Читать книгу Glashauseffekt - Alexander Sperling - Страница 9

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Wenn man Dingo und seine Jungs auf der weitläufigen Parkanlage des Forum Francorum sucht, dann geht man am besten einfach der Nase nach. Erica ist nicht wie sonst mit der U-Bahn direkt zum Forum gefahren, sondern mit der Straßenbahn zur Haltestelle Gibitzenhof. So kann sie gleich den mehrstöckigen und verwinkelten Gebäudekomplex im Zentrum der Anlage links liegen lassen und in den hinteren Teil des Parks gehen. Der unverkennbare Geruch feinster Cannabinoide weist Erica wie immer den Weg und beruhigt sie auf geradezu magische Weise noch vor dem ersten eigenen Zug.

Fast schon idyllisch sieht es aus, wie die Jungs an diesem herrlichen Frühlingssommertag auf der Wiese im Kreis sitzen und süßlichen Rauch aufsteigen lassen. Im Hintergrund blühen die Obstbäume. Man hört Vögel zwitschern, obwohl keine da sind. Der ganze faule Zauber macht Erica heute nichts aus: die Urlaubsstimmung, die die Gruppe umgibt, der Sommertag im März, das wilde Gemisch aus Palmen und Nadelbäumen. In dieser durch und durch verwirrten Natur spielt man heile Welt, doch man spielt es gut und Erica spielt mit. Die letzten Tage im Gericht haben sie aufgewühlt, den ganzen Vormittag hat sie Unterlagen gesichtet, aber heute ist auch für sie Prozesspause. Oder Vorstellungspause?

Sie begrüßt die Jungs und legt sich neben Dingo. Er gibt ihr einen langen Kuss und drückt sie fest an sich, obwohl sie sich erst vor ein paar Stunden noch zu Hause gesehen haben. Erica fährt mit den Händen durch seine schönen, schwarzen, krausen, warmen Haare. Wie war diese Wendung: Die Seele baumelt?

Sie wacht mit dem merkwürdigen Gefühl auf, beobachtet zu werden. Ihr ohnehin recht kurzes Sommerkleid ist ein bisschen zu hoch gerutscht. Offenbar im Glauben, unauffällig zu sein, linst Spex heimlich an ihren Beinen aufwärts. Unter dem Vorwand, die Liegeposition zu verändern, schiebt Erica schnell das Kleid zurecht und der Augenblick ist verflogen. Niemand sonst hat etwas bemerkt. Dingo ist mit Faris und Ben in ein Gespräch verwickelt, Mika durchsucht seine Jacke nach Gras. Spex guckt jetzt betont sinnend in die Ferne. Dingos Stimme wird etwas lauter: »Mir fällt echt nichts mehr dazu ein, wirklich, ich weiß nicht, was man dazu noch sagen kann.«

Erica macht die Augen zu und versucht noch einmal zu dösen. Ihrer Erfahrung nach sagen Leute immer ganz besonders viel, nachdem sie gesagt haben, dass ihnen nichts mehr zu sagen einfällt. Dingo ist schon wieder beim Prozess. Seit er es bei der Auftaktdemo mit der Polizei zu tun bekommen hat, fühlt er sich offenbar persönlich betroffen. Sie streicht ihm über den Rücken.

»Dass es keinen Generalstreik gegen die Van-Dyke-Regierung gibt. Ich fasse es nicht. Die Leute sehen zu, wie er bei diesem Wahnsinn zusieht. Wieso macht denn niemand was?!«

Erica kann an Dingos Stimme hören, dass er sich ernsthaft aufregt. Ben stimmt ihm zu, Faris sondert akademischen Mist ab, Herrschaftsverhältnis- und Diskursmachtsblabla. Erica denkt, die Jungs könnten ja mit dem Generalstreik anfangen und nächsten Monat ihr Grundeinkommen ablehnen. Nieder mit der Unterdrückung! Was ist eigentlich aus Mikas Suche nach dem Grasnachschub geworden?

Und dann träumt Erica von TT und van Dyke, wie sie verhandeln bis spät in die Nacht, wie TT immer wieder droht, notfalls Marina Lilienthal zur Kanzlerschaft zu verhelfen, wie van Dyke schließlich einknickt und sogar Nürnberg als Prozessort genehmigt. Wie TT mit Siegerlachen immer wieder an Ericas Beinen hochschaut. Und wie van Dyke reglos dasitzt, während TT immer widerlicher unter ihr Kleid schielt, und dann hat Erica plötzlich keinen Schädelknochen mehr, und alle jubeln deswegen, und beides zusammen lässt sie hochschrecken.

Die Jungs freuen sich, weil der kleine städtische Gastro-Roboter über die Wiese auf sie zurollt. Aus seinem gekühlten Inneren beziehen sie Red Bull, Nic Nac’s und Süßigkeiten. Nostalgie-Menü für echte Anarchisten, denkt Erica. Für den nächsten Teil der Bestellung muss sie dann ihren Ausweis einlesen, da die Jungs ihr monatliches Limit bereits

erreicht haben. Geordert werden gleich die vollen 15 Gramm und mehrere Flaschen Bier. Wie immer in diesem Moment behauptet Dingo, nur durch seinen Cannabis-Konsum weite Teile des Forum Francorum mitfinanziert zu haben.

