das nicht unmöglich aus – das sollte doch zu schaffen sein, wenn man nur fleißig ist und genügend Menschen fragt.

Sicherlich, doch genau das ist das Problem. Denn nicht nur einer tut das, sondern jeder bisherige Spieler und jeder Neuanfänger. Sie können gar nicht so viele neue Leute herbeibringen, wie schon rein zahlenmäßig benötigt werden, um die Provisionen für alle Beteiligten in diesem Spiel zu bezahlen. Genau diese Komplexität ist für viele schwer vorstellbar, und die einfache Regel ist auch leichter zu begreifen. Doch schon bald trifft man auf abgegraste Weiden, sprich Menschen, die bereits mehrfach angesprochen wurden und ablehnten. Wie bei einer Hydra wachsen dauernd neue Köpfe, die gefüttert werden wollen. Damit ist klar: Satt werden nur jene, die sich so etwas ausdenken, früh einsteigen und somit gleich oben anfangen.

Auch auf anderen Gebieten des täglichen Lebens verfangen die einfachen Rezepte. Wie etwa „Wünsch dich reich!“ – das ist die Grundaussage des Buchs „The Secret“ der US-Autorin Rhonda Byrne, die etwas ganz Besonderes entdeckt hat: das Gesetz der Anziehung, demzufolge Gleiches wiederum Gleiches anzieht. Dieser schöpferische Prozess hat nach Byrne drei Schritte: bitten, glauben, empfangen. Und er ist anwendbar auf alle Lebenslagen, von der Partnerschaft bis zur Karriere – wer hätte nicht schon genau nach diesem Generalschlüssel für sein Leben gesucht? Man kann sich das Universum demnach als so eine Art Versandhauskatalog vorstellen, und die Welt wird liefern, was immer man sich wünscht.

Klingt toll, und zumindest bei der Autorin hat es schon ein klein wenig funktioniert. Ihr Buch wurde von der einflussreichen US-Talkmasterin Oprah Winfrey in deren Show zur besten Sendezeit vorgestellt – eine Garantie für einen der vorderen Plätze auf den Bestsellerlisten des größten Buchmarktes der Welt. Und was in den USA funktioniert, das klappt so ähnlich auch anderswo. Auch dies scheint eine Regel der Simplizität zu sein, auf die auch andere als Rhonda Byrne gekommen sind, sogar in Deutschland und diesmal sogar früher als in den Vereinigten Staaten. Denn nicht viel anders sind die Ansichten, die von Bärbel Mohr im Buch „Bestellungen beim Universum“ vertreten werden, das im Jahr 1998 erschien und mittlerweile schon in der 28. Auflage vorliegt.

Solche Bücher sind sehr zahlreich, und sie sind erfolgreich. Warum? Nun, sie bieten den Menschen einfache Methoden und schnelle Lösungen. Die sind immer gefragt, gerade auch in der Managementliteratur. Derzeit sind zum Beispiel Symboliken aus Flora und Fauna der letzte Schrei. Dort wimmelt es neben anderen Fischen von Delfin-Methoden, Peperoni-Strategien, Kakerlaken-Methoden und Mäuse-Strategien mit der Antwort auf die alles entscheidende Frage: „Who moved my cheese?“ In allen diesen Büchern werden also Techniken, Mechanismen und Prinzipien entdeckt, erklärt und wärmstens empfohlen, die alle todsicher wirken und von jedem angewendet werden können.

Ist es wirklich so leicht? Wohl eher nicht. Leicht ist nur der Glaube an etwas, und viele von uns glauben deshalb gerne, was sie gerne glauben möchten. Das kann man sich zunutze machen, denn Wunschbotschaften im Verbund mit einfachen Aussagen sind schlicht überzeugend. In den 90er-Jahren stand der Name Jürgen Höller für Motivationsseminare mit vollmundigen Sprüchen („Ich bin der Beste!“), aber wenig Substanz. Die Seminare waren – trotzdem oder deswegen – sehr erfolgreich. An guten Tagen füllte Herr Höller die Westfalenhalle mit 14 000 Fans. Als Ergebnis weniger erfolgreicher geschäftlicher Aktivitäten wurde er 2002 wegen Konkursvergehens verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung auf Bewährung im April 2004 gibt er sich in öffentlichen Auftritten geläutert, führt aber weiter seine Seminare in der von ihm gewohnten Weise durch.

