Читать книгу Glashauseffekt - Alexander Sperling - Страница 15

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Es ist Freitag, kurz nach 12 Uhr, und Gloria Perec nimmt gerade den früher sehr einflussreichen, mittlerweile aber steinalten Bauernführer der 20er-Jahre, Anton Deindl, in dessen Abwesenheit auseinander. Die ganze Woche schon hat sich der Prozess ausschließlich um ihn und sein Wirken als »Cheflobbyist der konventionellen Turbolandwirtschaft« gedreht. Neben Insektensterben und Grundwasserverseuchung ist es vor allem um die fatale Verbreitung antibiotikaresistenter Keime gegangen, die zur Mitte des 21. Jahrhunderts hin immer weiter zugenommen haben. Inzwischen sind diese hochentwickelten Keime eine weit größere Gefahr, als es AIDS oder BSE in Deutschland je waren. Ericas Empfinden nach sind dies die bislang belastendsten Prozesstage gewesen, in denen die Übertragung der multiresistenten Erreger über Luft, Fleisch und Gülle zusammen mit den gravierenden gesundheitlichen Folgen detailliert nachgezeichnet worden sind. Das ist fast genauso auf den Magen geschlagen wie die Situation zu Hause, wo Philly tagsüber immer noch unbeaufsichtigt mit Dingo herumsitzt. Dazu ihre Eltern, die ihr mit zunehmender Dauer des Prozesses immer fremder werden.

Gerade fasst Perec noch einmal gnadenlos die letzte Prozesswoche zusammen und legt energisch Deindls Rolle in dem ganzen gewaltigen Schlammassel dar, bevor es am Montag dann mit Eilers, dem einzig persönlich erschienenen Angeklagten, weitergehen soll.

»… und so hat sich während der 2020er-Jahre auch die Menge an Antibiotika, die in der deutschen Tiermast eingesetzt wurde, nicht etwa weiter verringert, sondern ist im Gegenteil von deutlich unter 1000 Tonnen pro Jahr noch einmal auf über 1500 Tonnen pro Jahr angestiegen! Der Angeklagte stand dieser vernunftwidrigen und fatalen Entwicklung nicht nur wohlwollend gegenüber, sondern hat persönlich …«

Da bemerkt Erica plötzlich, dass ihr Handy vibriert. Es ist Lynn, eine sehr gute Freundin, mit der sie zusammen sechs Jahre in einer Nürnberger Brennpunktgrundschule überstanden hat. Sie drückt den Anruf weg, schickt aber gleich eine Nachricht hinterher:

Gerade busy, was gibt’s?

Sofort kommt die Antwort:

Nicht per Messenger. Wann kannst du reden?

Ericas Puls steigt, irgendwas ist da los.

In 5 min, ok?

Ok!

Erica packt schnell ihre Tasche zusammen und steht leise auf. Ihre PfG-nahe Nachbarin starrt sie entgeistert an, weil sie in einem solch wichtigen Moment den Saal verlassen möchte. Sogar ihr anderer Sitznachbar, dieser Tom, sieht mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihr hoch.

Draußen, im großen Foyer des Forums, zieht Erica ihr Handy wieder aus der Tasche, ihre Freundin geht sofort ran.

»Lynn, was ist los?«

»Ich halte es hier keine Sekunde länger aus«, flüstert diese. Man hört, dass sie sich zwingen muss, ruhig und leise zu sprechen.

»Was ist denn los? Wo bist du?«

»Zu Hause! Ich kann mit diesen Menschen nicht mehr unter einem Dach leben. Ich weiß eigentlich nicht, wie ich es jemals konnte!«

»Wieder Streit mit deinen Eltern gehabt?«

»Erica, hör zu, das war kein Streit. Wir sind fertig mit-

einander! Zerwürfnis, totaler Bruch!« Lynns Stimme ist trotz des Flüsterns hoch und dünn geworden, Erica hört mit angehaltenem Atem zu.

»Und jetzt?«

»Kann ich vielleicht bei dir unterkommen? Nur vorübergehend?«

Erica lacht trocken auf.

»Bei mir? Lynn, bei uns brennt es an allen Ecken und Enden, du kommst vom Regen in die Traufe. Wenn überhaupt, dann ziehe ich zu dir!«

»Ich habe heute beim Streamen meine Eltern mal explizit gefragt, ob sie sich nicht ein bisschen für ihre früheren Eskapaden schämen wollen, aber mein feiner Papa hat nur dreckig gelacht und gesagt, jede Kreuzfahrt, jeder Wochenendtrip in die USA und das alles sei es absolut wert gewesen, weil sie dadurch zumindest früher ein geiles Leben gehabt hätten. Und dann ist mir der Kragen geplatzt, und ich habe geschrien, dass man sie allein für dieses dreckige Lachen an die Wand stellen sollte. Erica, ich kann hier nicht mehr bleiben!«

Erica muss schlucken.

