Читать книгу Glashauseffekt - Alexander Sperling - Страница 8

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Wellenförmig schwillt das erwartungsvolle Gemurmel auf den Zuschauerbänken an und ab. In den ruhigeren Momenten meint Erica dann jedes Mal, den Lärm der zwei polizeilich voneinander getrennten Demonstrationsblöcke noch bis hier drinnen hören zu können, als eine Art dumpfe Geräuschbrandung in der Ferne. Die Aufregung im Vorfeld des Prozesses ist so groß gewesen, dass sogar Dingo, Ericas bislang stets unpolitischer Freund, zur Demo kommen wollte.

Ein Kollege setzt sich auf den Stuhl neben sie, legt sein OCD geschäftig auf den Tisch und gibt den Befehl zum

Unfold. Er dürfte Ende 30 sein, hat braunes, leicht gewelltes Haar und eine sehr intelligente Brille, durch die er auf den blitzschnell aufgebauten Bildschirm seines teuren Office-Complete-Device blickt. Er grüßt nicht herüber, nimmt keine Notiz von ihr. Erica lässt den Blick trotzig durch den Al-Gore-Saal wandern. Sind das nun eher 500 oder 2000 Leute im Publikum? Oder noch mehr?

Sie befindet sich auf der Pressetribüne, die die ganze rechte Seite des U-förmigen Oberrangs einnimmt. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzen Zuschauer neben jeder Menge nach unten gerichteter Kameras und Scheinwerfer. Die besten Plätze oben, auf der kurzen Seite des U und mit geradem Blick zur Bühne, sind für die Ehrengäste reserviert.

Erica kann sich nicht sattsehen an dem verrückten Anblick, der sich dort bietet: Bundeskanzler Nils van Dyke tatsächlich in der ersten Reihe direkt neben TT, Tristan Trautmann, dem Anführer der PfG. Kanzler van Dyke hat seine undurchdringlichste Miene aufgesetzt, aber Erica findet trotzdem, dass er aussieht, als hätte er einen sehr bitteren Geschmack im Mund. TT dagegen blickt stoisch, weder mit einem Siegeslächeln noch sorgenvoll, eher konzentriert.

Sollte sie solche Eindrücke aufschreiben? Sie schielt ein wenig nach rechts. Ihr Nachbar sieht sich überhaupt nicht um, sondern ist ganz in seinen digitalen Sekretär vertieft. Arbeitet wahrscheinlich schon an einem Artikel über den Prozessauftakt.

Hinter TT sitzt die gesamte PfG-Parteiführung, hinter van Dyke das ganze Kabinett. Ganz so, wie in den dramatischen Koalitionsverhandlungen vereinbart. »Erscheinen oder sterben … politisch«, lautete angeblich die Losung, die der Kanzler gegenüber seinen Ministerinnen und Ministern für diesen Tag ausgegeben hat, und es gibt Gerüchte, das letzte Wort habe man erst nachträglich hinzugedichtet. Dann bemerkt Erica, dass sich eine blonde Frau zielstrebig zu dem Platz durchkämpft, der links von ihr noch unbesetzt ist. Die Kollegin setzt sich und nickt ihr freundlich zu. Na also.

Erica ist aufgeregt und angespannt, aber auf eine gute Weise. Das ganze Land, der ganze Kontinent diskutiert über diesen Prozess, und sie darf als akkreditierte Journalistin live dabei sein, hat sozusagen Zutritt zum Auge des Orkans. Sie blickt auf die noch leere Richterbank, die äußerst hoch und wuchtig geraten ist. Klassische Überkompensation, denkt sie. Bei den Bänken der Staatsanwaltschaft ist auch noch niemand. Sie befinden sich direkt vor ihrer Pressetribüne, nur eine Etage tiefer. Leider wird Erica dadurch nie in das Gesicht der gefeierten »Staatsanwältin«

sehen können, immer nur auf ihren Rücken.

Auf der anderen Seite der Bühne sind die Reihen der Verteidigung dagegen bereits gut gefüllt. Die bestimmt ausnahmslos PfG-nahen Jura-Studenten, die man als Pflichtverteidiger ausgewählt hat, sind bereits fast vollständig erschienen. Erica zählt hinter der Absperrung 27 Milchgesichter in Anzügen bzw. in Businesskostümen. Fehlen nur noch drei. Zwei Protokollanten in der Nähe der Richterbank sind auch schon da.