Da wäre es doch überraschend, wenn diese Masche nicht auch bei anderen ziehen sollte: So führen die Mitarbeiter und Inhaber der Aktienpower AG mit Sitz im schweizerischen Zug anscheinend recht erfolgreiche Seminare in Deutschland durch, in denen den Zuhörern Zeichnungsscheine für eine außerbörsliche Emission angedient werden. Diese Finanzfüchse sind übrigens in der Mehrzahl frühere Adepten des eben erwähnten Höller. Die Börsenseminare sind laut Aussage der Referenten „so genial, dass sie die Finanzwelt in ihren Grundlagen erschüttern“ werden. Um die Versprechungen des Aktien-Kraftmeiers Alfredo Cuti und anderer zu erfüllen, hätte das Unternehmen im Jahr 2007 immerhin 180 Millionen Schweizer Franken Gewinn nach Steuern erwirtschaften müssen. Wie die Wirtschaftswoche berichtete, waren es im Frühjahr 2005 noch vergleichsweise überschaubare 1,1 Millionen Franken. Zwei Dutzend Personen (immerhin alle Direktoren) betreuten vorgebliche 4 000 Kunden, in nur zwei Jahren sollten es 150 Mitarbeiter sein, die dann 24 000 Kunden betreuen – ein Meisterstück an Wachstum! Es scheint, als ließen sich trotz der höchst dubiosen Randerscheinungen und vieler kritischer Stimmen offensichtlich immer genügend Menschen von der Aussicht auf schnellen Reichtum ohne Anstrengung einlullen.

Simple Erklärungen üben auf Menschen offensichtlich große Faszination aus. Einfache Wahrheiten und Methoden scheinen dabei geradezu unfehlbar zu wirken, wie etwa beim Beispiel von Frau Dr. med. Waldmann-Selsam. Wie der Spiegel berichtete, befragt sie seit Jahren vor allem Menschen, die leidend sind, für deren Krankheiten sich aber keine einfachen Diagnosen finden lassen. Die Ärztin aus Bamberg hingegen weiß, dass es an den Handystrahlungen liegt und sie trägt emsig Belege dafür zusammen. Typische Belege sind immer isolierte Beobachtungen und selektive Interpretationen: Hamster, die das Wachstum einstellen, oder ein Bambus, der nur sechs statt der möglichen zehn Meter wächst, Kinder mit Schulschwierigkeiten oder ein Paar mit Problemen in der Ehe. Immer sind die Handystrahlungen schuld – und solche tödlichen Sendemasten gibt es in ganz Deutschland. Damit ist doch alles klar – wundert Sie da noch irgendwas?

Und wenn ich diese Wahrheiten intensiv und häufig genug verbreite, dann finde ich auch Glauben mit meinen Behauptungen. Ein Erfolgsfaktor ist die Häufigkeit, mit der ich meine Meinungen verbreite. Eine aktuelle Studie der Virginia Tech University mit mehr als 1 000 Teilnehmern kommt zu dem Ergebnis, dass eine beliebige Aussage umso glaubwürdiger wirkt, je häufiger sie wiederholt wird. Dies gilt unabhängig vom Inhalt und davon, ob sie von einer Person oder von vielen verbreitet wird.

Das Muster scheint immer dasselbe: Wir wünschen uns einfache Rezepte und Konzepte, die unser komplexes Umfeld als ein Räderwerk beschreiben, das vorhersagbar ist und das wir durch einfache Steuerung lenken können. Einfache Analogien und simple Erklärungen wirken auf uns oft überzeugender als komplizierte Erläuterungen, die aber leider oft der Wahrheit näher kommen.

