Читать книгу Verwischt - Alexander von Plato - Страница 29

Jochen Eckebrecht (Antwortbrief von 2008 auf die Anfrage der Journalistin Barbara Köhler über die Geschichte von Marie Lente und Paul Z. von 1988/89)

Оглавление

Ich antworte Ihnen gerne, aber nicht auf Ihre Fragen. Sie hatten mir geschrieben, weil Sie von mir als einem früheren Freund von Marie eine besondere Sicht auf die Beziehung zwischen Marie und Paul Z. erwarten. Ich habe allerdings selbst schon vor einem Jahr meine eigene, eher literarische Fassung dieser Geschichte aufgeschrieben, die ich ja vor allem als eine ungewöhnliche Liebesgeschichte verstehe, die erst im Nachhinein politisch bedeutsam und öffentlich gemacht wurde.

Hier ist zumindest der Beginn meines Textes, der beschreibt, wie wir uns 1984 (!) kennenlernten, also Marie und ich. Bedenken Sie die Zeit und entschuldigen Sie meinen frech-offenen Ton.

Eigentlich ging ich nur noch selten ins Theater. Schon gar nicht in „Die Räuber“, die mich mit 17 Jahren das letzte Mal vom Hocker gerissen hatten. Aber, Schiller sei Dank, in der Pause drängelte ich mich an die Sektbar und traf dabei zum ersten Mal auf Marie, mit ihrem marzipanrosanen Teint, bedeckt mit einem schwarzen Jackenkleid für den feierlichen Schiller-Gang. Obere-Zehntausend-Tochter mit drahtig rotem Krusselhaar, dachte ich vollkommen daneben.

Ihre Marzipantöne verdunkelten sich, als sie meine Begeisterung über den rotzig-schwulen Ton der Inszenierung vernahm, den die Räuber durch die Kadetten in Frauenkleidung erhielten. Und ich war blödsinnig genug, auch noch eine Bemerkung über ihre Namenscousine als Transvestit zu machen. „Stellen Sie sich einmal ein Publikum vor hundert Jahren vor, im Abendkleid und Frack vor einer Bühne, auf der eine erhaben-reine Marie mit Männerstimme ‚Scheiße‘ schreit und anderen Kadetten in die Eier tritt.“

Sie schwieg erbittert. Ich kann das auch nicht leiden, sagte ihr Blick.

Ihre Laune änderte sich auch nicht, als wir uns nach der Pause auf zwei freie Plätze in der fünften Reihe setzten, aber immerhin, sie diskutierte mit mir über andere Peymann-Inszenierungen. Nach dem Stück stritt sie weiter, so intensiv, dass sie mich ins Hotel begleitete und einen Rotwein auf das Zimmer haben wollte. Ich weiß nicht, ob ihr Ärger ihren Wagemut beflügelte. Nein, das trifft es nicht. Ihr Genuss war mir ein Rätsel, er schien aus großer Tiefe, mühselig schmerzhaft emporzutauchen, als ob sie Liebe empfände. Das war rätselhaft, beeindruckend, kaum verstehbar, meiner Lust eine geradezu unangemessene Würde verleihend. Vielleicht können dies nur ihre späteren Liebhaber begreifen, wenn sie Ähnliches erlebt haben sollten. Und ich glaube, dass es Paul Z. so erging. Ihn vielleicht noch mehr erschütternd, weil er dem Tod näher war und um so vieles älter als sie.

So leicht begann es. Aber die Würmer krochen schon. Ich hatte mich wieder einmal vertan. Marie kam nicht aus besserem Hause, sondern war die Tochter eines rumäniendeutschen Einwanderer-Paares – er Bauarbeiter, sie Verkäuferin, er Säufer, sie um Wohlanständigkeit bemüht, er haute ab, sie schloss ihn aus. Marie litt bis heute, wenn sie nach Hause kam. Sie hatte jeglichen Kontakt mit dem prügelnden Papa abgebrochen.

Was meinst du, was ich für Klimmzüge machen musste, um dieses Milieu verlassen zu können, sagte sie. Mit ziemlichem Erfolg, antwortete ich. Immerhin bist du schon Professorin.

So weit so gut. Wer wusste damals schon, wie Deutschland sich entwickeln würde.

Irgendwann war es vorbei. Marie zog nach Berlin, um ihre Forschungen in der DDR zu beginnen. Ich sah sie erst nach anderthalb Jahren wieder. Und da war alles ganz anders.

Aber so begann es. Oder besser: So war sie damals noch.

Verwischt

Подняться наверх