Ein hüfthohes, dünnes Geländer trennt den Gerichtsbereich von den zahlreichen Zuschauerplätzen im Parkett ab. Von ihrer Position aus kann Erica nur einen kleinen Teil davon sehen, da die Ehrentribüne des Oberrangs die Sicht auf die schlechteren Plätze unten verdeckt.

Sie klappt ihren alten Laptop auf, gleich geht es los.

Gespannte Stimmung im Al-Gore-Saal kurz vor Prozesseröffnung.

Sofort löscht sie den Satz wieder. Während sie noch nach einer weniger abgedroschenen Formulierung sucht, kommt unten Bewegung auf, die Zuschauer tuscheln aufgeregt. Ah ja, die Assistenten der »Staatsanwältin« gehen zu ihren Plätzen. Dann kann es ja auch nicht mehr lange dauern, bis …

Tatsächlich brandet großer Applaus im Saal auf, als plötzlich Gloria Perec, die berühmte Staranwältin, in einer Seitentür erscheint und die Bühne betritt. Eine Person ruft laut »Buh!«, wird aber schnell zum Schweigen gebracht.

Perec reagiert weder hierauf noch auf den Applaus, sondern marschiert zielstrebig zu ihrem Platz.

Eine Stimmung wie im Stadion, als die Hauptprotagonist*innen einlaufen.

Erica liest den Satz einmal durch und löscht dann auch diesen gleich wieder.

Staranwältin Gloria Perec betritt den Saal und das Publikum begrüßt die erste Geige mit wohlwollendem Applaus.

Ach verdammt, irgendwas wird ihr zu Hause schon noch einfallen.

Dann öffnet sich die Tür ganz am Ende des abgesperrten Bereichs und der ganze Saal erhebt sich. Der Kollege rechts schnaubt vor Verachtung laut hinter seinem OCD auf, als die acht Richter in gewaltigen Roben den Saal betreten und gemessenen Schrittes auf ihr Podium steigen. Sie bleiben eine Weile hinter ihren Stühlen stehen, dann setzt sich einer der Richter und die anderen folgen seinem Beispiel. Auch die Zuschauer nehmen wieder Platz.

Danach wird es sehr still, eine gewisse Feierlichkeit liegt über der gesamten Szenerie. Erica blickt nach links in die Gesichter von TT und van Dyke, sieht dort jedoch nur makellose Masken, konzentriert und absolut undurchdringlich. Das ganze Kabinett um den Kanzler hat diesen Gesichtsausdruck angenommen. Einige PfG-ler neben und hinter TT schauen dagegen ehrlich ergriffen drein, manche betupfen ihr Gesicht mit Taschentüchern. Erica sieht aus den Augenwinkeln, dass auch die blonde Journalistin links von ihr sichtlich mit den Tränen kämpft.

Der Richter in der Mitte, der die Gesamtleitung innehat, wartet, bis die Stille vollkommen ist, und klopft dann zweimal testend gegen sein Mikrofon. Bumm, bumm. Geht. Wie hieß er doch gleich?

»Hiermit eröffne ich das Strafverfahren gegen dreißig exemplarisch Angeklagte, die in den Jahren 2000 bis 2030 in einflussreichen Positionen waren, sowie gegen die gesamte Gesellschaft dieser Jahre, für die die Angeklagten stellvertretend stehen. Laut Anklageschrift haben sämtliche Angeklagten ihre politische oder gesellschaftliche Macht genutzt, um in der Bundesrepublik Deutschland einen aktiven und wirklich substanziellen Umweltschutz in diesen noch relativ frühen Jahren zu verhindern. Sie stehen daher, laut Anklage, stellvertretend für eine ganze Generation, die ihren eigenen dekadenten Lebensstil über die berechtigten Interessen zukünftiger Generationen gestellt hat. Die Anklage lautet erstens: vorsätzlich unterlassener Umweltschutz, zweitens: grob sittenwidrige intergenerationale Lastenumwälzung und somit drittens: Verbrechen gegen die Flora, gegen die Fauna, gegen die Menschheit. Die ganze Gesellschaft dieser Jahre ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausdrücklich in die Anklage eingeschlossen.«

Der Vorsitzende Richter liest das erkennbar Satz für Satz von einem Notizblatt ab. Erica hat inzwischen seinen Namen auf der Webpage zum Prozess gefunden. Er heißt Bernhard Kriebl, ist 53 Jahre alt und eigentlich Richter am Amtsgericht Idar-Oberstein.