Für den bekannten Psychologieprofessor Dietrich Dörner sind logische Fallen durch Vereinfachung an der Tagesordnung. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir in seinen Augen den Anforderungen von komplexen Situationen in vielen Fällen nicht gewachsen sind. Komplexität erzeuge Unsicherheit und könne verhängnisvolle Kettenreaktionen auslösen, so Dörner, der dieses Phänomen in Studien („Tana-Land“) bereits Ende der 70er-Jahre nachwies: Versuchspersonen wurde die Aufgabe gestellt, die Lebensbedingungen in einem fiktiven Land zu verbessern. Zu Beginn der Studien handelte es sich um eine recht einfache Computersimulation mit nur wenigen Variablen. Alle diese Variablen waren bekannt gegeben und durften variiert werden. Es zeigte sich, dass die Probanden fast ausnahmslos das ursprünglich stabile Gefüge zerstörten und dadurch häufig katastrophale Zustände schufen. Das könnte so manchen an die Folgen politischer Interventionen in unser Leben erinnern.

Eine weitere leider tragische Bestätigung seiner Thesen in der Realität wies Dörner 1989 am Beispiel des Atomreaktorunfalls von Tschernobyl nach. Es war niemand eingeschlafen, kein falscher Schalter betätigt worden – alles lief wie eigentlich normal. Und doch nicht, denn es gab ja den Störfall.

Um mit diesen Unwägbarkeiten überhaupt klarzukommen, vermindert laut Dörner das Gehirn die Zahl der „Stellschrauben“ – und klammert damit Details, Nebenbedingungen und Kompliziertheiten aus der Betrachtung aus. Was übrig bleibt, ist vor allem Bekanntes – und das kann man lösen, denn man kennt es ja. Leider ist es nur ein Teil des Problems, und die Teillösung hat Auswirkungen auf den ganzen großen Rest, den man ausgeklammert hat. Dörners Fazit: Wir verlagern, ohne es zu wollen, die Entscheidungen und damit die Kontrolle über das Geschehen letztlich in Bereiche, die sich dem Zugriff entziehen.

Wir leben in komplexen Netzwerken – diese Tatsache zu akzeptieren fällt uns offensichtlich reichlich schwer. Denn sie begrenzen unsere Möglichkeiten, selbst aktiv einzugreifen in unser tägliches Leben. Und damit erfahren wir einen Widerspruch zwischen unserem Bedürfnis nach autonomem Handeln und den in der Realität recht begrenzten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Dabei versuchen wir immer wieder durch einfache Eingriffe die Steuerung eines komplexen Systems zu leisten. Das gilt für den Bereich der Politik wie für Unternehmen, die bei Schwierigkeiten im Unternehmen oder am Markt einfach den Vorstandsvorsitzenden austauschen und dabei oft glauben, dass die Denke des Vorstands sich gewissermaßen automatisch auf alle Mitarbeitenden überträgt.

Doch es führt leider kein Weg daran vorbei: Wir müssen zunächst einmal die Komplexität unseres Umfelds akzeptieren. Dann müssen wir uns eingestehen, dass eine Reihe von Sachverhalten nur nach ausführlicher Betrachtung zu verstehen sind und dass dieses Verstehen ein großes Maß an intellektueller Anstrengung und Erfahrung erfordert. Wir werden dann eher bereit sein, zu akzeptieren, dass erfolgreiches Handeln in solchen Kontexten eben häufig selbst auch nur wieder komplex und langwierig sein kann. Erfolge stellen sich oft erst mit Verzögerung ein und sie können nur selten einzelnen Personen angelastet werden. Ob Politik, Management oder das ganz normale Leben – es ist eher wie ein Flugsimulator mit vielen Knöpfchen und weniger wie ein Flipper mit zwei Drückern links und rechts.