Alle setzen sich wieder und hängen den eigenen Gedanken nach, während der fahrende Bauchladen geflissentlich seine obligatorischen Belehrungen zum verantwortungsvollen Umgang mit den erworbenen Konsumgütern dreisprachig vorpredigt. Als beim Wechsel von Englisch zu Arabisch schließlich auch Spex den Blick abwendet, um einen Flaschenöffner zu suchen, hält der Roboter in seinem Vortrag indigniert inne und fährt mit seinen Rollen sanft in Dingos Rücken, immer vor und zurück. Dingo gibt Spex mit dem Fuß einen kleinen Stoß, dieser blickt wieder auf. Der Gastrorob beendet seine Rede und schiebt dann endlich zufrieden blinkend und piepsend ab.

Mischkonsum ist nie eine besonders gute Idee, aber in der prallen Märzsonne ist es sogar eine besonders schlechte. Niemand hat genug Energie, um Erica darauf hinzuweisen, dass ihre schneeweiße Haut den Tag nicht schutzlos wird überstehen können.

»Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum das Faschistenpack von der PfG nicht gleich mit den Abschotter-

Faschisten gemeinsame Sache gemacht hat. Wozu überhaupt noch auf den alten van Dyke zurückgreifen?«

Auch Dingo ist jetzt merklich angeschlagen, er spricht schleppend. Faris und Mika dösen bereits, nur Ben und Erica hören noch zu. Spex hat zwar die Augen noch leicht geöffnet, ist aber erkennbar nicht mehr im Aufnahmemodus.

Schließlich mischt sich Erica doch ein: »Ich kann gerade TT eigentlich ganz gut verstehen. Und letztlich ist doch wirklich was dran am Anliegen der PfG, nicht?«

Sie sagt dies zwar mit ausgesuchter Unschuldsmiene, will aber vor allem Dingo ein wenig in seiner Selbstgefälligkeit provozieren. Er sieht sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an und nimmt einen weiteren tiefen Zug, ehe er an Ben weitergibt. Erica lässt nicht locker: »Die Reporterin im Prozess neben mir hat vor Rührung geweint. Und denk nur mal an TTs Tochter!«

Dingo raunzt sie empört an. »Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, hoffe ich! Diese Horror-Mutation bei seiner Tochter hin oder her …« Er holt aus zu einem längeren Monolog, doch noch ehe er richtig anfangen kann, unterbricht ihn Erica.

»TTs Büro hat mir übrigens ein Exklusivinterview mit ihm versprochen.«

Jetzt ist Dingo in seinem großen Vortrag nicht mehr zu bremsen. Eine ganze Generation verurteilen zu wollen, und noch dazu in Nürnberg. In Nürnberg! Ob das nicht auch ein Verbrechen sei? Dazu die ziemlich willkürliche Auswahl von dreißig Obersündenböcken. Und das alles in ihrem Namen, für die junge Generation. Pfui Teufel! Er spuckt aus. Erica hat einfach keine Energie mehr für eine Entgegnung, Ben schließt die Augen und schläft friedlich ein.

Irgendwann hört Erica hinter ihrem Nebelschleier, wie Dingo wiederholt sagt: »Man müsste was unternehmen!«

»Hm?«, gibt Erica mühsam von sich.

»Irgendwas Großes.«

»Wie? Was? Ich meine: Hä?«

»Na was ganz Großes eben!«

Dingo deutet mit ausgestreckten Armen einen sehr weiten Halbkreis an. Erica sieht zu ihm. Eine Sekunde vergeht, eine zweite, eine dritte. Eine vierte?

»Sorry … worum geht’s gleich wieder?«

Dingo lässt erschöpft und enttäuscht die Arme sinken: »Ich weiß es nicht mehr.«

Er schließt als Letzter die Augen.

Ein undeutliches, dumpfes Rumpeln. Ericas Augen öffnen sich zu kleinen Schlitzen. Ungefähr fünfzig Meter von ihrem Lager entfernt beginnt ein Arbeiter der Stadt Nürnberg mit der diesjährigen Bestäubung der Obstbäume. Nachdem der dafür nötige, schwere Pollinator eigenständig an den ersten Baum herangerollt ist, fahren acht lange, metallische Tentakeln heraus, suchen in Windeseile je eine Blüte, stechen mit dem Fühler punktgenau hinein, und sofort geht es weiter zur nächsten Blüte. Nach intensiver Betakelung der Vorderseite ziehen sich die Arme in den Kasten zurück, er rollt zur Rückseite des Baumes, und der Vorgang beginnt von vorne. Taktaktaktaktak mal acht. Der Stadtangestellte sitzt in einem Klappstuhl im Schatten, überwacht den Vorgang und zieht gemächlich an seiner E-Zigarette.

Ein schönes Bild.


Glashauseffekt

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