»Ich stelle nun zunächst die Anwesenheit der Angeklagten fest. Albrecht, Dietmar, Wirtschaftsminister in den Jahren 2024 bis 2028 und anschließend Cheflobbyist der deutschen Energiekonzerne?«

»Abwesend, wird vertreten durch die Pflichtverteidigung.«

Einer der Jura-Studenten auf der Anklagebank hat seine Stimme erhoben.

»Claudius, Johanna, im Jahr 2023 Mitbegründerin des Vereins zum Erhalt systemrelevanter Intensivindustrie, kurz V.E.s.I., und von 2023 bis 2027 Vorsitzende des V.E.s.I.?«

»Abwesend, wird vertreten durch die Pflichtverteidigung.«

Jetzt eine Jura-Studentin.

»Deindl, Anton, in den Jahren 2022 bis 2029 Präsident des Schutzbundes der konventionellen Landwirtschaft?«

»Abwesend, wird von der Pflichtverteidigung vertreten.«

Erica seufzt innerlich auf. Das kann noch eine Weile dauern. Auch als Theater muss ein Gerichtsprozess wohl fürchterlich bürokratisch sein. Oder vielleicht sogar gerade dann?

»Eilers, Jochen, früherer Rennfahrer und von 2024 bis zum Verbot der Organisation im Jahr 2032 Geschäftsführer der damals international bekannten Rennserie Formel 1?«

»Abw…«

»Anwesend!«

Was war denn das? Nach einer Schrecksekunde geht ein aufgeregtes Raunen durch den Saal. Einige Journalisten auf der Pressetribüne sind aufgesprungen, um besser sehen zu können, die Kameras suchen den Publikumsbereich im Parkett ab. Im vorderen linken Drittel nimmt ein älterer Mann mit dunkler Brille seine Baseballcap ab und bringt üppige graue Locken zum Vorschein. Er spaziert lässig durch die Schwingtürchen in der Mitte der Absperrung, scheucht mit einer kleinen Handbewegung einen der außen sitzenden Studenten von der Anklagebank, setzt sich auf den frei gewordenen Platz und verstaut die Brille in der Innentasche seines sportlich-legeren Sakkos. Kein Zweifel, es ist tatsächlich dieser Jochen Eilers, Erica kennt sein Gesicht aus dem Newsfeed.

»Pardon«, sagt er in das Mikro vor seinem Platz, »ich muss mich anfangs im Platz geirrt haben.«

Niemand im Saal lacht.

Kriebl blickt einen Moment unsicher zu seinen Kollegen und Erica kann förmlich hören, wie die Rädchen in seinem Gehirn rattern.

»Und Sie, äh …«, sagt Kriebl ins Mikrofon, »Sie wollen aussagen? Also, ähem, ich meine, hier vor Gericht?«

»Selbstverständlich!« Eilers sitzt aufrecht, betont aufmerksam, und signalisiert: Ganz zu Diensten. »Ich gehe immerhin auf die 70 zu, da ist es doch an der Zeit, mal ein kleines Fazit zu ziehen. Sich ein wenig zu hinterfragen. Und wann bekomme ich denn noch mal die Gelegenheit, dass mir eine international so renommierte Anwältin die Leviten liest?« Eilers deutet eine kleine Verbeugung in Richtung Perec an, die jedoch, soweit Erica das erkennen kann, überhaupt keine Regung zeigt. »Das soll natürlich nicht bedeuten, dass ich diese, mit Verlaub, diese populistische Scheißaktion in irgendeiner Weise gutheißen, geschweige denn anerkennen will.«

Er lächelt, als könne er kein Wässerchen trüben. Ein Zuschauer johlt vor Vergnügen und beginnt heftig zu klatschen. Das reißt Kriebl aus seiner Erstarrung und er klopft dreimal hart mit dem Hammer auf sein Richterpult: »Einen solchen Ton werde ich hier nicht dulden! Ich verhänge daher ein Ordnungsgeld gegen den Angeklagten Eilers in Höhe von …«, er überlegt kurz, der ganze Saal hält den Atem an und Kriebl geht doch noch ein Licht auf, »… ich verhänge symbolisch Ordnungsgeld!«

Eilers lacht auf und lehnt sich in seinen Stuhl zurück, während sich ein unruhiges Murren der Zuschauer breit macht. Erica blickt in Eilers’ faltiges Gesicht, auf dem sich jetzt ein zufriedenes, verschmitztes Grinsen zeigt. Sein Auftritt scheint sich schon gelohnt zu haben.


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