»Okay, ich verstehe. Ich fahre nach der Verhandlung gleich heim, dann kannst du kommen. Ich schreibe dir!«

»Was werden deine Eltern sagen?«

»Was sie in solchen Situationen immer sagen: Mi casa es tu casa. Vielleicht behalten wir die Einzelheiten aber besser für uns. Kopf hoch und bis später!«

Das weitläufige Foyer, ein Meilenstein des schwer angesagten Faunal-Stils, ist inzwischen voller Menschen. Kriebl hatte offenbar schon Hunger. An wichtigen Verhandlungstagen mischen sich in der Mittagspause hier Zuschauer, Journalisten und auch ein paar der Prozessbeteiligten zu einem aufgeregten Austausch, bevor alle in die Forumskantine verschwinden, in die Erica nicht gehen kann, weil das Essen dort zu teuer ist. Ihr Prozessnachbar steht ganz in der Nähe, schüttelt wie auch sonst in den Prozesspausen pausenlos Hände und nickt mit seiner intelligenten Brille hierhin und dorthin. Er scheint wirklich jeden zu kennen. Ihre Blicke treffen sich zufällig, als sie an ihm vorbeigeht, und er unterbricht sein Gespräch.

»Erica! Alles okay bei dir? Du hast dich so plötzlich davongemacht …«

»Ja, alles klar. Musste nur dringend eine Freundin zurückrufen. Hat sich mit ihren Eltern, äh, gestritten, um es mal zurückhaltend zu formulieren, und will jetzt übergangsweise zu mir ziehen.«

Das scheint ihn nun doch zu interessieren. Er hält seinen Kopf schief, zieht die Augenbrauen zusammen und sieht sie fragend an.

»Doch nicht etwa deswegen?«

Er deutet vage in Richtung Al-Gore-Saal.

»Letztlich irgendwie schon, denke ich.«

Er seufzt, schüttelt den Kopf und geht dann gedankenvoll in Richtung Kantine, jedoch nicht ohne ihr vorher aufrichtig alles Gute bei der Aufnahme des »Flüchtlings« gewünscht zu haben. Die zweite Hälfte des Prozesstages kommt Erica sehr lang vor, ihre Gedanken schweifen ständig ab.

Ein paar Stunden später sitzt sie in der kleinen Dachgeschosswohnung, im ersten Stock des von ihren Eltern gemieteten Reihenhäuschens, wo es inzwischen ziemlich eng geworden ist. Wo am Abend nach Phillys Rückkehr noch die Gästematratze lag, ist nun Lynns Isomatte ausgebreitet, und Erica ist froh, dass Lynn da ist. Sie hat jetzt das Gefühl, zumindest eine Verbündete in ihrem plötzlich so fremden Zuhause zu haben. Phillys Matratze dagegen hat sie gleich am Tag nach der Party eigenhändig ins Wohnzimmer geworfen.

Erica weiß nicht, ob ihre Eltern ihren Artikel gelesen haben, erwähnt haben sie ihn jedenfalls nicht. Eigentlich ist ihr das ganz recht, doch sie muss sich trotzdem eingestehen, davon irgendwie enttäuscht zu sein. Trotz aller Reibereien hatte sie eigentlich immer einen guten Draht zu ihren Erzeugern. Lynn dagegen hat den Artikel sogar Korrektur gelesen und fand ihn klasse, auch wenn sie sich noch viel mehr Schärfe gewünscht hatte. Du schonst die Alten immer noch viel zu sehr, hat sie mehrmals gesagt. Immer feste druff, Schluss mit der permanenten Verdrängung, das war ihre Devise.

Jetzt sitzt Lynn auf der Bettkante und weint, vor ihr steht ihr halb ausgepackter Rucksack. Ein paar Ersatzklamotten, einen Waschbeutel und was sie am Körper trägt – mehr hat sie nicht mitgenommen. Erica sitzt neben ihr, drückt sie an sich und murmelt: »Wird schon wieder«, oder: »Wir finden schon eine Lösung.«

Sie blickt auf die dünne Isomatte. Ach ja, die gehört auch noch zu Lynns Gepäck.


Glashauseffekt

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