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Kapitel 6 - Samantha

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Mit einem lauten Knall fällt Pauls Bürotür ins Schloss. Er blickt von seinen Bildschirmen auf und da steht sie. Eine junge Frau, die ihm beinahe den Atem raubt. Es dauert einen Augenblick, bis er wieder Luft holen kann und da bemerkt er ihre tiefblauen Augen und die schönen dunkelbraunen langen Haare. Die langen Wimpern geben ihrem Blick etwas Sinnliches.

„Ja bitte, Sie wünschen?“

„Entschuldigung, ich wollte die Tür nicht zuknallen, sie ist mir aus der Hand gerutscht. Tut mir leid. Mein Name ist Samantha, Charles York schickt mich. Du sollst mich hier in der Abteilung einschulen – ich darf doch du sagen? Ich komme vom Willkommenskomitee, aber ich bin versetzt worden.“

„Willkommenskomitee? Was soll denn das sein?“

„Na ja, ich sage immer Willkommenskomitee, alles andere ist ja viel zu negativ, aber bitte, dann die offizielle Bezeichnung: Todesenge. Aber das ist finde ich einfach nur schrecklich, denn das hört sich ja so an, als ob ich selbst die Entscheidung über Tod und Leben hätte. Welch fürchterliche Vorstellung! Dabei haben wir nur die einzelnen Aufträge zugeteilt bekommen und dann die Seelen herauf in den Himmel begleitet. Wie dem auch sei, jetzt bin ich hier, Gott sei Dank!

Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, gerade in diese Abteilung versetzt worden zu sein. Das Seelen-Abholen war mir ja von Anfang an viel zu traurig und deprimierend, das hat mich immer schrecklich traurig gemacht, obwohl ich wirklich versucht habe, das Positive hervor zu kehren. Schließlich sollte man nicht unbedingt deprimiert sein, wenn die Kunden Angst haben. Hm, ich freue mich wirklich, dir helfen zu dürfen!“

„Da muss ein Missverständnis vorliegen, ich arbeite schon seit Jahren alleine. Vermutlich solltest du zu Andrea gehen, die ist für die Neulinge zuständig, bei ihr wirst du eingeschult.“

„Nein, ich bin mir ganz sicher, dass ich bei dir richtig bin – von Charles York habe ich einen Zettel mit deinem Namen bekommen. Du bist doch Paul, oder?“

„Zeig mal her, das kann gar nicht sein, seit Jahren habe ich keinen Anfänger mehr angelernt. Für so etwas habe ich doch gar keine Zeit, schon gar nicht jetzt bei diesem aufwendigen Fall!“

Paul greift nach dem Zettel, den ihm Samantha hinhält. Tatsächlich, schwarz auf weiß steht da sein Name – und was ihn verwundert – handschriftlich von Charles York. Anordnung vom obersten Boss.

Was soll ich bloß davon halten? Normalerweise werden die Lehrlinge direkt von der zentralen Personalverwaltung zu Andrea geschickt. Warum war Samantha bei Charles York? Warum soll ausgerechnet ich sie einschulen?

Anweisung ist Anweisung und Entscheidungen von Charles York anzuzweifeln, steht niemandem zu, auch nicht Paul. Er bemüht sich also um Gelassenheit und bittet Samantha, sich neben ihn zu setzen.

„Na gut, dann fangen wir mal an. Wie du sicher schon weißt, werden in unserer Abteilung die zwei Seelen, die füreinander bestimmt sind, zusammengeführt.“

„Oh ja, ich weiß, ich weiß, hier verliebt sich jeder in jeden – wie romantisch! Wann geht’s los?“

„Langsam, langsam. Hier wird nichts überstürzt, alles muss sorgfältig vorbereitet und geplant werden. Wir dürfen uns keine Fehler erlauben, das könnte fatale Folgen haben. Und so nebenbei gesagt, hier verliebt sich nicht jeder in jeden, sondern nur die zwei, die ein ganzes Leben miteinander verbringen sollen, streng nach Auftrag.“

„Können wir jetzt bitte bitte anfangen? Ich will alles lernen, a-alles, sofort!“

Auch das noch, so eine übereifrige, überromantische Anfängerin, die am liebsten alles in zwei Tagen lernen möchte. Das kann ja heiter werden!

„Also, hier auf den Monitoren siehst du unsere Schützlinge des aktuellen Falles. Das sind Sophie und Max, die gerade, wie du sehen kannst, etwas zeitversetzt, auf dem Weg zum Supermarkt sind.