Noch schwerer zu akzeptieren wird für uns die Lage auch dadurch, dass sich Erfolgsrezepte anderer eben nicht so einfach auf unsere Situation übertragen lassen. Der Ansatz des Lernens von den Besten bedeutet nur für Naive, dass sich deren Konzepte einfach adaptieren lassen. Und das, was im Sport erfolgreich ist, lässt sich eben gerade nicht eins zu eins in die Wirtschaft übertragen. Wenn wir einmal genauer hinsehen, dann sind Spitzensportler im Durchschnitt in ihren Berufen eben nicht häufiger erfolgreich als Otto Normalverbraucher – nur einige sichtbare Ausnahmen scheinen die Regel zu bestätigen. Erfolg im Sport ist nicht gleich Erfolg im Geschäft, was nicht nur Boris Becker bestätigen könnte. Nicht von ungefähr können nach dem Ende ihrer Profikarriere längst nicht alle Bundesligaprofis auch später von den Früchten ihrer Arbeit leben. Jeder vierte Ex-Profi hat dann nichts mehr auf der hohen Kante, erklärt Michael Daudert, der zahlreiche Fußballspieler in Finanzfragen berät. Und so mancher musste Privatinsolvenz anmelden wie Eike Immel, einstiger Spitzentorwart und 19-maliger Nationalspieler: Um seine Schulden abzuzahlen, ging Immel sogar ins TV-Dschungelcamp. Einzelne Erfolgsbeispiele sollen oft das Gegenteil belegen, sie sind aber eben genau das: Einzelfälle.

Man kann aus solchen Beispielen sicher etwas lernen, aber es handelt sich nie um Patentrezepte, die man dann nur noch anwenden muss. In Unternehmen gilt: Was bei General Electric funktioniert, das funktioniert noch lange nicht bei Siemens oder bei ABB. Ein und dasselbe Patentrezept wird oft von international tätigen Beratungen in Wellen über ganz unterschiedliche Branchen und Unternehmen verbreitet. Ob Kostensenkung oder Marketingoffensive, es macht den einen durchaus erfolgreich, den anderen bringt es aber mitunter in große Schwierigkeiten.

Behalten Sie den kritischen Blick, analysieren Sie das ganze System und seinen Sie offen für komplexe und individuelle Lösungen. Einfachheit kann ungeahnte Erfolge bringen, wenn man herausfindet, wo sie nötig und gewollt ist. Der Erfolg des „Logan“-Autos der rumänischen Renault-Tochter Dacia ist so ein Beispiel. Wie sehr Autofahren uns inzwischen fordern und sogar überfordern kann, dazu reicht bereits eine Testfahrt in einem mit Bordelektronik vollgepackten Mittelklassewagen. Schon die Sitzverstellung ist mitunter ohne einen Blick in die Bedienungsanleitung nicht mehr zu betätigen. Elektronik, die man nicht braucht und die deshalb nicht eingebaut ist, kann auch nicht ausfallen und muss nicht teuer repariert werden. Oder die Mobiltelefone von Nokia: Sie galten stets als intuitiv bedienbar, in jedem Fall eher als die Handys anderer Hersteller. Und schließlich haben die Albrecht-Brüder mit Aldi die bewusste Einfachheit auf einen Geschäftszweig angewendet, der sich bis dahin durch das Gegenteil auszeichnete. Doch in jedem dieser Fälle zeigt sich: Einfachheit ist nie eindimensional – und vor allem wieder das Ergebnis komplexer und genauer Überlegungen.

„Das kann doch nicht so kompliziert sein!“

Menschen bevorzugen einfache verständliche Lösungen.

Solche Lösungen werden durch einfache Methoden erzielt.

Einfache Lösungen und Methoden verringern die Komplexität unseres Umfelds.

Menschen sind nur schlecht in der Lage, komplexe Netzwerke zu überblicken.

Ein komplexes Umfeld zu steuern fällt den meisten schon bei nur wenigen Variablen sehr schwer.

Trotzdem:

Hüten Sie sich vor einfachen Lösungen. Meist wird unzulässig vereinfacht.

„Patentrezepte“ gibt es nicht. Das möchten Ihnen nur die Erfinder solcher Methoden weismachen.

Erfolgreiche Lösungen lassen sich nicht von einer Situation auf andere übertragen.

Prüfen Sie immer, ob alle relevanten Aspekte berücksichtigt wurden.

Überprüfen Sie von Zeit zu Zeit den Zustand der relevanten Variablen.

Der Macht-Code

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