Unsere Haupttätigkeit ist das Planen und Organisieren von Begegnungen - an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten. Die erste Begegnung kann zum Beispiel ein Aneinandervorbeilaufen sein, ohne dass sich die beiden überhaupt bemerken. Das Unterbewusstsein aber ist so feinfühlig, dass es im Herzen ein winzig kleines Signal auslöst, ähnlich einer roten Lampe, die zu Blinken beginnt. Das ist für die Menschen nicht beim ersten Mal spürbar, aber das Signal wird bei jeder Begegnung immer stärker und intensiver. In weiterer Folge verursacht es sogar körperliche Empfindungen, wie zum Beispiel ein Kribbeln oder die berühmten Schmetterlinge im Bauch.“

„Aber was ist, wenn das Lämpchen aus Versehen bei einer anderen Person zu blinken beginnt?“

„Nein, ausgeschlossen, wenn das Lämpchen zum ersten Mal blinkt, aktiviert es automatisch einen Code, den nur das passende Gegenüber trägt. Diesen Code gibt es auf der ganzen Welt dann nur zwei Mal. Verwechslung ausgeschlossen!“

„Sieh mal, die beiden sind schon im Supermarkt. Wir müssen etwas unternehmen, schnell, Max ist schon auf dem Weg zur Kasse! Wozu sind denn die vielen Knöpfe, wenn ich einen davon drücke, bleibt er dann stehen? Darf ich?“

„Nein, du darfst keinen der Knöpfe drücken, bevor du nicht weißt, wie sie verwendet werden. Bleib ruhig und lerne!“

Paul schreibt in das Eingabefeld seines Computers „Kondomschublade zu Hause leer“ und drückt auf die Entertaste. Sogleich dreht sich Max um und drängt die Menschenschlange, die sich vor der Kassa gebildet hat zurück und geht in Richtung Hygieneartikel-Regal.

„Sag bloß, du warst das jetzt und er geht wirklich Kondome holen?“

„Cool, was? Nach einigen Monaten Ausbildung wird dir das auch gelingen, es ist nämlich gar nicht so einfach. Nicht alle Menschen reagieren auf Gedankenblitze.“

„Sieh doch nur auf den Bildschirm. Die beiden stehen im gleichen Gang, aber sie sehen sich nicht. Wie kann das sein? Du hast doch gesagt, das rote Lämpchen im Herzen blinkt nun bei den beiden. Wieso dreht er sich dann nicht um? Wir müssen uns beeilen, gleich hat er die Kondome gefunden und geht wieder weg. Schnell, darf ich ihm den Gedanken schicken, dass er sich umdrehen soll? Bitte, bitte, bitte, darf ich es diesmal schreiben?“

„Nein. Regel Nummer eins: nichts anfassen! Die beiden sind ein ziemlich schwieriger Fall, der schwierigste, den ich bis jetzt überhaupt hatte. Sophie wurde in der Vergangenheit von einem anderen Mann sehr verletzt, daher lässt sie keine Gefühle mehr an sich heran und bemerkt auch nicht das Gefühl in ihrem Innersten. Die Gefühlswahrnehmung ist komplett gestört. Daher müssen wir mehr Geduld haben. Nun sieh zu und lerne!“

Paul benutzt einen Hebel, ähnlich einem Joystick, der sich zwischen den vielen Knöpfen befindet und wandert damit am Bildschirm umher. Erst kann Samantha nicht erkennen, was er macht, dann fällt eine Flasche Haarshampoo aus dem Regal.

„Wie ist denn das passiert? Keiner der beiden hat das Shampoo berührt! Sag bloß, das warst schon wieder du?“

„Ja klar, das lernst du auch einmal. Es ist nicht so schwierig, Dinge zu bewegen.“

Paul ist zufrieden und lehnt sich in seinen großen weißen Ledersessel zurück.

„Verflixt! Eine Erziehung haben die jungen Männer heutzutage. Na egal, dann helfe ich ein bisschen nach!“

Mithilfe des Joysticks packt er Max bei den Schultern. Sanft drückt er den Hebel zuerst nach vorne, dann dreht er ihn und zieht vorsichtig nach unten. Max kann die Berührung nicht spüren, aber ohne es zu wollen, bückt er sich und hebt die Flasche auf. Er gibt sie Sophie, weil er glaubt, sie hätte sie fallen gelassen.

Paul blockiert schnell Sophies Worte, weil er merkt, dass sie das Haarshampoo nicht annehmen will und schreibt in Sophies Monitor ein einfaches „Dankeschön“. Paul ist für den Moment zufrieden. Ein weiteres Treffen in Jimmys Bar hat er für heute sowieso noch geplant.

Während Sophie und Max in ihre Wohnungen gehen und sich für den Abend zurecht machen, haben Paul und Samantha Pause. Sie beobachten die beiden eine Zeitlang gar nicht, und später werfen sie alle paar Minuten einen Blick auf die Monitore, um ihren Einsatz in Jimmys Bar nicht zu verpassen.

„Ja was wird denn das? Das ist ja die Höhe, jetzt baggert der doch tatsächlich eine andere Frau an, obwohl sich die Liebe seines Lebens im selben Raum befindet! Unglaublich! Das ist doch einfach unerhört! Wir müssen etwas unternehmen! Schnell drück einen deiner Knöpfe, damit er zur Vernunft kommt! Lass es regnen oder von mir aus einen Blitz bei ihm einschlagen!“

Samantha gefällt die Vorstellung, dass Max vom Blitz getroffen werden könnte.

„So ein paar winzig kleine Schmerzen haben noch keinem Mann geschadet, außerdem kann Sophie ihn dann trösten und die beiden verlieben sich. Verlobung nach Blitzschlag – sehr gute Idee!“

Samanthas Augen leuchten voll Tatendrang.

„Also, das Wetter ist von uns generell nicht veränderbar. Manchmal, wenn es unserer Aufgabe hilft, dürfen wir es regnen lassen, mehr geht aber nicht. In unserem Fall geht nicht mal das – Regen in einem geschlossenen Raum? Nein, tut mir leid. Du musst lernen, etwas ruhiger an die Aufgaben heranzugehen. Wer hektisch ist, macht Fehler – und Fehler werden nicht geduldet. Wir würden schreckliche Probleme bekommen!“

„Können wir nicht irgendetwas tun?“

„Natürlich, ich habe beide in diese Bar geführt und nun werden wir auch versuchen, dass sie sich ineinander verlieben. Dazu müssen wir eine Situation schaffen, in der sie sich gegenüberstehen und so lange wie möglich ansehen. Wie du siehst, werden Lena und Peter gleich streiten, das sind Sophies Freunde. Jetzt können wir in Aktion treten - „Mineralwasser an der Theke“ schicken wir Sophie als Blitzgedanken.

Der zweite Schritt besteht darin, Claudia für ein paar Minuten aus der Bar zu locken, also lassen wir die beste Freundin bei ihr anrufen. Leider hat diese gerade Liebeskummer, dafür sind wir zwar nicht verantwortlich, aber wir nutzen diesen Zustand.“

Kaum hat Paul den Satz beendet, klingelt auch schon Claudias Handy und – weil es in der Bar so laut ist, telefoniert sie draußen im Freien.

„Das klappt ja wie am Schnürchen, das ist einfach toll!“

Paul kann nicht antworten, weil er Sophie und Max ganz konzentriert beobachtet. Beide schweifen mit ihren Blicken in der Bar umher, bis dann mit einem Mal Max` Blick bei Sophie hängen bleibt – und wenig später ihr Blick auch bei ihm. Zuerst nur kurz, doch dann können beide den Blick nicht mehr voneinander abwenden. Es scheint tatsächlich zu funktionieren.

„Sieh dir das an, das ist der schönste Moment bei unserer Arbeit. Die Herzen der beiden haben entdeckt, dass sie zu einander gehören. Das rote Lämpchen rotiert und hört nicht mehr auf, sich zu drehen. Es ist, als würde eine Parade von Tausenden winzigen kleinen roten Wesen über ihre Herzen laufen, mit roten kleinen Fähnchen in der Hand, jubelnd und mit voller Begeisterung. Der Verstand ist bei beiden momentan ausgeschaltet, darum ist der Blick so intensiv und überaus gefühlvoll.“

Samantha muss lächeln - aus zwei Gründen: einerseits freut sie sich für Max und Sophie, andererseits hat sie sehr wohl bemerkt, dass Paul eine romantische Seite hat, die ihm wohl peinlich ist, denn er ist auch schon wieder ernst. Er lehnt sich in seinen weißen Ledersessel und lässt die beiden nicht aus den Augen.

„Ich freu mich so für die beiden, nun hat es endlich doch geklappt. Heißt das also Feierabend für heute? Trinkst du mit mir in der Kantine noch einen Kaffee? Wir werden in der nächsten Zeit viel zusammen sein, da dachte ich, wir sollten uns wohl ein bisschen besser kennen lernen. Was hältst du davon?“

Sam ist traurig, als von Paul keinerlei Reaktion kommt. Nicht einmal eine Absage.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Du meine Güte! Claudia kommt wieder zurück in die Bar! Um Gottes Willen, schnell der Knopf mit dem Nebel, bevor alles zu spät ist!“

Samantha drückt blitzschnell den Nebel-Knopf und vollführt einen Freudentanz.

„Juhu, es hat doch noch geklappt! Hey, warum freust du dich nicht? Ja, ich weiß, ich hätte dich fragen müssen, aber das hätte zu lange gedauert. Sei nicht böse auf mich, es hat doch funktioniert!“

Als immer noch keine Reaktion von Paul kommt, folgt sie seinem starren Blick zu den Monitoren und fällt dann vor Entsetzen zurück in ihren Sessel.

„Um Himmels willen, was habe ich bloß getan?“

Der Mensch denkt - Paul lenkt

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